Alexander von Humboldt hat den Begriff „Naturgenuss“ erfunden. Die Natur bewusst erleben, genau hinschauen! Was wäre besser geeignet, Natur wahrzunehmen, sich selbst intensiv kennenzulernen, als bei 600 Kilometer Radfahren durch die Landschaften Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns.
Nach 12 Kilometern passieren wir in Tegel bezeichnenderweise den Geburtsort des Naturforschers.

An die Grenzen unserer Möglichkeiten werden wir bei diesem langen Brevet gehen. Manche werden fast 40 Stunden unterwegs sein – mit wenig Schlaf und reichlich Bewegung!


Doch zurück zum Start: 60 Randonneure beim 600er Brevet sind eine Rekordbeteiligung in Berlin. Wir starten wieder in zwei Gruppen – Klaus und Hans, die beiden Urgesteine der Szene sind auch dabei!

Ein frischer Wind wird uns auf dem Weg an die Ostsee – zum Darß, ins Gesicht blasen. Ingo, unser Organisator, meint, wir sollten in der Gruppe bleiben und uns im Wind vorn ablösen. Das spart Kraft! So fies wie befürchtet pustet es doch nicht, und so zerfällt das Feld auf dem Wege nach Lindow, der ersten Kontrolle, in mehrere Gruppen. Klatschmohn und Kornblumen stehen satt leuchtend in den Feldern. Herrlich, durch diese Landschaft zu rollen. In Lindow holen wir uns den Stempel in einem kleinen Lebensmittelgeschäft, in dem es nach Knoblauch und Ingwer duftet.
Der Naturpark Müritz erwartet uns mit einem erfrischenden Regenschauer! Nach zehn Minuten zeigt sich wieder die Sonne. Mit den „Leisetretern“ aus Bernau und den „Zehlendorfer Eichhörnchen“ fahre ich locker im Verband. So kann es gerne weitergehen.



Im Café Piccolino in Kratzeburg, einem unserer Lieblingskontrollpunkte, stoßen auch Andi und Peter wieder dazu. Die arme Bedienung ist mit Stempeln, Kaffeeausschenken und dem Erfüllen von Sonderwünschen total überfordert. Wir warten wir vor der Theke geschlagene 20 Minuten auf unsere Stempel – und einen Pott Kaffee! Das ist Rekord für Kratzeburg! Irgendwann sind wir endlich wieder auf Strecke, ich fahre mit Andi und Peter weiter. Die Leisetreter sind schon losgefahren.


In Ankershagen können wir das riesige hölzerne Pferd, das vor dem Schliemann-Museum steht, bewundern. Wie habe ich in meiner Jugend die Bücher über die Ausgrabungsreisen des Troja-Entdeckers verschlungen!

In Malchin erwartet uns nicht nur das herrliche, historische Stadttor, sondern auch eine rumpelige Innenstadtbaustelle. Wir müssen runter vom Rad. Und wann macht das schon ein Randonneur! Bei der Ausfahrt aus der Stadt treffen wir auf die „Vorhut“ der Ostseetour, bei der diesmal 121 Radler von Leipzig nach Rügen unterwegs sind. Ein ganz klein wenig Neid kommt bei uns auf: die Kollegen fahren mit komfortabler Begleitung – Materialwagen, Besenwagen, Proviantfahrzeug…

Aber wir sind ja Randonneure und sind „by fair means“ unterwegs– ohne jede fremde Hilfe! Darauf legen wir auch großen Wert.




Nach 50 Kilometer Fahrt durch die traumhafte Landschaft der Mecklenburgischen Schweiz rollen wir um 16.25 Uhr in Neukalen ein. Ein Drittel des Brevets ist durch! Wir gönnen uns am Marktplatz eine große Portion Spaghetti Carbonara, um unsere Kohlenhydratspeicher wieder zu füllen. Frank läuft auf uns auf, und wir fahren die ersten Kilometer Richtung Darß gemeinsam. Bei tief stehender Sonne überqueren wir die Meinigen-Brücke, die das Festland mit dem Darß verbindet. Zingst noch, und dann kommt schon Prerow, die nächste Kontrolle. Fast die Hälfte der Strecke haben wir schon gepackt, das Wetter ist herrlich, wir genießen ein paar Minuten auf dem Ostseedeich mit dem Blick auf die ruhige See.

Ein wahrhaftiges Genussbrevet ist das! Vor dem Fischrestaurant in Prerow sitzt noch eine große Gruppe und läßt es sich schmecken. Wir sind noch satt und können es weiter rollen lassen. An der Tankstelle in Born füllen wir unsere Vorräte für die Nacht auf: Cola zum Wachbleiben, Mars für die Süßgelüste. Die Pause vor der Tanke nutzen tausende von Mücken zum Angriff auf uns. Schnell sind wir wieder auf den Rädern– hier lassen sie uns in Ruhe.
Wir beschließen weiterzufahren, solange es vernünftig rollt. Der Wind schiebt leicht, Ahrenshoop, die angestrahlte Kirche von Wustrow, bald erreichen wir Ribnitz-Damgarten. Auf dem Marktplatz rockt der Bär. Eine Band heizt den Besuchern ein, das Städtchen ist auf den Beinen! Auch uns machen die wummernden Beats noch mal wach für die nächsten Kilometer. So langsam geht uns der Saft aus: Mitternacht ist vorbei, und wir arbeiten uns wieder nach Süden.



In Sanitz, einem verschlafenen Ort, erblicke ich eine hellerleuchtete Sparkassen-Filiale! Ruckartig biegen wir ab und stehen Sekunden später vor der Schiebetür. Dieses „EC-Hotel“ ist allerdings schon belegt. Die Bernauer Truppe hat sich mitsamt den Rädern breitgemacht. Gnädig rutschen sie zusammen. Sechs müde Randonneure schnarchen bald um die Wette! Um Zwei wollen die Leisetreter weiter – wir bekommen reichlich Platz und ruhen noch bis 3 Uhr 30 aus. Ein gutes Timing!Die erste Morgendämmerung bricht heran und weckt unsere Lebensgeister. Eine Stunde lang rollen wir durch Nebelschwaden in den beginnenden Tag. Jetzt noch die fiese Plattenstrecke kurz vor Teterow, und die Kontrolle ist erreicht. Auch diesmal gibt es an der Tanke frische Croissants und herrlich heißen Kaffee.
Die Motivation steigt wieder. Hans Müller, der alte Crack, stakst eine halbe Stunde nach uns total durchgefroren in den Verkaufsraum. Ganz wenig Pausen hat er sich gegönnt und in einer Bushaltestelle so gezittert, dass er einfach nur weiterfahren musste. „Ich bin tot“, sagt er nur beim Hereinkommen!
Wir nehmen Ihn mit ins Team auf die Kurzetappe nach Krakow am See. Ein Ort zum Urlaub machen! Andi zieht sich hier einen Splitter in den Hinterreifen. Peter hilft, und die beiden schließen erst 20 Minuten später wieder zu Hans und mir auf.
Auch dieses Jahr lautet die Antwort auf die Frage zum Gründungsjahr der Feuerwehr in Krakow “ 1874″!


Hans lässt uns fahren und findet sein eigenes Tempo. Wir baggern uns derweil durch die traumhaften alten Laubwälder hin zum Müritzsee nach Röbel. Um 11.35 Uhr sind 463 Kilometer geschafft. Kein toller Schnitt, aber die Laune ist gut.
Auf den letzten 150 Kilometern bis nach Berlin müssen Andi und Peter noch ordentlich kämpfen. Bei Andi zwackt das Knie, bei Peter schmerzt der Fuß.


Bei beiden werden die Schmerzen nach jeder Stunde stärker, Durchhalten ist gefragt! Randonneur-Tugenden werden unter Beweis gestellt! Nach gefühlten zehn Sonderpausen zur Fuß- und Knieerholung erreichen wir Neuruppin um 15.29 Uhr. Wir sind noch gut in der Zeit, zeitweise fährt Andi „einbeinig“ und Peter „einfüßig“. Die letzten 70 Kilometer nach Berlin gestalten sich zäh. Um 19.15 Uhr kommen wir ins Ziel! Geschafft! 600 Kilometer in 36 Stunden!
Wie heißt doch das olympische Motto: „Dabei sein ist alles“
Hallo Dietmar
Zur „Genusstour“ für mich wie immer eine „Genuss-Lese“
Deine Berichte werden immer poetischer und mit den schönen Bildern immer anschaulicher.
Tolles Erlebnis so ein Brevet. Weiter so !
LG Franz