Der Titan-Randonneur

Mit dem Verkaufserlös des Troytec Revolution will ich mir einen Titan-Randonneur aufbauen. Nur, welchen Rahmen soll ich wählen? Sehr sauber muss er gearbeitet sein und die Geometrie tauglich für die Langstrecke. Anlötgewinde für Schmutzbleche und Gepäckträger will ich auch haben – für alle Fälle, für die ganz langen Touren. Für Etappenfahrten und Bikepacking.

Van Nicholas aus Holland fahren einige Kollegen bei Brevets.

VPACE ist eine neue Marke von jungen Leuten in Ravensburg.

Wheeldan sitzt auch in Berlin – erfuhr ich leider erst nach Bestellung des Kinesis.

KOCMO residiert in Stahnsdorf bei Berlin und ist für mich ganz nah dran.

Also setze ich mich kurzerhand auf mein Basso und radle einfach hin. KOCMO hat einen Laden in einem alten Gründerzeithaus. Sieht recht sympathisch aus. Die Hollandräder und Trekkingbikes vor der Tür zeugen von einem breiten Angebot. Also rauf die Treppe und rein in den Laden. Ein junger Mann begrüßt mich und geht dann wieder seiner Arbeit nach. Ich schaue mich derweil um. Drei fertige Titanräder hängen an der Wand. Ich begutachte sie ausführlich. Nicht schlecht, der erste Eindruck. Ich hebe ein Rad an, drängle mich vor zu den anderen an der Wand … Interesse zeige ich reichlich. Nur beachtet werde ich als Kunde überhaupt nicht. Als wäre ich Luft, so komme ich mir vor bei KOCMO. Ich versuche Blickkontakt zu dem Kollegen am Tresen aufzunehmen – vergeblich. Langsam schwinden meine Geduld und auch meine gute Laune, die ich mitgebracht hatte. Als ich zur Tür gehe und meinen Unmut kundtue, sagt der Bursche doch: “ Hättense mich doch angesprochen, woher soll ich denn wissen, wat sie wollen.“ In diesem Stil geht das Gespräch noch 10 Minuten. Ich versuche redlich, mein Interesse kundzutun, und klar zu machen, wie ich mir solch ein Rad vorstellen könnte. Nur das interessiert hier keinen! „KOCMO weiß, was Randonneure wünschen!“ Bevor ich noch in ein echtes Stimmungstief hineinfalle, verabschiede ich mich mittelmäßig freundlich.

Fazit KOCMO: Diesen Laden werde ich nicht mehr betreten, dieses Produkt werde ich nicht kaufen. Punktum.

Warum eigentlich Titan? Wenn es ein leichtes und hochstabiles Rad sein soll, ist Carbon doch die beste Wahl?! Mein Endurace ist mit 6,7 kg ein Leichtgewicht und dabei sehr komfortabel und trotzdem sehr torsionssteif im Antrieb und im Steuerrohr. Aber Titan hat eine besondere Anziehungskraft für mich: Titan ist leichter als Stahl, absolut korrosionsfest, es muss nicht lackiert werden, ein gut konstruierter Rahmen federt komfortabel und läuft wunderbar geradeaus. Und Titan hält auch mal einen Rempler aus. Einen Titanrahmen kann man weitervererben! Und Carbon?

Ich wurde schließlich bei der Marke Kinesis fündig. „Kinesis Granfondo Ti V3“. 

Bei Merlin Cycles bekam ich das Frameset mit Gabel für knapp 1900 €. Geliefert innerhalb von einer Woche. Schnell, gut verpackt, perfekt.

Mike hall Racelight

Jetzt musste ich das Gerät nur noch komplettieren.

In dieser Konfiguration fuhr Mike Hall, der im März beim  Indian-Pacific Race bei einem Unfall mit einem Auto ums Leben kam. Im Gedenken an Mike habe ich mein Granfondo dann aufgebaut.

P1080481

Nach einer Woche Schrauben  stand es dann so vor meiner Haustür. Bereit für den ersten Ritt.

> Gruppe: Ultegra 6800 11s, Kurbel 170 mm, 50/34, Ritzelpaket 11-32

> Bremsen: Cane Creek SCR-3L

> Laufräder: DT-Swiss Spline 23

> Reifen: Conti 4seasons 28mm

> Sattel: Fizik Arione K3 Kium

> Stütze: Fizik Cyrano

> Lenker: Richey WCS Neoclassic

> Vorbau: Richey WCS C 220 90 mm

>Pedale: Shimano SPD A 600

> Flaschenhalter: Elite Ciussi Edelstahl

Gewicht: 8,9 kg

Hier beim ersten Ausritt, gemeinsam mit Peters famosem Tommasini Stahlrenner. Die beiden haben sich sofort angefreundet.

P1080427
fullsizeoutput_33d0

Der Granfondo Titan ist sehr fein und sorgfältig gearbeitet. Der Rohrsatz aufwändig im Hydroforming-Verfahren hergestellt. Am Tretlager ist das Unterrohr quer oval geformt, am Steuerrohr vertikal oval. Perfekt gemacht für Stabilität UND Komfort.

P1080420

Hier ist die Liste mit Rahmen und Ausstattung für die Titan-interessierten Nachbauer: Kinesis Granfondo Ti V3

… Nach den ersten 500 km und den üblichen Feineinstellungen von Bremsen und Schaltung bin ich schwer begeistert von den Fahreigenschaften. Ein echter Randonneur!

Da wird die Qual der Wahl schwerfallen: Endurace oder Granfondo. Aber auch schön, zwei gleichwertige, wohl aber doch verschiedene Pferde im Stall zu haben.

Milde Lüfte, sanfter Wind, kein Regen: ein 400er für Genießer – oder?

Zum perfekten Wetter wären noch ein paar Sonnenstunden vonnöten gewesen. Es wurden uns dann aber ersatzweise Mondstunden geboten – mit fast komplett erleuchtetem Nachtgestirn.

Zurück zum Start vor dem Start. Bekanntlich gönne ich mir vor den Brevets immer die frühmorgendliche Anfahrt zum Amstelhouse. Um 5.30 Uhr in die noch fast schlafende Stadt hinein. Frühdienstler stehen an Bushaltestellen, Spätheimkehrer wanken mit lecker Bier am langen Arm nach Hause. Irgendein Irrer donnert seinen AMG-Mercedes mit fettem Röhren über die B 96. Die Polizei wird schlafen, denkt der sich – wenn er denn denkt. Um 6.20 Uhr biege ich auf das Kopfsteinpflaster der Waldenser Straße ein.

P1080101

Am Wochen-Wandaufschrieb wird klar, dass außer Brevetfahren noch andere schöne Sachen in Berlin zu erleben wären. Aber nein, so um die 60 Starter wollen unbedingt die nächsten 15 bis maximal 27 Stunden auf dem Rad in der freien Natur von Brandenburg und Meck-Pomm. verbringen. Genießer oder Masochisten? Macht ihr das eigentlich freiwillig?, wurde ich mal am Start gefragt.

Und ob! Es macht sogar Spaß. fullsizeoutput_33b4

Unser Streckenplaner Ralf im Gespräch mit zwei schnellen Triathleten, die wir heute wieder nur am Start zu Gesicht bekommen. fullsizeoutput_33ca

 

Kein Wunder, dass die so schnell sind, wenn sie vorne windschnittig auf dem Lenker liegen und selbst zum Essen und Trinken in dieser Haltung verharren.

Manuel ist nach längerer Pause wieder mal dabei und wartet heute mit einer ganz besonderen Rahmenschalthebel-Halterung auf. Klar Innovationspreis-verdächtig.

P1080225

Klaus und Ingo sind ausgesprochen gut gelaunt und schicken uns mit humorigen Worten auf den Kurs. In der zweiten Gruppe starte ich um 7.10 Uhr gemeinsam mit Peter. Wir wollen es heute ganz gemächlich angehen lassen. Von wegen Knie ( bei Peter) und Rippe ( bei mir). Es sollte anders kommen.

Nach Westen führt uns Ralf aus der Stadt hinaus. Erfreulicherweise bremsen nur wenige Ampeln unsere zügige Fahrt. Wir unterhalten uns über Ausrüstung, Blogartikel, vergangene und zukünftige Vorhaben. Auf dem Tacho ist fast immer die 3 vorn zu sehen. So geht das bis zum ersten Kontrollpunkt bei km 67, wo die Frage nach der Grundfarbe des Hinweisschildes zum Bändchen Rhinow zu beantworten ist. Ralf macht freundlicherweise ein Kontrollfoto der mindestens 15 Randonneure starken Gruppe. Ich verzichte hier auf diese Perspektive, denn sie zeigt – nicht jugendfrei – mindestens 10 Männer beim Verrichten ihrer Notdurft in Wiese und Wald.

Ab geht die Post weiter Richtung Havelberg und ran an die Elbe.P1080270

Gutes Timing! Der unermüdliche Pacemaker Thomas verspeist genüsslich noch eine stärkende Stulle, bevor die Werbener Fähre anlegt.

P1080274

Ein paar Minuten Pause sind sehr willkommen. Essen, quatschen, Luft holen.

Randonneur-Stilleben: Riegelverpackung und Futterkiste

fullsizeoutput_33c8

Ich bin noch beim Anlegen auf der anderen Seite so mit Fotografieren beschäftigt, dass die Jungs mindestens 100 Meter vor mir fahren. Auf den drei Kilometern Kopfsteinpflaster bis nach Werben bekomme ich keinen Anschluss mehr an die Gruppe. Peter ist so gnädig und wartet auf mich. Seehausen ist der nächste Kontrollpunkt bei Kilometer 136.  Ich kann mich an einen anheimelnden NP-Markt mit Imbissecke in der Innenstadt erinnern.

Die riesigen Türme der 800 Jahre alten Kirche St. Petri künden von der reichen Vergangenheit der kleinen Stadt. Sie hat sogar einmal der Hanse angehört. Heute leben hier noch 5000 Menschen. Nach einem kleinen Schlenker finden wir den NP-Markt, und drinnen stehen schon sechs Brötchen- und Teilchen-vertilgende Randonneure. Die Spezialität ( auf die wir heute verzichten) sind sogenannte Metthörnchen. P1080290

Alex macht den starken Max.

Und draußen vor der Tür schlägt wieder einmal die Stunde von Ersatzteil-Samariter Andy. Flugs zaubert er zum Erstaunen des Cleat-Geschädigten Christophe ein neues Schräubchen aus seiner Wundertasche. Fünf Minuten und eine Zigarettenlänge später ist der Schuh repariert. Ab geht die Post nach Norden, 80 Kilometer noch bis Lübz.

Kurz vor Erreichen der Elbe lockt Andy Peter und mich auf einen Schleichweg hin zur Bahn-Brücke über die Elbe. Ein paar Meter weniger Strecke erkaufen wir mit gefühlten drei Kilometern Fahrt über die mehr oder weniger morschen Holzplanken des Fußgängerweges neben der Eisenkonstruktion. Gut durchgerüttelt rollen wir in Wittenberge ein. Sind die Kollegen noch vor uns? Haben wir sie querab überholt? Jedenfalls bekommen wir die Begleiter auf den nächsten 50 Kilometern nicht mehr zu Gesicht. Dafür treffen wir irgendwo zwischen Mahlow, Tessenow, Burow und Siggelkow unseren sehr geschätzten Alt-Randonneur Klaus, der uns unbedingt an der Strecke begrüßen will.

Klaus habe ich noch von Paris-Brest-Paris 2011 in guter Erinnerung. Als er nämlich mit angelegter Kniebandage die 1230 Kilometer in 60 Stunden absolvierte. Rekordzeit – für den damals schon 68-Jährigen. Heute plagt ihn ein hartnäckiges Problem in der Halswirbelsäule, sonst würde er uns wahrscheinlich immer noch um die Ohren fahren. So halten wir einen Plausch und verabschieden ihn wieder nach Hause ins heimatliche Karstädt. Immerhin, 150 Kilometer hat er heute doch noch abgeradelt. Wahrscheinlich würde er 100 km noch mit einem Bein und einem Arm erledigen.

P1080311
Klaus (links) und Peter, zwei Randonneure mit vielstelligem Kilometer-Konto

Locker kurbeln wir weiter gen Lübz. Hier in der Stadt mit der gleichnamigen Brauerei sollte sich doch Gastlichkeit für hungrige Breveteure finden. Ein köstliches Mahl mit einem leckeren Bier, das wäre was! Dann kommt Lübz. Links die Brauerei, schöne alte Häuser, ein Gasthof, GESCHLOSSEN. Die Elde-Terrassen, GESCHLOSSEN. „Zum Alten Amtsturm“ GESCHLOSSEN. Lübz macht von 13 bis 17 Uhr Mittagspause. Da weint der hungrige Tourist bittere Tränen.

P1080313P1080319

Nur die überaus nette Dame des kleinen Eisverkaufs hinter dem Mauerverschlag am alten Turm verschafft uns eine Kontrollunterschrift bei km 217 und dann auch noch zwei riesige Erdbeer-Eisbecher. 16.22 Uhr. Dann bekommen wir noch eine frische Wasserfüllung in unsere Trinkflaschen. Service vom Feinsten. Wenn es doch überall hier so wäre.

Zur Ehrenrettung der kleinen Stadt muss vermerkt werden, dass die Kollegen um Ingo und Andy einen Mexikaner mit guter Küche ausfindig gemacht haben, dem sie dann fast alle Vorräte weggeputzt haben.

Nächster Halt: Röbel am Müritzsee, km 265,8. Knappe 50 Kilometer Vorfreude auf eine warme Mahlzeit, die wir dort erhoffen. Leichter Rückenwind, milde Lüfte und ein paar Sonnenstrahlen erhellen unser Gemüt.

Im „Technik-Center-Röbel“ erwartet uns schon eine illustre Runde mit Ingo, Ralf, Sascha und Andy. Schon wieder haben die Hunger, obwohl sie doch schon den Lübzer Mexikaner geplündert haben. Für Peter und mich gibt es eine heiße Bockwurst und ein Pils. Das muss reichen. IMG_1512

Dann folgen 65 lange Kilometer durch Wald und Feld nach Neuruppin. Zwischendurch lesen wir Manuel auf, bei dem die Frontleuchte den Geist aufgegeben hat. Er tastet sich langsam durch die Dunkelheit und ist froh, als wir ihn in unsere Mitte nehmen. Und immer weiter durch den  Wald, Wald, Wald, Wald. Immer geradeaus. Am Straßenrand ein Wildunfall, Polizei mit Blaulicht, eine Polizistin brüllt Manuel an: „Wo ist dein Licht?“ Wir: vorn und hinten haben wir doch Licht reichlich! Weiter geht es.  Und dann kommt die Esso-Tanke bei km 330. Es ist 22.40 Uhr geworden.

Ich habe keine Lust mehr, Fotos zu machen. Ein süßes Teilchen, ein Milchkaffee, dann sitzen Peter und ich wieder auf den Rädern. Jetzt wieder zu zweit. Zäh läuft es bis zum Rand der großen Stadt. Die Schönwalder Allee mit ihren 3 Kilometern Kopfsteinpflaster rüttelt uns wieder wach und meine Batterie-Zusatzleuchte raus aus der Halterung. Macht nichts, die Supernova E3 macht sattes Licht nach hinten, gespeist vom unermüdlichen SONdelux-Dynamo. Gemeinsam mit zwei netten Kollegen rollen wir die Endspurtkilometer bis zum Amstelhouse. Genau um 2.05 Uhr sind wir im Ziel. O.k., wir sind zwar nicht die Schnellsten, wir waren aber schon mal langsamer, und die meisten kommen erst noch. Freude macht sich breit. Ingo und Ralf sitzen schon vor Lasagne und Bier. IMG_1520

Das Amstelhouse ist schon eine geniale Adresse. Durchgehend geöffnet, immer nette Bedienung, wunderbar, einzigartig!

Um drei in der Früh sitze ich wieder auf dem Rad und rolle gemächlich nach Hause. 14 Kilometer gehen noch, dann falle ich ins Bett.