ARA-BB 400er Brevet 2019 – Kapelmuur

Knackig und herrlich zugleich

“ 412 km. Schwere Fahrradtour. Sehr gute Kondition erforderlich. Auf einigen Passagen wirst du dein Rad evtl. tragen müssen.“

Das sagt „komoot“ zum Track des zweiten ARA-BB- 400er Brevets in diesem Jahr. Und mein Garmin weist im Ziel genau 2002 hm aus.

Und der Titel „Kapelmuur“ ist eine klare Anlehnung an die Kapelmuur von Geraardsbergen in Flandern. Wie viele Profis, Amateure und Transconn-Starter haben sich schon dort hochkämpfen müssen. Am 25. Mai ist unsere Muur die Auffahrt zur Jahn-Kapelle im mecklenburgischen Klein-Vielen – unser dritter Kontrollpunkt bei km 209,8.

Nicht allein die Kapelle auf einem Hügel zeigt die Verwandtschaft zu Geraardsbergen. Auch Pflasterpassagen, Schotter-, Wald- und Plattenwege werden zur „kleinen“ Härteübung und zum Materialtest und machen den Brevet zu einem der flandrischen Art.

Zum Start: Einen Brevet kann man auch puristisch organisieren, das bedeutet dieses Mal Verzicht auf den sonst gebotenen Morgenkaffee im Amstelhouse, stattdessen Empfang der Brevet-Karten und Eintrag in die Startliste auf den Knien an einem Zaunsockel. Geht auch!

Startprozedere

Pünktlich um 7 Uhr schickt Ingo die erste Gruppe auf die Reise. Vorn machen Gerald und Rafal die Pace. Auf diese Weise komme auch ich zügig heraus aus der Stadt und hinein ins Brandenburger Land. Die erste Gruppe muss ich zwar ziehen lassen, dafür holen mich die nächsten mit den beiden Trumanns, Eva-Takeshi und Rainer kurz vor Erreichen der ersten Plattenwegpassage ein. Eine kleine Weile plausche ich, dann ziehen auch sie vorbei.

Zehn Minuten später sichte ich Rainer, der schon sein Titan-Rad auf den Kopf gestellt hat. „Plattfuß auf dem Plattenweg.“ Sehr passend!

Während fünf hilfreiche Randonneure nach Rainers Lesebrille suchen, lässt Rainer per CO2-Kartusche schon den ersten Schlauch zerknallen. Gottlob gibt es noch Ersatz. Ich hole mir die Erlaubnis, schon mal voranzurollen über den nächsten Plattenabschnitt. Es rumpelt sich so dahin, und ich bin froh, dass ich auf 28 mm Conti mit 6 Bar Druck fahre. Die federn das Ungemach ordentlich ab. Und mein Titan-Granfondo freut sich, endlich wieder gefordert zu werden.

Erst an der zweiten Kontrolle bei km 143 sehe ich die Kollegen wieder. Sie lassen es sich gutgehen bei Kaffee, Frikadellen, Brezeln und Brötchen. Ich tue es ihnen gleich. Die Überraschung des Tages zieht sich Ingo aus dem Ohrläppchen: den aus dem gelöcherten Mantel gezogenen Brilli-Ohrstecker einer unbekannten Trägerin. Leider ist es wohl kein echter Klunker.

Nachdem mich zwei Gruppen wieder einmal überholt haben, bin ich auf der Strecke allein unterwegs. Das hat den Vorteil, dass ich meinen Rhythmus fahren kann, die Natur aufsaugen kann, mich konzentrieren kann nur auf mich.

Irgendwo zwischen Berlinchen und Sewekow hat es dem Randonneur mit dem Mountainbike das Hinterrad geplättet. Er sitzt montierend auf dem Weg und hört sich die launigen Kommentare seiner Kollegen an. Die sportliche Dame in der Gruppe fragt etwas schüchtern, ob jemand vielleicht etwas Vaseline oder Ähnliches dabei hätte. Für die Behandlung einer Malaise am Allerwertesten. Ich krame meinen Lieblings-Linola-Balsam als Nothilfe aus meinen Erste-Hilfe-Set. Mit der Tube verschwindet besagte Dame hinter den Büschen, um erleichtert wieder aufzutauchen. „Um Gut’s zu tun, braucht’s keiner Überlegung“, sagte schon der alte Johann Wolfgang von G.

Wer den Schaden hat…
Marienkirche in Kyritz
In Rechlin kündet ein Wandfoto von der Schönheit der Seenplatte

Am Müritzsee führt der Track nach Nordosten ins Havelquellgebiet, durch Kratzeburg, dann nach Klein Vielen, wo die Muur und die Kapelle warten. Schon kurz vor dem Anstiegspfad hat Ralf nicht nur eine Kontrollstation aufgebaut, auch mannigfaltige Leckereien – von Gummibären über Snickers bis zu Bananen und Äpfeln – stehen bereit zum Zugriff der Gierigen. Heute ist Ralf der Gute! HAB DANK!

Wer etwas über die Geschichte der Kapelle erfahren will, der lese hier: Jahn-Kapelle

So soll das erstaunliche Bauwerk wieder aussehen, wenn die Arbeiten vollendet sind.

Mit vollen Trinkflaschen, Snickers und Banane bin ich 20 Minuten später wieder auf dem Track. Halbzeit. 16.20 Uhr. Ab nach Osten, ab nach Prenzlau. Noch fühlen sich die Beine leicht an, meine Laune ist gut, und die nächste Etappe kenne ich von zahlreichen Touren. „Viel Gegend hier“ , meint der Bewohner des schmucken Anwesens gleich neben der Kapellen-Auffahrt. Recht hat er – und eindrucksvoll und schön zeigt sich die Natur.

Meine Geschwindigkeit pendelt immer so um 20 bis 25 km/h. Die Hügel zehren Kraft und werden auf den nächsten Kilometern noch ordentlich in die Waden zwicken. Tom, der Trackzeichner, hat noch ein paar Überraschungen eingebaut: zunächst die gesperrte und aufgerissene Straße hinter Blankensee. Ich gebe zu, ich habe den Abschnitt umkurvt und dabei noch drei Kollegen mitgenommen, die auch in den Genuss des herrlich glatten Bahnradweges kommen. Kein Strecken-, aber ein Komfortgewinn.

Die Sonne kommt am späten Nachmittag immer mehr durch und taucht die Hügel in goldenes Licht. Einen der drei, die ich immer wieder treffe, zwackt die Wade. Zeit für die nächste gute Tat: Er bekommt von mir eine Powerbar-Iso-Tablette für die Trinkflasche. „Schmeckt gut und hilft.“

Pflaster-, Wald und Gravelpassagen geraten schnell in den Hintergrund der Wahrnehmung. Die eindrucksvoll schöne Landschaft lässt keine krittelnden Gedanken zu. 20 Kilometer vor Prenzlau überholen mich besagte Kollegen wieder einmal, und ich fahre auf den Fahrer des klassischen Meerglas-Randonneurs auf. Schon am Start habe ich das feine Teil, gebaut von Tom Becker, bewundert.

Wir sollten uns noch öfter sehen …

In Prenzlau an der Kontrolltanke gönnen wir uns einen Riesenkaffee und eine Riesenknackwurst mit Brötchen. Alle Grundsätze für die gesunde Ernährung werden in dieser Phase der Gier nach Koffein und etwas Essbarem kurz ausgeblendet. Die Gruppe mit der besagten Dame rollt auch ein. „Die Linola hat mir den A… gerettet“, vernehme ich erfreut.

Es ist schon nach 20 Uhr, als wir gestärkt wieder auf die Räder steigen. Die Ausblicke auf Oberucker- und Unteruckersee wärmen die Seele. Bis zur nächsten Kontrolle, dem Gasthof Krokhus in Görlsdorf, sind es nur 35 Kilometer. Die haben es aber in sich. Hügel rauf, Hügel runter, rein in den Wald, rauf in den Wald … Es ist schon nach 22 Uhr, als ich das Kroghus erreiche. Der FC Bayern wird gerade mit reichlich Bier gefeiert. Ich bekomme meinen Stempel und gute Wünsche für die Heimfahrt. „Wahnsinn, jetzt noch nach Berlin, und das per Rad!“ Genau, etwas Wahnsinn gehört schon dazu. „Man muss nicht verrückt sein, aber es hilft.“ Für die letzte Etappe über gut 90 km fühle ich mich gut gerüstet. Die erprobte Supernova E3 Pro plus eine Lupine Piko für die schlechten Wegabschnitte, das beruhigt. Ich habe meine Reflexjacke über die Windjacke gezogen, die Temperatur sinkt runter in den einstelligen Bereich. Jetzt wird die Strecke wieder etwas rumpelig. Der Kaffee aus der Trinkflasche hält meine Konzentration oben. Der Rest ist einfach Arbeit und das Sträuben gegen die beginnende Müdigkeit. Am Werbellin lege ich eine Pause von 20 Minuten ein, dann wird es ungemütlich in der Bushalte. Noch mal kurz die Augen schließen, Beine hoch in Ladeburg. Die Straße durch den Wald bei Woltersdorf fühlt sich elend lang an. Jetzt darf langsam die Stadtgrenze kommen. Sie kommt – mit breiten Straßen, Beleuchtung und einem saublöden Taxifahrer, der meint, er müsste mich auf einsamer Straße nächtens um 2 Uhr auf den dunklen Radweg weisen. Ich gebe einen unhöflichen Kommentar und fahre weiter meines Weges. Nach drei Uhr in der Früh komme ich ins Amstelhouse. Stempel, ein Gösser-Radler, kurz Quatschen mit dem einzigen Kollegen, der auch gerade eingerollt ist. „Habt ihr die Brille gefunden?“… Aha, der Bursche hat uns beim Suchen gesehen.

Kurz vor Mitternacht ( Foto von Rainer)

Zum Finale gönne ich mir noch die 15 km nach Hause. Die Morgendämmerung taucht die Stadt in mildes Licht. Genauso wie am Morgen vor dem Start, als ich um 5.30 Uhr zum Start rollte. So schließt sich der Kreis. 437 Kilometer sind die Bilanz der vergangenen 24 Stunden. 18 Stunden mit 24er Schnitt für den Brevet. Das ist für mich das Machbare.

Für Gerald war heute ein Schnitt von sagenhaften 34 km/h das Machbare. Gratulation!!! Chapeau!!!

Jetzt wartet in zwei Wochen der 600er in Ostfalen.

P.S.: Danke an Ingo und Tom und Ralf. Der Track war anspruchsvoll, eine harte Materialprüfung, eine Prüfung für Mensch und Maschine also. Ein Brevet, der wirklich den Namen verdient. Manchmal habe ich geflucht, weil das ja auch viel glatter gehen kann. Aber wie steht es so schön geschrieben im Artikel der Süddeutschen: „Währenddessen ist es oft scheiße, aber danach ist alles besser“. So isses!

Danke an Rafal, der wieder klasse Fotos gemacht und zusammengeführt hat auf Google-Photos. Reinschauen lohnt sich!

9 Antworten auf “ARA-BB 400er Brevet 2019 – Kapelmuur”

  1. Hart aber schön war´s wieder. Und wenn man den „rasenden“ Reporter dabei hat ist auch die persönliche „Nachbereitung“ ein Genuss. Danke lieber Dietmar.

  2. Lieber Dietmar, danke für die schönen Zeilen und Fotos. Es macht immer wieder Freude, eine Tour durch fremde Augen nachzuvollziehen. Es war ein toller Tag!
    Und danke auch für den Tipp, zur Kapelle zu gehen, die Aussicht hat mir gut gefallen.
    Herzlichen Gruß und viel Glück beim 600er!

  3. Herzlichen Glückwunsch Dietmar. Jetzt noch den 600 dann bist du durch.
    Auch das wirst du schaffen. Wie immer schöner Bericht und tolle Bilder.
    PS schau mal beim AUDAX Schleswig Holstein rein. Die Kontrolle beim 400 Km Brevet
    war bei mir zu Hause nach 220 Km.
    Ich wünsche dir weiterhin alles Gute und bleib schön gesund.
    MfG
    PP aus Schleswig

  4. Danke, lieber DC. Abermals wunderbar animierend, in einem Ausmaße, dass ich morgen, so alles klappt, 50% Deiner Wegstrecke, wenn auch mit anderen Zielen und Wegpunkten, ins Auge fasse. An Dir ist ein Schriftsteller verloren gegangen. GF

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