Wo ist denn Ostfalen? Wo ist denn Warberg? Vor meinem ersten Brevet dort musste ich erst einmal Recherche betreiben:

Der Brevet hätte vor 1000 Jahren von Ostfalen nach Abodriten und wieder zurück geführt. Heute kennt kaum jemand die Bedeutung und Aufteilung des Stammesherzogtums Sachsen zu damaliger Zeit. Mein treffliches Garmin im Auto kennt aber den Ort Warberg, nahe bei Helmstedt, und weist 210 km Anreisestrecke aus. Dieses Jahr, bei meinem zweiten 600er im Lande der Ostfalen, genieße ich die Anfahrt über fast leere Autobahnen von Berlin nach Helmstedt. Ich schlürfe heißen Tee aus der Thermoskanne und vertilge ein Brötchen zum zweiten Frühstück. Schließlich braucht der Körper Startkalorien für die erste Etappe. Nach knapp zwei Stunden entspannter Fahrt parke ich mein Auto vor dem Schützenheim in Warberg, packe mein Granfondo aus und rolle zum Start. Bei Hartmut in der Hauseinfahrt sichte ich gut gelaunte Randonneure und -innen.
Die Anmeldung bei Hartmut auf der Terrasse Berliner Gesichter Frank ist mit seinem Surly Packesel gekommen Alex mit elegantem Meerglas-Stahl Racer in Warteposition Na, wo ist er denn, der Track? Raumkapsel-Milan Hartmut bläst zum Start
Die zweite Startergruppe rollt um 8.35 Uhr los – durch Warberg und dann nach Norden. Nach zehn Minuten schiebt sich das Feld an einem Bahnübergang wieder zusammen.

Matthias mit seinem schnellen Troytec-Lieger ist uns schon enteilt. Davor sausen schon die schnellen Velomobile im Autotempo über die Landstraßen. Hartmut wird schon am frühen Sonntagmorgen gegen 6 Uhr zurück auf seiner Terrasse sein. Schließlich will er als Organisator das Geschehen am besten von zu Hause aus begleiten. Für mich heißt es, die Kräfte vernünftig einteilen, das eigene Tempo finden. Gar nicht so leicht, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Munter plaudernde und genauso munter kurbelnde Kollegen überholen mich zuhauf. Bin ich so langsam geworden mit zunehmendem Alter? Oder fahren die so schnell? Vielleicht ist es eine Mischung von Beidem. Ahrendsee in der Altmark bei km 104,7 ist der erste Kontrollpunkt. Voriges Jahr waren wir froh, endlich einen Kaffee im Trockenen zu bekommen. Heute ist es eine Lust, sich vom frischen Südwest schieben zu lassen und die Sonne zu genießen.

An der Tanke in Ahrendsee treffe ich wiederum Klaus und seine „regenfeste Frau“, nur ist heute eher Sonnenfestigkeit gefragt. Die beiden haben mich locker überholt, aber schön, sie hier wieder zu treffen. „Dieses Jahr sind wir besser trainiert“, sagt Klaus. Er wird als erfahrener Marathonläufer wissen, wie Ausdauer geht. Ums Eck herum müht sich ein Kollege ab, endlich die Ursache für seine Plattfußserie zu finden. „Neue Felge, neues Felgenband, neuer Mantel, und jetzt sowas…“

Wir sehen uns wieder, rufe ich zu Klaus rüber und bin nach wenigen Minuten an der Kontrolle wieder „on Track“. Ein mitgebrachtes Schinkenbrot vertilge ich genussvoll während der Fahrt.
Schon bei der Walddurchfahrt bei Kapermoor kapern mich die beiden, abermals fröhlich grüßend. Bald erreiche ich die Elbfähre bei Lenzen – schlechtes Timing! Die Gruppe vor mir rollt gerade auf der anderen Seite den Deich hinauf, und ich darf 15 Minuten warten. So komme ich in den Genuss, den Leipzig-BigBand-Velomobilisten auch außerhalb seines Gefährtes zu sehen.

Elend lang kommt mir die Strecke nach Neustadt vor, erst rumpelige Straßen, dann lang immer geradeaus. Aber die Natur zeigt sich von der besten Seite. Pferde und Rinder auf Riesenweiden, ein Seeadler zieht seine Kreise. Meine Beine kreisen mittlerweile auch leidlich gleichmäßig, das rechte, vor 10 Tagen verstauchte Handgelenk schmerzt dank Manschette kaum. So darf es weitergehen.
Die zweite Kontrolle ist Neustadt/Glewe bei km 177. Mal gespannt, wen ich da antreffe.

Meine Brote habe ich weggefuttert, und ich bin froh, in der Tanke ein leckeres Baguette zu bekommen. Einen Bounty-Riegel vertilge ich noch , dann fülle ich die Trinkflaschen auf. Perfekter Stopp. Und natürlich wieder an einem Tisch mit den Überholern. BigBand ist auch mittlerweile eingerollt. Die nächste Etappe ist mehr als 100 km lang. Ich fühle mich gut und habe meinen Rhythmus gefunden. Nicht schnell, dafür schmerzfrei und mit genügend Muße, die Landschaft zu genießen. Schwerin grüßt im Westen der riesigen Felder mit seinem erhabenen Kirchturm. Die Radwege sind glatt asphaltiert, Sanfthügelig geht es nach Norden, am See entlang. Wismar wird gestreift.


Matthias ist schon um 19 Uhr in Kühlungsborn eingerollt, kündet WhatsApp. Wenn es gut läuft, sollte ich gegen 21 Uhr an der Ostsee ankommen. In jedem Fall im Hellen und nicht, wie im Jahr zuvor, in finsterer Nacht bei Regen und nassen Straßen. Alles sieht anders aus dieses Jahr, freundlicher, wärmer, einladender.


Gegen 21 Uhr hole ich mir den Kontrollstempel in Kühlungsborn, versorge mich mit zwei Riesenfrikadellen, fülle meine Trinkflaschen auf und beschließe, eine kleine Strandsiesta einzulegen. Ein knapper Kilometer bis zum Bootshafen, und die Ostsee liegt flach da im Licht der untergehenden Sonne. Kaum bin ich am tiefen Sand abgestiegen, tun es mir zwei Kollegen aus dem Schwabenländle gleich. Ran ans Wasser, hoch das Rad.
Granfondo am Strandkorb 143 Ein Schwabe geht ins Wasser
„Er hebt das Rad, wenn er es lupft.“ Übersetzt: Er hält das Rad fest, während er es hochhebt. Den echten Schwaben kann ich so beweisen, dass ich in meinen Jahren im Ländle auch“ebbes“ schwäbisch gelernt habe. Sie goutieren es mit Wohlwollen. Ob ich die nächsten Kilometer mitfahren wolle, fragen sie. Ich lehne dankend ab, weil ich einfach für mich sein will, mit meinen Gedanken, mit mir.
Eine Stunde später sitze ich körperlich und mental aufgeladen wieder auf meinem treuen Granfondo. Jetzt geht es hinein in die Nacht. Überflüssig, zu erwähnen, wer mich wohl wieder einmal überholt in den Landschaftswellen nach Süden hin. Die Rücklichter werden schnell kleiner. Ich bin wieder allein. Aber nicht einsam – dafür sorgen schon die wunderbar trällernden Vögel in den Bäumen und Hecken. Ein totgefahrener großer Dachs mitten auf der Straße gehört auch zur Realität. Der auf dem Hinweg so schön schiebende Südwest wird jetzt zur Spaßbremse. Allerdings schläft er in den nächsten Stunden fast gänzlich ein. Eine Bodeninversion sorgt dafür, dass zwar die Windräder der riesigen Windparks querab Rostock sich noch munter drehen, am Boden ist aber kaum noch Gegenwind wahrnehmbar. Manchmal ist es sogar von Vorteil, später hier vorbeizukommen.

Die Hügel auf den ersten 40 Kilometern Südkurs beißen ganz schön in die Beine. Das Rotlicht der Windräder scheint zum Anfassen nahe, es dauert aber elend lang, bis ich die rote Galerie endlich passiere. Heute Nacht hat offensichtlich ein Filmregisseur die Lichtregie in die Hand genommen. In der sanften Abfahrt von Dreibergen strahlen in gelbem Licht die Mauern der JVA Bützow. Die „Landesstrafanstalt zu Dreibergen“ wurde hier schon im Jahr 1845 errichtet und kann auf eine gar schauerliche Vergangenheit zurückblicken. In der Zeit der Nazidiktatur wurden im sogenannten Apfelkeller hunderte von Todesurteilen vollstreckt. Bis in die heutige Zeit hat die Strafvollzugsanstalt ihren unfeinen Ruf behalten.

Als ich hier vorbeirolle, weiß ich von alldem noch nichts. Ich denke zurück an die harte, kalte Bahnhofstreppe von Bötzow, auf der ich mit Henning und Holger letztes Jahr versuchte, wieder warm zu werden und mich ein wenig zu erholen. Mit mäßigem Erfolg. Heute fühle ich mich noch recht gut, wenn auch die Müdigkeit langsam in die Glieder kriecht. Eine schöne Bushalte mit einer ordentlich breiten Bank, das wäre es, sinniere ich. Ich wünsche mir in den nächsten zwei Stunden mindesten zwanzig Mal diese Komfort-Bushalte, allein sie will nicht kommen. Genau drei Uhr muss es werden, bis ich ein geeignetes Häuschen sichte. Besetzt! Aber wunderbarerweise richtet sich der Vorschläfer gerade auf und macht sich abfahrtbereit. Zitternd! In kurzer Hose und mit dünner Jacke… Es muss ihn überrascht haben, dass es nächtens abkühlt bis in einstellige Temperaturen hinunter. Er hat nur eine Chance: Weiterfahren. Ich packe meinen Biwaksack aus, schlüpfe hinein, mache mich auf der Holzbank lang und liege schon eine Minute später in Morpheus Armen. Genau eine Stunde später, um vier Uhr, wache ich erholt auf, schiebe mir einen Eiweißriegel zwischen die Zähne, trinke ein paar Schlucke obendrauf und sitze wieder auf meinem Granfondo.


Nächste Kontrolle Parchim, knapp 400 km sind geschafft, es ist 5.35 Uhr. Ich schlürfe einen Riesenbecher Kaffee, dazu kaue ich ein Croissant und ein belegtes Baguette. Der Liegeradler, den ich schon bei Bötzow überholt hatte, rollt ein. Richtig gute Laune hat er nicht, dafür machen die beiden polnischen Handwerker, die einen Frühstückskaffee genießen, gute Stimmung, indem sie Beifall geben für so bekloppte Radler, die eine ganze Nacht durchfahren und den harten Sattel einem weichen Hotelbett vorziehen.

Eine Stunde später treffe ich Alex auf seinem famosen Meerglas-Stahl-Randonneur, bei den Berliner Brevets haben wir uns schon einige Male gesehen, auch bei PBP. Wir fahren erst zusammen, dann brauche ich eine Pause, Alex fährt weiter. Dann finden wir wieder zusammen – er hat einen kleinen Umweg gefahren, weil sein Garmin den Geist aufgegeben hat. Zugegeben, ein sehr betagtes Garmin.
Auf dem Weg nach Havelberg ist er auf einmal wieder vor mir. Auch ohne viel reden passen wir unser Tempo aufeinander an. So liebe ich das.

Havelberg, km 479, es ist 11.02 Uhr. Jetzt beginnt der gemütliche Teil der Tour. Hahaha. Gemütlich, im Sinne von langsamer, beschaulicher. Die Beine müssen aber jetzt für eine Geschwindigkeit von 24 km/h genauso arbeiten, wie es sich am Anfang bei 28 km/h anfühlte. Mein Körper sagt mir deutlich, dass er abermals eine Pause braucht. Nachdem in Havelberg ein kerniger, durchtrainierter Kollege vom RSF 80 Petersberg zu uns gestoßen ist, kann ich Alex mit ihm guten Gewissens ziehen lassen und lege mich für ein halbes Stündchen in den Kirchgarten von Scharlibbe.


Kurz vor der Elbbrücke hinüber nach Tangermünde rollt Alex wieder von der Elbseite her auf meinen Track. Der RSF-Kollege musste mal für große Jungs in den Wald, Alex machte mir zuliebe eine kleinen Umweg durch die Elbauen. Und das war gut so.

Bis Wolmirstedt lassen wir es locker angehen. Ankommen in einer ordentlichen Zeit definieren wir als gemeinsames Ziel. Wolmirstedt erreichen wir um 16.32 Uhr. Nur noch 56 km sind es bis Warberg.

Die Kalihalden bei Zielitz, auch Kalimandscharo genannt, grüßen aus der Ferne. Klatschmohn und Kali, eine schöne optische Mischung. In Wolmirstedt lassen wir es uns richtig gut gehen. Ich schlecke gleich zwei Magnum-Eis hintereinander, dazu gönne ich mir eine Cola plus eine Knackwurst. Ein echtes Gourmet-Menü. Nicht von Ernährungswissenschaftlern empfohlen, aber wirksam. Entspannt sehen wir einige Kollegen einrollen, die wir genauso entspannt vor uns wieder ziehen lassen.
Eine Stunde später gehen wir guter Dinge auf die letzte Etappe.

Auf den nächsten Kilometern warten einige Hügel der Börde auf das Hinaufkurbeln: Ammensleben, Rottmersleben, Normersleben, Erxleben, Morsleben…, wir durchfahren das pralle Bördenleben. Jetzt noch den langen Anstieg bei Helmstedt, dann kommt Warberg in Sicht. Wir haben es geschafft, und wir sind geschafft. Hartmut drückt uns die Stempel ins Brevet-Heft. Dann genießen wir zwei Weizenbiere aus der Flasche. Köstlich!




Dank an Hartmut und Martin für die klasse Organisation und die sympathische Gastfreundschaft. Danke Alex für die launige Begleitung.
PBP kann kommen!