Paris – Brest – Paris, Epilog

6320D828-2E6F-4868-A2C8-024DA944486F„Abandon“. Ich lese noch einmal den Stempel vom Vorabend in meinem Brevet-Heft. Eine Kletterrose schaut keck ins Hotelfenster. Die Luft der Bretagne riecht gut. Ein richtiges Frühstück wartet. Kaffee, Rührei und  Baguette schmecken wunderbar. Wie im Urlaub. Gegen 10 Uhr checke ich aus und rolle die wenigen hundert Meter zum Bahnhof von Carhaix.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Auf dem Gehsteig spurten in Bronze gegossene, glorreiche Tour-Helden der Historie um den Sieg. Hätte ich nur die Beine von Louison Bobet gehabt…

Ich bin nicht der Einzige, der hier abgebrochen hat, so viel ist klar. Randonneure aus Indien, Hongkong, Frankreich, USA und England warten auch auf den nächsten Zug.IMG_1011.jpg

Irgendwie tröstlich – gemeinsames Leid trägt sich leichter. Mit Dolmetscher-Hilfe des französischen Kollegen lösen wir ein Ticket für Züge, die auch Räder mitnehmen. Viermal umsteigen bis Paris-Montparnasse. Wir quetschen uns samt Rädern in den Waggon und kommen auf Englisch, Französisch und irgendetwas dazwischen ins Gespräch. Jeder hat seine Geschichte. Umsteigen in Guingamp. Das Örtchen liegt an der Hauptbahnstrecke nach Brest. Als wir den Bahnsteig zum Umsteigen in den Zug nach Rennes wechseln, warten dort schon Randonneure in Reihe. Bahnbedienste haben sich aufgebaut und wedeln mit  Transportsäcken, in denen man sich normalerweise Kies oder Sand aus dem Baumarkt liefern lässt. Wir sollen die Räder demontieren und in die Säcke stecken, sonst wäre es nichts mit der Weiterfahrt. Wir staunen, und der französische Kollege moniert, dass wir doch Züge gebucht hätten, in denen der Radtransport möglich ist. Ein heftiger Disput entwickelt sich, doch die Offiziellen bestehen darauf: Die Räder müssen rein in die Säcke. Der Zug wartet schon, die ersten „Radsäcke“ werden mühsam hineinbugsiert. Der Unsinn dieser Ansage wird spätestens jetzt klar: Ein riesiger Sack baut viel breiter als ein schlankes Rad. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Unter lautem Fluchen würgen wir uns in die Bahn, in der kurioserweise einige Touristenräder samt Packtaschen im Abteil stehen. IMG_1018.jpg

Ich beschließe, dem Unsinn ein Ende zu setzen, und baue mein Rad wieder zusammen, den unseligen Sack stopfe ich unter einen Sitz. Schon haben wir wieder Platz im Durchgang.

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Die meisten nehmen das unnötige Chaos mit Humor. Immerhin sind wir drin im Zug und auf dem Wege nach Paris. Beim nächsten Umsteigen folgen mir weitere Kollegen und bauen ihre Räder wieder zusammen. Wir haben 45 Minuten Wartezeit bis zum Anschluss. Am Bahnsteig sichte ich dann altbekannte  Randonneure aus Berlin: Ralf und Wolf und zwei weitere Kollegen sind auch „Abandon“. Kurzerhand beschließen wir, um die nächste Ecke zu einem Café zu rollen und uns Kaffee zu gönnen. IMG_1034

Gut gelaunte Abbrecher. „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“

Irgendwann gegen 19 Uhr rollen wir im Bahnhof Montparnasse ein. Mit Booking.com finde ich 200 Meter weiter ein kleines IBIS-Hotel, in dem ich sofort einchecken kann. Mein Rad darf ich vertikal in den Aufzug bugsieren und auf das Zimmer in den dritten Stock mitnehmen. Jetzt, nach überstandener Bahn-Odyssee, verspüre ich einen Bärenhunger. Duschen, frisch machen, fein machen. Und ein Restaurant suchen. 50 Meter neben dem Hotel lockt mich ein einladend anmutender Italiener zum Hineingehen. Ein schöner Platz ist frei, die Bedienung ist freundlich, das Essen schmeckt herrlich! Ein halber Liter Rotwein lässt mich in Wohligkeit versinken. Als ich schon bezahlt habe und gehen will, winken mir zwei Kollegen in Radtrikots zu, die auf der anderen Seite der Terrasse sitzen. Ich geselle mich zu ihnen. IMG_1049 Mit Stelio aus Milano und Laurent aus Bordeaux unterhalte ich mich über PBP, das Radfahren und Gott und die Welt, bis im Restaurant die Stühle auf die Tische gestellt werden. Das ist auch in Paris ein untrügliches Zeichen dafür, dass Küche und Bar geschlossen werden. Ein letztes Bier noch bringt uns die freundliche Bedienung. Umarmung, Abschied, gute Wünsche… Schön ist’s, euch kennengelernt zu haben.

Ich sinke in das Hotelbett und bin schon eingeschlafen, bevor mein Kopf das Kissen berührt hat.

Beim Frühstück am Donnerstagmorgen beschließe ich, heute eine gemütliche Stadtrundfahrt zu machen. Nach ursprünglicher Planung wäre ich jetzt auf den letzten Kilometern vor dem Zielstrich in Rambouillet unterwegs. Nun werde ich den ersten Schritt der Mutation vom Randonneur zum Kultur-Randonneur gehen. Notre Dame kommt mir als erstes Objekt vor die Linse. Irgendwie komme ich mir vor wie ein Voyeur, der nur sehen will, wie schlimm die Flammen der Kathedrale vor einigen Wochen zugesetzt haben. OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Ein langer Bauzaun ist um das Gebäude gezogen, von bewaffneten Wachleuten beschützt. Als ob irgendwer hier noch weiter zündeln wollte. OLYMPUS DIGITAL CAMERAIm Innenhof des Louvre, durch den kürzlich noch das Fahrerfeld der Tour gerauscht ist, tummeln sich die Touristen.

Paris ist eine Stadt zum Verlieben. OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Eine fernöstliche Dame lustwandelt beschirmt über die Seinebrücke beim Eiffelturm.

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In den Tuillerien warten Roller und Räder auf gehfaule Nutzer. In Paris sind die Rollerfahrer irgendwie entspannter unterwegs als im hektischen Berlin, aber vielleicht bin ja ich es, der heute besonders entspannt ist.

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Ich kann mich kaum sattsehen und fotografiere, was die Kamera hergibt. Irgendwann drehe ich in Richtung West ab, nach Versailles hin. Sanft den Hügel hinauf, dann bin ich schon auf der Allee vor dem Schloss. Alles ist hier riesig. Sanssouci kommt mir im Vergleich wie eine Spielzeugversion vor. OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Von dieser Seite ist der Zugang geregelt, aber ich weiß, dass es einen Kilometer weiter einen Zugang zum Park gibt.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Ein freundlicher Wärter und Wächter lässt mich hinein und staunen über die kilometerweite Sichtachse. OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Und so sieht Versailles von hinten aus. Dann wende ich den Blick auf den kleinen See mit den Ruderbooten, und eine unbekannte Schöne lässt mich schon wieder den Auslöser drücken.1107E200-C59B-4C5C-96EB-0DAA318AB090

Langsam muss ich mich losreißen – noch 25 Kilometer sind es bis zum IBIS in Coignières, wo mein Reiserucksack mit Rasierzeug und frischer Wäsche wartet, den Michael mir wieder auf mein reserviertes Zimmer hat bringen lassen. IMG_1078

Ein Eis noch genießen, einen Blick noch werfen auf die herrliche Szenerie, dann trete ich wieder in die Kurbeln.

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In der Pizzeria Del Arte, mitten im Industriegebiet von Coignières, speise ich wider Erwarten köstlich und nehme mir zur Feier des Abends noch ein Fläschchen gekühlten Rosé mit als Schlummertrunk.

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Mein Endurace hat einiges erlebt in den letzten Tagen, so wie ich auch. PBP war anstrengend, war schön, mit vielen Begegnungen, mit netten Menschen – Ich muss das jetzt verarbeiten und dann einen schönen Blog-Bericht schreiben…

Paris–Brest–Paris, en route

Nur nicht schon auf den ersten Metern in den Dreck fallen – ich bin froh, als meine J-Gruppe endlich das Parkgelände verlässt und die Landstraße erreicht. Manche machen schon jetzt mächtig Druck und rauschen mit über 30 km/h los. Andere sind dabei, sich zu finden, fingern am Gepäck herum und machen dabei unfeine Schlenker. Schließlich beruhigt sich die Gruppe und findet zu einem auch für mich verträglichen Tempo. Genau um 18.16 Uhr bin ich über die Startlinie gerollt, sehr professionell, wie die Veranstalter es schaffen, entspannt und ohne Hektik, aber trotzdem genau im Zeitplan die Akteure loszuschicken. Die machen das gerne, und sie machen es sehr gut! Mein Tempo finden, meinen Rhythmus – das habe ich mir fest vorgenommen. Aber es ist schwer, und es fällt schwer. So bin ich auch bei meinem dritten PBP etwas zu schnell unterwegs, die Gruppe läuft sehr gut, und ich kann, ohne mich zu plagen, dranbleiben. Angenehme Sache bei dem spürbaren Westwind, der auf dem freien Feld noch deutlicher wird. Da ist der breite Rücken des vor mir fahrenden Mid-Essex-Randonneurs ein schönes, kraftsparendes Schutzschild. Rechts vor mir erkenne ich an den Füßen ohne Socken Wolf aus Berlin. Der ist immer recht zügig und zuverlässig unterwegs. Vielleicht kann ich eine Weile mit ihm mithalten.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Die Sonne taucht die Felder in mildes Abendlicht, die Reifen surren, es wird kaum geredet im Peloton. So darf es weitergehen. Der erste Verpflegungspunkt ist Mortagne bei km 118. Gegen 21 Uhr wird die Sonne hinterm Horizont verschwinden, und die erste Nacht wird beginnen. Schon auf den ersten Kilometern wird aufs Neue klar: PBP ist ein welliger Kurs – ein stetes, immer wiederkehrendes Auf und Ab. Raufkurbeln und hinunterrauschen. Bei eingeschalteten Lichtern markieren die vor mir Fahrenden den Straßenverlauf und die Anstiege in Form einer roten Perlenschnur. In den Abfahrten überhole ich mühelos die vor mir Fahrenden. In den Anstiegen geht es wieder umgekehrt. Eine große Gruppe „Gelbwesten“ bleibt über 50 Kilometer beisammen. Dann, in einer schnellen Abfahrt, spüre ich einen Arm in meiner rechten Seite. Ich halte gegen, komme aber immer weiter auf die Gegenfahrbahn. Verdammt, will mich der Typ vom Rad holen?! In letzter Sekunde kann ich mich lösen und wieder in die sichere Spur finden. Mein Adrenalin ist in Sekunden hochgeschossen, und ich brülle den „Drücker“ an. Er, ein Japaner, entschuldigt sich vielmals. Sekundenschlaf? Einfach unkonzentriert? Ich werde es nicht erfahren. Wichtig ist, ich sitze noch auf dem Rad, und das Adrenalin kommt wieder runter. Durchatmen, es ist nichts passiert.

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Wir fahren hinein in eine Mondnacht, fahles Licht. Grün-, Braun- und Grautöne lösen die satten Farben des Tages ab. Hügel rauf, Hügel runter. Die Beine arbeiten gut. Um kurz nach 23 Uhr erreiche ich Mortagne. Ich liege eine Stunde vor meinem Zeitplan – beruhigend. Es ist kühl geworden, Zeit, die Jacken überzuziehen, die Beinlinge auszupacken und dann dem Körper einen kleinen Imbiss zuzuführen. Ein großer Kaffee, ein Schinkensandwich, dann drängle ich mich wieder raus. Viele machen hier eine ausgiebige Pause oder liegen schon erschöpft auf dem kühlen Boden. P8184604.jpg

Ich fülle meine Trinkflaschen auf und werfe die Powerbar-Mango hinein. Gut für den Mineralienhaushalt, und schmecken tut es auch.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

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“ Warum wurde 1932 die Gangschaltung erfunden? Damit die Hügel von Perche leichter erklommen werden können“

Jetzt weiß ich das endlich auch.

Es dauert ein paar Minuten und ein paar Höhenmeter des nächsten Hügels, bis meine Wohlfühltemperatur wieder erreicht ist. Das Feld zieht sich jetzt weit auseinander, aus der Lichterkette werden Lichtpunkte. 100 Kilometer durch die Nacht und ins Morgengrauen hinein bis zur ersten echten Kontrolle in Villaines Juhel liegen vor mir. Ich fühle mich gut, es kann weitergehen. OLYMPUS DIGITAL CAMERA

2.25 Uhr: Teck Meng aus Singapur hat sich neben seinem Colnago auf dem blanken Stein des Bürgersteigs abgelegt. Die Lichter brennen noch.

Zum Morgengrauen hin sinken die Temperaturen bis in den einstelligen Bereich. Ohne Rettungsdecke oder gar Biwaksack können Liegepausen auf dem ausgekühlten Boden böse Folgen haben. Also entweder rauf auf eine Bank oder rein in eine wärmende Decke. Meine Gedanken scannen noch einmal den Zeitplan ab. Das Tal der Sarthe habe ich gequert, noch 50 Kilometer bis Villaines. Ich erinnere mich an die leckere heiße Suppe, die ich 2015 hier genießen konnte. Vorfreude! OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Endlich, um kurz vor fünf Uhr, das Leuchtfahrrad am Stadtrand von Villaines la Juhel! Die Ortsdurchfahrt ist schmal und vollgestellt mit Absperrgittern und langen Stangen, zum Dranhängen der Räder. Gedränge. Rad abstellen, Treppe rauf zur Kontrolle, Trinkflaschen wieder füllen. Die Suppe gab es doch vor vier Jahren auf der anderen Straßenseite?! Dieses mal aber leider nicht. Nur nicht anfangen, auszukühlen, sage ich mir. In Bewegung bleiben. Zur Not tut es jetzt auch ein dicker Eiweißriegel aus meinem Proviant.

Die Blautöne des Morgengrauens werden zum zarten Rot des nahenden Sonnenaufganges. Nebelschwaden liegen im Bachgrund. Der wunderbar würzige, weiche Pié-d’Angloys-Käse kommt genau aus dieser Region. Ich träume von  einem  Frühstück mit frischem Baguette und Käse und Kaffee. Der nächste Kontrollpunkt ist die alte Festungsstadt Fougères in der Bretagne bei Kilometer 306. Mindestens vier Stunden noch im Sattel aushalten, dann winkt um die Mittagszeit eine ordentliche Mahlzeit. In Le Ribay, wo der Track die N12 kreuzt, haben Fans eine riesige Skulptur aus Fahrrädern, Flaggen und Lampen aufgebaut:

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Ich versuche, auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Kaffee zu ergattern, aber die Warteschlange vor dem Stand lässt mich wieder auf den Kurs abdrehen. Drei Datteln und ein großer Schluck aus der Pulle müssen auch reichen für die nächsten Kilometer. Reicht aber nicht! 30 Kilometer weiter, auf halbem Wege nach Fougères, bekomme ich weiche Knie und rolle in eine Einfahrt zu einem Bauernhof hinein. Kein Mensch ist hier zu sehen, nur zwei zufrieden kauende  Rinder stehen im Garten. fullsizeoutput_50dd

30 Minuten Ruhe und Flachliegen  gönne ich Körper und Seele. Gerade noch rechtzeitig nach 15 Stunden. In Fougères fahre ich um 11.15 Uhr über die Zeitmess-Schwelle. Wasser ins Gesicht, Hände waschen, Zähne putzen, Toilettengang. Dann widme ich mich der Speisekarte:IMG_0970.jpg

Ich wähle Omelette Nature mit Kartoffeln, dazu Cocktail de Fruits, ein halber Liter Apfelschorle ergänzt das Menü. Rundum satt und zufrieden verlasse ich nach 20 Minuten die gastliche Stätte und schlage mein Lager unter den schattigen Bäumen vor der Halle auf. Kaum liege ich flach, kommt Otmar aus Potsdam um die Ecke. Welch freudige Begegnung! Ich erinnere mich immer noch gern daran, wie er mir bei einer Abschlussveranstaltung generös zwei sehr gut erhaltene Campa-Record-Kettenblätter schenkte, die in seinem Keller nach eigenen Aussagen sonst verstaubt wären. Hab Dank, Otmar. Hier in Fougères wartet er auf den Kollegen aus Potsdam, der das erste Mal bei PBP dabei ist und den er begleitet und betreut.

Erst um kurz vor 13 Uhr sitze ich wieder auf meinem Endurace. Schon 54 km weiter wartet Tinteniac, das ich um 15.15 Uhr erreiche. 20 Minuten später kurbele ich weiter, die Trinkflaschen sind aufgefüllt, ich fühle mich gut. Jetzt kommt nach den vielen Geländewellen der erste längere Anstieg zum Sendemast bei Bécherel, einem kleinen Ort mit 660 Einwohnern, aber 15 Büchereien! Ich fahre trotzdem ohne anzuhalten durch das charmante Dörfchen und genieße die herrlich glatte und leicht abfallende Straße.

In Le Parson haben die Anwohner traditionsgemäß wieder einen Verpflegungsstand aufgebaut. Kaffee trinken, Trinkflasche füllen, Gebäck knabbern.

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Wo wäre ich wohl geblieben, wenn hier wirklich Champagner aus der Flasche strömen würde?!

Die Sonne sinkt langsam hinunter auf den Horizont. Um 19.30 lege ich mich in Ménéac für 20 Minuten unter riesigen Stieleichen und einem historischen Kreuz auf eine schattige Bank. Die Randonneure ziehen vorbei, derweil ich die müden Beine hochlege. IMG_0980.jpg

Zwei Stunden später erreiche ich Loudéac, km 445. Die Sonne geht zum zweiten Mal unter. fullsizeoutput_50e7

21.30 Uhr, bei Kontrolle Nr. 4 bin ich 30 Minuten hinter meinem Zeitplan. Stempel holen und zügig weiterfahren, heißt das. Es geht hinein in die zweite Nacht. Als ich meine Nachtbekleidung anziehe, die Beinlinge überstreife, sehe ich Claus, den alten Recken, auf einer Bank sitzen. Auch er macht sich nachtfertig.72AC05B6-0B1B-4AF4-BDF5-981F371697D5.jpg

Claus aus Hamburg ist der Gründervater der deutschen Randonneursbewegung. Er hat schon PBP absolviert, als ich noch nicht an Langstreckenfahren dachte. Und ein paar Jahre älter als ich ist er auch. RESPEKT! Gemeinsam rollen wir aus dem Ort hinaus, in der Hoffnung, ein kleines Restaurant zu finden, in dem wir ohne Warteschlange eine Kleinigkeit zu uns nehmen können. Kurzum, eine Warteschlange gibt es in dem Gasthof nicht, allerdings sind die Tagliatelle, die draußen beworben werden, nicht mehr zu haben. Schließlich müssen wir uns mit einer Portion Pommes zufriedengeben. Bei Claus rumort der Magen, er reagiert empfindlich auf die Kühle der einbrechenden Nacht. So machen wir ein paar Minuten länger als geplant Pause und verlassen dann die wenig gastliche Stätte. Claus will in St. Nicolas-de-Pelem eine Schlafpause einlegen. Dieser Planung schließe ich mich gerne an, schon auf halbem Wege nach Carhaix ist das ideal, um ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Zuerst rausche ich recht schnell in eine kleine Abfahrt hinein – meine E3 Pro plus Lupine Piko machen die Nachtfahrt zum Genuss – dann verliere ich Claus aus den Augen. Ich meine, dass er mich in einer der folgenden Rampen wieder überholt, bin mir aber nicht sicher. Um 01.40 Uhr rolle ich in St. Nicolas aus. Hier haben die Organisatoren eine „Controle surprise“ eingebaut, wie der Kollege, der mir den Stempel in mein Brevet-Heft drückt, verschmitzt bemerkt. Dann gehe ich hinüber zur Halle, wo die Schlafliegen aufgebaut sind, und sage an, dass ich zwei Stunden schlafen will.

Schon nach gut einer Stunde werde ich geweckt. Grrrr! Die Kollegen haben wohl die falsche Zeit notiert gehabt. Was soll es, denke ich und mache mich wieder fahrfertig. Carhaix bei km 521 ist die nächste Kontrolle. Ich werde spürbar langsamer, und die Rampen kommen mir immer steiler vor. Wer hat diese fiesen Hügel hier aufgeschüttet, die waren doch vorher nicht hier. Endlich, um 5.30 Uhr, erreiche ich Carhaix. 15 Minuten später bin ich schon wieder unterwegs. Die Morgendämmerung und die aufgehende Sonne verleihen neue Kräfte. Dann kommt ein echter „magic moment“, als ich in Huelgoat beschließe, auf den Marktplatz des Örtchens zu fahren. Ein kleines Hotel hat die Pforte geöffnet, und ich bekomme einen ultrastarken Espresso und dann ein herrliches Croissant. Meine Morgentoilette kann ich hier auch komfortabel erledigen. P8204665.JPG

So gestärkt steige ich eine halbe Stunde später wieder aufs Rad und kann mich geradezu freuen auf den Anstieg zum Roc’h Trévezel, den mit 384 m höchsten Punkt von PBP. Hört sich nicht gerade gewaltig an, beißt aber ordentlich in die Waden, wenn man schon gefühlt 100 Wellen der Bretagne abgeritten hat.

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Drunten im Tal wallt der Nebel. IMG_0984

Begleitfahrzeuge haben Aufstellung genommen, versorgen die eigenen aber auch die „fremden“ Fahrer. IMG_0991.jpg

Ein Franzose mit aufgepflanztem Eiffelturm und Tricolore zieht vorbei. Ein paar hundert Meter weiter geht es endlich hinunter in Richtung Brest.IMG_0992.jpg

Nicht zu früh freuen, das habe ich in den vergangenen Jahren gelernt, als ich dachte, ich sei schon fast in Brest. Einige üble kurze und lange Rampen warten noch, bis die legendäre Brücke erreicht ist.IMG_1001

Zugegeben, ich habe auch schon mal frischer ausgesehen.

Mit dem Glockenschlag um 12 Uhr überfahre ich die Zeitnahme in Brest und halte mich an der untypisch gar nicht so gastlichen Kontrollstelle, die Halbzeit und Umkehrpunkt von PBP ist, nicht lange auf. Ich ziehe eine schöne Boulangerie auf dem nächsten Hügel vor, die leckere Baguette und guten Kaffee zu bieten hat.

Schon geht es wieder rauf auf den Roc, an dem sich heute einige Gleitschirmflieger in Hangwind und Thermik tummeln. Knapp 100 Kilometer weiter, wieder in Carhaix, wartet die nächste Kontrolle auf dem Rückweg. Eigentlich sollte das Rückenwind geben und  Motivation. Stattdessen werde ich immer langsamer. Gefühlt sind alle anderen schneller als ich. Was ist los mit dir, frage ich in mich hinein. Und finde keine Antwort. Als wenn mir eine unbekannte Hand den Stecker gezogen hätte. Weiterfahren, sagt mir der Kopf. Ins Gras legen, sagen die Beine! 30 Kilometer vor erreichen von Carhaix lege ich mich dann wirklich ins Gras und schlafe eine Stunde lang. Und wache auf, ohne mich erholt zu fühlen. Ist es das Alter? Ist es der Schlafmangel? Kann ich nicht mehr schnell genug regenerieren? Vielleicht ist es eine Mischung von allem. Ich erwische mich dabei, im iPhone und Booking.com nach einem Hotel in der Nähe zu suchen. Jetzt fehlt jemand, der mich in den Allerwertesten tritt. Oder ist es vielleicht genau das Richtige, hier und jetzt aufzuhören?! Der innere Kampf dauert nicht lange. Der Schweinehund trägt den Sieg davon. In Carhaix angekommen, gehe ich zu den netten Herren in der Kontrolle und gebe meine Aufgabe bekannt. „Abandon“ trägt der Grauhaarige um 20.55 Uhr in mein Brevetheft ein. Ich bin nicht traurig, ich fühle mich eher erleichtert, dass ich diese Entscheidung getroffen habe. Ohne echte Not, ohne Schmerz. Aber trotzdem.

Mit meiner Frau habe ich im Vorfeld des Entschlusses telefoniert. Sie ist erleichtert. Sie bestärkt mich darin, genau hier den Punkt zu setzen. IMG_1006.jpg

Dann kurbele ich geradezu leichtfüßig in das Hotel Noz Vad. Das Bier schmeckt wunderbar, die Dusche ist wohltuend, das Bett fühlt sich an wie das Paradies.

Morgen werde ich ausgiebig frühstücken und schauen, wann ein Zug in Richtung Paris fährt. Aber davon im „Epilog“ mehr.

 

Paris–Brest–Paris, Prolog

Willst du das unbedingt noch einmal machen? Fahren durch die Nächte, schwitzen, frieren, bis zur Erschöpfung und dann wieder von vorn … Das werde ich gefragt, das frage ich mich selbst zu Beginn dieses Jahres. Dann kommen die Quali-Brevets: 200, 300, 400, 600 km. Läuft! Schöne Kilometer mit viel Brandenburg, Meck-Pomm und Ostseestrand. Mit Freunden, netten Menschen in herrlicher Natur. Warum also nicht auch noch das Sahnehäubchen obendrauf: Paris–Brest–Paris! Ja, ich will es noch einmal, als Oldie, im 70sten Lebensjahr. Noch einmal die ganz besondere Atmosphäre dieser grandiosen Veranstaltung erleben. Dabei sein!

Immer, wenn ich mit meinem Alter kokettiere, weiß der Leser, dass es dann wohl doch nicht ganz so locker laufen sollte wie erhofft. Und so kommt es dann auch.

Aber von vorn: Welches Rad nehme ich dieses Mal? Das Titan-Granfondo oder doch das Canyon Endurace, das mich schon so zuverlässig und leichtfüßig bei der Dutch–Capitals–Tour über 1425 Kilometer getragen hat. Als ich auch nach Einziehen eines neuen Schaltzuges beim Granfondo die Ultegra nicht richtig exakt eingestellt bekomme – manchmal muss ich leicht nachjustieren beim Schaltvorgang, egal wie ich auch die Zugspannung einstelle – , fällt die Entscheidung zugunsten des Endurace mit seiner feinen Chorus-11-fach, die seit Jahren überaus zuverlässig und exakt schaltet. Die Campa-Bremsen greifen auch härter zu als die Cane-Creek beim Granfondo. Und gut 1 kg leichter ist das Endurace auch. Also baue ich meine Elektronik samt Nabendynamo und E3 Pro und Rücklicht wieder ans Canyon. Übung macht den Meister. fullsizeoutput_50dd

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Never change a winning configuration …

Am 16. August sitze ich samt Radkoffer im ICE von Berlin über Stuttgart nach Paris. Das 1. Klasse-Sparticket für 69 € sorgt für einen bequemen Sitzplatz. Der Bike-Bag lehnt sicher an der Waggonwand, und ich habe ihn sogar im Blick. Entspannung macht sich breit. „Et rollt“. Um 5 Uhr in der Frühe steige ich in Stuttgart aus – zwei Stunden Umsteigezeit sind totzuschlagen. Erst um 7 Uhr startet der TGV nach Paris. Und das Warten im „Umbaubahnhof“ Stuttgart erlebe ich als absolute Zumutung für Fahrgäste. Das ursprüngliche Angebot an Gastlichkeit im alten Bahnhofsgebäude existiert nur noch als leere Hülle, die neuen Läden sind noch nicht in Betrieb. Der Fahrgast steht einfach nur staunend in diesem Katastrophenbahnhof. Und das im „Ländle“ der so perfekten Schwaben. IMG_0842

Stuttgart – Bahnhofshülle ohne Inhalt

Nach langen zwei Stunden hin- und herlaufen, sitzen und staunen, kann ich endlich meinen gemütlichen Platz im TGV genießen. Und Kaffee gibt es auch einen Waggon weiter. Um 10 Uhr rollt der Zug pünktlich im Gare de l’Est ein. Ich laufe 150 Meter bis zu meinem vorgebuchten „Bagdrop“, einem Fotoladen, der sich ein paar Euro mit dem Aufbewahren von Touristengepäck verdient. Nach einer Viertelstunde habe ich mein Rad zusammengebaut und fahre 8 Kilometer durch Paris zum Gare Montparnasse, in dem die Vorstadtzüge starten. Schon eine Stunde später checke ich im Billig-Hotel IBIS-Budget in Coignières ein. Alles automatisch, per Code – Wegfall Personal! Das Zimmer ist winzig, aber das Rad passt noch vor das Bett. Bis 18 Uhr habe ich Zeit, zur Radkontrolle und zum Abholen der Startunterlagen in der Bergerie von Rambouillet zu fahren, dem diesjährigen Startort der letzten Etappe der Tour de France. Welche Ehre. Aber schließlich ist PBP älter als die Tour und deren legitimierter Vorgänger.

Der Himmel ist grau, es regnet leicht, der Wind bläst fies aus westlicher Richtung. Ich warte bis 14 Uhr und fahre los nach Rambouillet. 17 Kilometer, teilweise an der N 10 entlang, auf  einem Radweg, der einigen Unrat und auch Scherben zu bieten hat. Pünktlich zum Einrollen in den Park hört es auf zu regnen. Dafür sind die Parkwege vermatscht und fordern die Fahrtechnik. IMG_0899

 

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Radkontrolle und Übernahme der Startunterlagen sind perfekt organisiert, und so tun  die eingesauten Räder der guten Stimmung keinen Abbruch.IMG_0893 IMG_0874

Um 17 Uhr wollen sich die deutschen Randonneure an der anderen Ecke des Parks treffen zum Fototermin. Als ich mit meinen Unterlagen aus der Bergerie komme, ist es schon fast halb sechs. Die Reden sind gehalten, die offiziellen Bilder gemacht, Randonneure und Räder liegen und stehen noch auf der regenfeuchten Wiese. Alte Bekannte, viele neue Gesichter – das tut gut und beruhigt.

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Claus nimmt einen Novizen unter seine Fittiche

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Reden über vergangene Abenteuer, über Material, über die Stimmung hier, über Freunde, die nicht mehr dabei sein können … Und dann mache ich mich wieder auf den Weg nach Coignières. Mit Papiertüchern mache ich das Endurace zimmerfertig, checke wieder ein und suche mit mäßigem Erfolg in der Nähe eine gastliche Stätte, wo ich mich für den nächsten Tag stärken kann. Mein Aktionsradius ist durch den wieder einsetzenden Regen eingeschränkt. In einem McDonald’s-ähnlichen Schnellfress-Lokal werde ich dann zumindest satt. Um 22 Uhr liege ich im Bett und lasse meine Gedanken zu Strategie und Taktik und Zeitplan und und … kreisen. Irgendwann schlummere ich ein.

Beim Petit déjeuner, das wirklich „petit“ ist, lerne ich Michael und seine Frau kennen, die so freundlich sind, meinen Gepäck-Rucksack über die Tage bis zur Rückkehr aufzubewahren. Das wunderbare Hotel sieht sich nicht in der Lage, dies zu tun. Als die Regenfront gegen 13 Uhr endlich durchgezogen ist, rolle ich los gen Rambouillet. Die ersten Sonnenstrahlen brechen sich Bahn, und bei der Einfahrt in den Park blicke ich in jede Menge gut gelaunt dreinschauende Gesichter. P8184483-1.jpg

Sina, die zu den ganz schnellen deutschen Frauen zählt, unterhält sich bestens mit einem der Veranstalter.

Die meisten Starter haben sich schon um die Mittagszeit eingefunden. Etwas ruhen, etwas essen, rumschauen, Bekannte wiedersehen. Das ist das Vorbereitungsprogramm für den Start.

 

Alex Singer weiß, wie man treffliche Randonneur-Maschinen klassischer Art baut.

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Diese beiden begeisterten jungen Männer stehen beispielhaft für mehr als 2500 Volunteers, die dafür sorgen, dass PBP reibungslos verläuft. Beim Hineingehen in den Innenhof kommt mir  Gerhard entgegen, der sich gerade ein riesiges Bratwurst-Sandwich einverleibt. Draußen am See nehmen die Schweizer Randonneure Aufstellung zum Gruppenfoto:IMG_0950

Ein Kollege aus Japan meditiert mit Blick auf die herrlichen Schwäne.IMG_0945

Und am Eingang zur Bergerie treffe ich William aus Irland, mit dem ich 200 Kilometer der Dutch Capitals Tour Seite an Seite gefahren bin. Die Welt ist klein! OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Auffallend ist, dass Inder, Chinesen und auch Japaner wesentlich stärker vertreten sind als bisher. Die Langstrecken-Begeisterung verbreitet sich offensichtlich zunehmend in den asiatischen Raum. Besonders die Chinesen scheinen allerdings den Begriff „unsupported“ nicht so ganz ernst zu nehmen. Die Kollegen gehen mit Rädern in reiner Race-Konfiguration ohne jedes „überflüssige“ Gepäck an den Start.P8184502.jpg

Die chinesische Art: Trinkflasche, Werkzeug  und sonst gar nichts! Wo ist die Beleuchtung, die bei der Radabnahme kontrolliert wurde??? Jedem das Seine.

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Hier der historische Gegenentwurf aus Frankreich mit Hemd und Fliege und Eiffelturm am Lenker.

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Aus Malaysia geht ein Randonneur mit diesem Fatbike an den Start. Um es vorab aufzulösen: Mr. Cinchotikorn kam noch nicht einmal bis zum ersten Kontrollpunkt.

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Die Fahrer der Begleitmotorräder machen sich schon bereit, bald geht es los mit PBP 2019. Es fängt an zu kribbeln im Bauch. Ich gehe wieder an mein Endurace und schaue nach, ob auch wirklich alles korrekt montiert ist und fest am Rad sitzt. Die Riegel in der Tasche, die Datteln, die Powerbar-Tabletten, Langfinger-Handschuhe für die Nacht, alles ist da, es kann losgehen. Gegen 17 Uhr rolle ich in Richtung Startaufstellung. Mein Start wird um 18.15 Uhr sein.

 

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Der Startbogen rückt näher, die Uhr tickt herunter, Matthias und Stefanie sind zum Start gekommen und wünschen mir „bonne route“. Matthias startet erst am nächsten Morgen in der 84-Std.-Gruppe. P8184548.jpg

Soon Giap aus Thailand hat sich einen Propeller auf den Helm geschnallt und wünscht „happy new year“. Schräger geht es nicht.

Exakt um 18.15 Uhr kurbele ich über die Startlinie. Es geht los. Das Abenteuer hat begonnen.