Der Altweibersommer mit milden Lüften ist herrlich geeignet für Altherren-Randonneur-Ausfahrten. Ein Hochdruckgebiet, das sich nur ganz langsam in Richtung Polen verlagert, sollte ein paar Tage für gut fahrbares Wetter sorgen. Schnell entscheiden, schnell planen, bald losfahren… Am 22. Oktober wollen wir auf eine kleine Etappentour gehen. Also stricke ich einen Track an der Aller entlang und dann an die Weser – aufwärts bis nach Münden. Der IC soll uns zum Sparpreis von 25 € samt Rädern bis nach Wolfsburg bringen. Gesagt, getan! Am Dienstagmorgen sitzen wir um 08.51 Uhr in Spandau im Zug. Los geht unser kleines Abenteuer. Eins mit kleinen Hindernissen: Ein Waggon braucht eine „technische Prüfung“, die Lokführerin steigt in Stendal aus und begibt sich mit einer Taschenlampe bewaffnet zu einem verdächtigen Fahrwerk. Läuft hin und wieder zurück und wieder hin … Dann entschließt sie sich, die Fahrt fortzusetzen, zumindest bis Wolfsburg. Wo erfreulicherweise der Startpunkt unserer Tour ist. Der Zug bleibt derweil stehen für eine weitergehende technische Überprüfung. Wir sitzen ein paar Minuten später auf unseren Granfondi und rollen los. Glück gehabt.
Volkswagen hat seit dem 11.9. ein neues Logo, das flach und groß auch auf dem historischen Heizkraftwerk prangt. Der Marketingchef von VW hatte schon Ende August stolz verkündet: „Wir glauben, wir haben eine Ikone geschaffen“… Dicker geht es nicht! Halt Marketing-Sprech. Dem Heizkraftwerk und wahrscheinlich den meisten VW-Werkern wird das ziemlich am A… vorbeigehen.
Am Kanal, kilometerweit an den alten Werksanlagen entlang kurbeln wir uns ein. Der Track knickt ab in Richtung Gifhorn und Fallersleben. Nach der Industriekultur jetzt hinein in die humanistische, in die literarische Kultur: Hier schuf Hoffmann von Fallersleben das Lied der Deutschen. „Einigkeit und Recht und Freiheit“… Dafür und für seine „unpolitische“ Art zu dichten wurde er 1842, schon hoch dekoriert, seiner Professur pensionslos enthoben, sogar seine preußische Staatsbürgerschaft wird ihm in der Folge entzogen. Er hat es verkraftet. Nach langen Jahren des Herumirrens in den deutschen Kleinstaaten wurde er schließlich rehabilitiert, war im Kloster Corvey Schlossbibliothekar und ist dort im Alter von 74 Jahren gestorben.
Auf Gravel- und leicht verschlammten Waldwegen führt uns der Weg an der Aller entlang in Richtung Celle. Bei Schwachhausen erreichen wir wieder die glatt geteerte Landstraße nach Wienhausen und machen eine kurze Rast vorm gleichnamigen Kloster. Die riesige, sorgfältig restaurierte Anlage wird von derzeit zwölf Konventualinnen und der Äbtissin bewohnt und bewirtschaftet. Die Frauen hätten viel Platz für mehr Frauen, geht mir durch den Sinn. Aber wir sind hier schließlich nicht in Berlin mit seiner grassierenden Wohnungsnot.
Die Sonne hat sich gegen Mittag durch die Nebel gearbeitet und lacht uns ins Gesicht. Celle ist nicht mehr weit. An der B 214 entlang arbeiten wir uns gegen den spürbaren Westwind vor über Altencelle, vorbei an Autohändlern, Metallbauern, Nettomärkten und Tankstellen hin zum Altstadtkern der historischen Stadt. Endlich sehen wir Fachwerk anstelle von Beton.

Mit über 500 Fachwerkhäusern besitzt Celle das größte geschlossene derartige Ensemble Europas. Wir kurven auch die Gassen und sehen uns satt an der wunderbaren Bausubstanz. Dann kehren wir in eine Eisdiele ein und können uns an köstlichen Waffeln mit Erdbeeren und Sahne laben. Ich schwärme Peter noch vom Barockschloss und den Parkanlagen vor. Genau dorthin führe ich ihn und hin zum Hengst Wohlklang, den ich schon vor drei Jahren bewundert habe.

Nach einigen Schleifen durch die sehr sehenswerte Altstadt kurven wir durch den Schlosspark nach Westen und dann aus der Stadt hinaus. Ich erinnere mich an die alten Zeiten beim Daimler, als wir 1989 den R 129 Roadster auf dem Contidrom, ganz in der Nähe, getestet und vorgestellt haben, Erinnerungen an die Ackerlandung bei Buchholz nach meinem ersten Segelflug über 200 Kilometer werden wach. Mehr als 50 Jahre liegt das nun zurück. Ein klein wenig Wehmut beschleicht mich. Zeit, den Blick wieder nach vorn zu richten.
Das in leichtem Größenwahn beworbene Angebot für „American-Food Lovers“ samt Freiheitsstatue ignorieren wir verächtlich. Noch sorgen die Waffeln und die Erdbeeren und die Sahne als Energiespender für flottes Kurbeln. Um 16 Uhr schauen wir mal rein in Booking.com, mahne ich. In Nienburg an der Weser wollen wir heute übernachten. Es ist Dienstag, wir sind nicht gerade im touristischen Zentrum deutschen Landes unterwegs. Aber in und um Nienburg herum sind alle attraktiven Hotels und Pensionen ausgebucht. Auch die von mir favorisierte Weserkate in der Altstadt ist belegt. Erst am Steinhuder Meer finden wir freie Zimmer im Strand-Hotel Weisser Berg. Bis dort dürfen wir noch 32 Kilometer gegen den spürbaren Südwest auf die Pedale drücken. Die Dunkelheit senkt sich über die Heide. Endlich können wir unsere Festbeleuchtung wirksam in Szene setzen. Die Autofahrer blenden schon 200 Meter vor uns ab. Gutes Licht nützt, gutes Licht schützt! Über geschätzt 100 kleine Wellen auf dem Radweg arbeiten wir uns zum Strandhotel vor. Das überrascht uns mit Karibikflair. Sitzgelegenheiten draußen, offene Bar… Wo sind wir hier gelandet? Alles wird gut, meint Peter optimistisch und geht schon mal hinein in den Restaurantraum, in dem schon das Kaminfeuer flackert. Der Empfang ist überaus freundlich, unsere Räder finden ein sicheres Plätzchen unter der Treppe zum Obergeschoss, in dem wir zwei große Zimmer beziehen.
Nach dem Genuss von wohlschmeckenden, riesigen Currywürsten nebst üppigen Frittenportionen sind die Energiespeicher wieder gefüllt. Zwar nicht unseren Ernährungsgewohnheiten und Grundsätzen folgend, aber sehr wirksam. Vor dem wärmenden Kamin leeren wir noch eine Flasche Grauburgunder und unterhalten uns über alte und neue Zeiten. Bis das Feuer heruntergebrannt ist und die nette Bedienung das Licht ausschaltet.
Das Frühstück um 8 Uhr ist reichhaltig und köstlich, der Morgennebel lichtet sich, als wir die Räder gegen 9 Uhr über die Düne an den „Meeresstrand“ schieben. Was für ein Blick!
Auf der Südseite des „Meeres“ zeichnet sich die Halde des Kaliwerkes Sigmundshall bei Wunstorf wie ein Tafelberg im Dunst ab. Lange stehen wir und staunen und machen Fotos. Ein echter Magic Moment unser kleinen Reise. Der Radweg führt am Nordrand des Sees nach Westen. Über Rehburg und den Klosterort Loccum nähern wir uns der Weser.
Beim Passieren des riesigen Steinkohlekraftwerkes bei Petershagen, das mit 865 Megawatt für die Energieversorgung Ostwestfalens sorgt, aber leider auch einer der bedeutendsten CO2- Emittenten ist, lassen wir die Kamera unbenutzt. Die Schweine, die auf einer großen Wiesen-und Lehmfläche genüsslich wühlen, gefallen mir besser. Alte und neue Welt stehen am Hang in Form des Mastes für die Überlandleitung und der Windmühle gegenüber.
Von der Stadt Minden taucht als Erstes die Silhouette der historischen Schachtschleuse auf. Daneben wurde 2017 die neue Weserschleuse in Betrieb genommen, die mit 139 m Troglänge auch Großmotorschiffe aufnehmen kann und den Übergang von Weser zum Mittellandkanal ermöglicht.
Wie es uns als selbsternannte Kultur-Randonneure zukommt, erkunden wir auch die Altstadt von Minden und kurven durch die Gassen. Unschwer zu erkennen ist: Nicht alles glänzt. Aber die Mischung von Fachwerk, Barock und Backsteingotik, den Patrizierhäusern mit reich verzierten Fronten und Giebeln und das wahrscheinlich älteste Steinhaus Westfalens, die „Alte Münze“, erweist sich der ehemaligen Hansestadt würdig. Durch eine schmale Gasse schieben wir unsere Granfondi hinunter in Richtung Weser. Wieder auf dem Radweg, müssen wir erst einmal die müden Beine wieder in Schwung bringen. Sonne, sattgrüne Wiesen und glatter Asphalt sorgen schnell für gute Laune und Kurbel-Lust. Durch die Porta Westfalica werden wir eingelassen in unsere alte Heimat. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal thront oben herrschaftlich am Hang.
Ich kann Peter nicht überreden, den steilen Weg zum Denkmal hinaufzukraxeln. Insgeheim bin ich ganz froh, dass wir weiter auf dem Radweg in Richtung Hameln gleiten. Jeder Ort, den wir passieren, betreibt an der Weser einen Campingplatz – überhaupt erscheint der Weserstrand kilometerlang wie eine Anreihung von Wohnmobilen und Wohnwagen. Vlotho, Rinteln – die Weser macht hier einen großen Bogen nach Osten und der auffrischende Wind bringt zwar Sonne satt und würzige Luft, klaut uns aber mindestens 4 km/h an Geschwindigkeit.
Auf dem Marktplatz in Rinteln sind wir versucht, die Räder gegen eine Draisine einzutauschen. Nach einer eingehenden technischen Begutachtung der Mechanik nehmen wir Abstand von diesem Vorhaben.
Allerliebst: ein architektonisches Kleinod mit zerrissener US- und angefressener Deutschlandflagge. Über Geschmack sollte man bekanntlich nicht streiten.
Die Weserversion der Route 66. Auf wassergebundener Decke ostwärts, immer geradeaus. Irgendwann muss doch diese berühmte Rattenfängerstadt kommen, die Stadt, in der die Ratte als Symbol an jeder Ecke auftaucht.
„Wo die Weser sich durch wohlige Hügel schlängelt und sich liebreizende Märchen wie Perlen an einer Kette entlang ihres Ufers reihen, da trug sich im Jahre 1284 ein erschütterndes Ereignis zu. Eine Geschichte um Betrug und Rache, deren Ende fast unerträglich scheint.“
So kann ich es auf der Hameln-Homepage lesen. Wer die wahre Geschichte lesen will, der klicke hier: Die Rattenfänger-Sage
Die Stadt empfängt uns mit einer goldenen Riesenratte auf dem Brückenbogen. Rattenscharf!
Auf dem Weg in die Altstadt Ratten auf dem Pflaster, Ratten an den Wänden, Rattenfänger-Haus, Rattenfänger-Krug. Die Ratte ist Symbol und Marketing-Ikone zugleich. Als wir beim Frühstück in der „Altstadtwiege“ sogar das gekochte Ei in einer Rattenhülle serviert bekommen, läuft langsam mein Rattenspeicher über.
Der Abend, der Abendspaziergang und das Wildschweingulasch im (nein, kein Rattengulasch) Rattenfänger-Haus tun Körper und Seele gut. Vor allem das Fläschchen Scheurebe aus der Pfalz, das wir im „Barrique“-Laden erstehen, mundet wunderbar und sorgt für absolut rattenfreie Träume.
Bis auf die Ratte ist das Frühstück in der Altstadtwiege von bester Qualität. So können wir die nächste Etappe über Höxter nach Bad Karlshafen starten.
Davon im nächsten Beitrag mehr.