Wes das Herz voll ist, läuft der Mund über

In Kraatz, kurz vor Erreichen von Gransee, entdecke ich die ersten beiden Störche, die nach Brandenburg zurückgekehrt sind. Gut, vielleicht gibt es noch ein paar weitere Paare. Für mich aber sind es die ersten. Stolz stehen sie im gut gebauten Nest und schauen auf mich hinunter. Dann breitet Herr oder Frau Storch die herrlichen Schwingen und setzt an zu einem kleinen Rundflug um das Dorf.

Nur um diese beiden majestätischen Vögel in Aktion zu erleben, hätte sich schon die Anreise von 50 Kilometern gelohnt. Corona hin, Corona her, mir wird klar, dass es auch andere Lebewesen auf diesem Planeten gibt, die Achtsamkeit und Zuwendung und Schutz bedürfen. Und Störche gibt es wahrscheinlich seit dem Oligozän, also schon mindestens seit 20 Millionen Jahren. Danach hat sich Mutter Erde für das Erscheinen des Menschen noch ca. 19 Millionen Jahre Zeit gelassen. So lange wie die Störche wird die Gattung Mensch es höchstwahrscheinlich auf diesem Planeten nicht aushalten. Dafür wird der Mensch schon sorgen! Nach diesen naturphilosophischen Betrachtungen richte ich meinen Blick wieder nach Westen. Noch kann ich den spürbaren Ostwind als Unterstützer genießen.

Losgefahren bin ich gegen 10 Uhr und dann über Summt und Lehnitz an der Kanalschleuse auf den wunderbaren Radweg eingebogen. In Malz, einem typischen brandenburgischen Reihendorf, entdecke ich am nördlichen Ortsende, am Übergang in die Schmachtenhagener Wiesen, diesen liebevoll gemachten Osterkitsch.

Ich fahre auf einem Abschnitt des Königin-Luise-Radweges, der über Liebenberg und Meseberg nach Gransee führt. Herrlich, bei kühlendem Ostwind und strahlend blauem Himmel! Und allein auf weiter Flur, nur begleitet vom munteren Zwitschern der Vögel und unter den gelangweilten Blicken von Pferden und Rindern. Bei Hertefeld hängt ein mattlila-farbenes Schild an der Lehne einer einsamen Ruhebank.

„M.Schnur, stellv. Bürgermeisterin“ von Liebenwalde hat die öffentliche Bekanntmachung unterzeichnet. Das Betreten öffentlicher Orte ist bis zum 5. April untersagt. Dazu gehören öffentliche Wege Straßen, Plätze …

Darf ich auf dieser Bank jetzt nicht sitzen, darf ich diesen Weg nicht betreten??? DOCH! Denn Frau Schnur hat die Originalverordnung des Landes Brandenburg kurzerhand verkürzt veröffentlicht und den Passus, dass Sport und Spazierengehen in frischer Luft und unter Einhaltung der Abstandsregeln durchaus erlaubt sind, geradezu erwünscht als gesundheitsfördernde Maßnahme in dieser besonderen Zeit, nicht wiedergegeben. So kann man einsame Radler und andere Menschen verunsichern.

Wie diese über 80-Jährigen hier vielleicht, die seit dem 21.3. einen Rollator vermissen:

Schloss Liebenberg kommt in Sicht. Bis auf einen einsamen Gärtner ist keine Menschenseele zu sehen, und als Fontane-Verehrer freue ich mich über die informativen Tafeln, auf denen über die Beziehung von Fontane zu den von Eulenburgs geschrieben wird.

Bergsdorf, Häsen, Kraatz – bis hierher sehe ich keinen Menschen, nur ein paar Lieferwagen überholen mich auf der Landstraße. Auch in Kraatz ist keiner auf der Dorfstraße zu erblicken.., wie zu normalen Zeiten allerdings auch nicht. Gransee kommt in Sicht. Auch hier ist es noch leerer als sonst. Ein Bäcker hat geöffnet – Kaffee nur „to go“– die neudeutsche Verkürzung von „zum Mitnehmen“. Und Figurenteile werden hier einfach so verschenkt.

Ich entscheide mich gegen das Mitnahmeangebot, zu sperrig sind die Puppenteile für den Radtransport. Nach Westen hin verlasse ich das historische Ortszentrum und mache noch ein Foto von der Stadtmauer.

Am 8. Juni 1612 stellte sich die Pest auch in Gransee ein, wie viele andere Städte war auch dieser Ort gesperrt. Wer der Pest nicht erlag, kam vor Hunger um; in wenigen Monaten verlor Gransee fast seine ganze Bevölkerung, 1500 Menschen. … Mit der Kälte schwand die Pest“

… zu lesen im Buch „Geschichte der Seuchen, Hungers- und Kriegsnoth zur Zeit des dreissigjährigen Kriegs“ von Dr. Gottfried Lammert, kgl. Bezirksarzt, herausgegeben in Wiesbaden 1890.

Das Pestbakterium können wir seit 100 Jahren wirksam bekämpfen, möge den Menschen das schnell beim Corona-Virus gelingen. Nachdenklich schiebe ich mein Endurace durch das Ruppiner Tor. Auf dem bestens ausgebauten Stechlinsee-Radweg, der auf der ehemaligen Trasse der Stechlinseebahn verläuft, rolle ich gen Nordwesten.

Auf diesen Feldern schlugen sich Fürst Heinrich und Markgraf Waldemar in der Schlacht von Gransee im August des Jahres 1316. Spargel wird neuerdings hier auf riesigen Flächen angebaut. In diesem Jahr stehen die auf der anderen Seite kaum erkennbaren Busse leer – die Erntearbeiter aus Polen, Rumänien bleiben wegen der verschärften Einreisebedingungen großenteils aus. Der Spargel wächst weiter.

Ich durchkurve Schulzendorf, ohne einen einzigen Menschen zu Gesicht zu bekommen. Auf einer Tagestour in diesen Tagen nehme ich immer genügend Futter und Getränk mit. Ein kleines Picknick an der Mauer hat auch einen besonderen Reiz.

Eine Plastebank in Banzendorf lädt mich ein, endlich mein Brötchen zu verspeisen. Hinter der Mauer beäugt ein Fernglasmann die Nachbarn. Mittlerweile habe ich Südkurs gesetzt, und der bisherige Schiebewind wird zum Bremswind. Nach Lindow hin ist der Radweg mit gut befahrbarem Verbundstein gepflastert. Zwei riesige Traktoren mit Anhänger donnern mir entgegen, werfen mir den Staub ins Gesicht und mich fast in den Straßengraben. Manchmal lauert die Gefahr, wo man sie so gar nicht erwartet.

In Rüthnick muss ich unbedingt das bekannte Vorlaubenhaus abermals ablichten, so kurios und eindrucksvoll steht es an der Landstraße. Gegenüber wartet das ehemalige Gasthaus Jagdidyll auf einen solventen Käufer, seit mindestens drei Jahren schon.

vernagelt, verlassen, vergammelt – der Imbiss neben dem „Jagdidyll“

Lange Kilometer führt mich der Weg durch einen riesigen Wald – 3850 Hektar geschützte Naturerbefläche, die größte in Brandenburg. Groß genug, um mich vor dem frischen Südostwind zu schützen. Bei Herzberg schließlich bekommt der Blick wieder Breite. In die Felder und Weiden.

Zufrieden grasende Rinder auf einer endlos erscheinenden Weidefläche. Der seelentröstende Gegenentwurf zur Massentierhaltung in gigantischen Ställen ohne Tageslicht und Sonne.

Am Radweg zwischen Bötzow-Ausbau und Hennigsdorf mache ich die letzte Pause des Tages im milden Licht des Spätnachmittages. Ein Knabberriegel und ein letzter Schluck aus der Trinkflasche, angelehnt an meinem Lieblings-Meilenstein.

Wes das Herz voll ist, läuft der Mund über.

Was freue ich mich auf zu Hause und ein leckeres Augustiner Landbier. Und dann die Fotos runterladen und ran an den Blogartikel.