Barnim und Oderbruch – 200 frische Frühlingskilometer

Heute muss es endlich sein – endlich wieder eine epische Strecke fahren hin zum Oderbruch. Sehr frisch ist die Morgenluft, zwei Grad zeigt das Thermometer, der Wind weht spürbar aus Nordwest. Mein Granfondo Titan wird mich heute begleiten, es hat Übung und Erfahrung in diesem Terrain. Es freut sich wie ich auf die erste lange Tour des Jahres, eine Corona-Tour. Ich bin mit mir selbst unterwegs. Me and myself. Zwei dicke Proteinriegel und zwei Trinkflaschen mit Apfelsaftschorle müssen reichen für die nächsten zehn Stunden. Und wenn ein Bäckereicafé geöffnet haben sollte, dann wird es noch einen Milchkaffee und ein Stück Kuchen geben. Um 9.15 Uhr sitze ich auf dem Rad und rolle los, hinein in den Barnim. Erste Station Bernau, dann hinüber nach Tempelfelde, wo ich in an einer Seitenstraße eine riesige Eiche entdecke. Natürlich fahre ich hier nicht einfach vorbei, ohne die Hand aufzulegen und ein paar Fotos zu machen. Mangels Metermaß muss ich den Umfang schätzen. So um die fünf bis sechs Meter wird der Stamm messen. Also wird der mächtige Baum hier seit mindestens 300 bis 350 Jahren stehen. Weiter rollt es mit Schiebewind hinüber nach Heckelberg und Haselberg. Tatsächlich gibt es einen kleinen Anstieg hinauf in das Reihendorf, das einen Gutspark hat, samt alter Brennerei. Und natürlich gibt es auch hier eine alte Eiche zu bewundern. Leider nur aus 100 Metern Entfernung. Privatgrund! Abgezäunt. Als ob es hier etwas zu klauen gäbe.

Endlich, nach der Durchfahrt von Schulzendorf kann ich mich ins tief gelegene Oderbruch stürzen, nach Wriezen mit seiner wechselvollen Geschichte. Der Dönerladen, der uns beim 200er Brevet 2019 als Kontroll- und Verpflegungspunkt diente, sieht traurig aus. Die Türen sind verschlossen. Ich tröste mich mit einer Portion Kultur in Form des Lebensbrunnens vor der St.-Marien-Kirche. Hier hat sich der Bildhauer Horst Engelhard Ende der 90er Jahre so richtig austoben dürfen. Fischer, Teufel, eine Nixe, ein Spielmann und dann noch der Herr mit dem Brett vor dem Kopf. Mittlerweile haben sich die Wriezener ausgesöhnt mit der progressiven Kunst. Sogar stolz sollen sie auf den Brunnen sein.

Der Künstler spiegelt hier die wechselvolle Geschichte der kleinen Stadt.

Seit ich Norman Ohlers Roman „Die Gleichung des Lebens“ gelesen habe, sehe ich das Oderbruch mit anderen Augen, sehe mehr die Historie hinter der aktuellen Kulisse. Hier hat in den Jahren 1747 bis 1753 der Deichinspektor Simon Leonhard von Haerlem im Auftrag Friedrichs des Großen die Oder eingedeicht und begradigt. Sein Büro hatte er in Wriezen aufgeschlagen. Finaler Akt des Projektes war der Oderdurchstich zwischen Güstebiese und Hohensaaten. Um 25 Kilometer verkürzte sich dadurch der Lauf der Oder. Aus einem Paradies für Fischer sollte im Laufe der Jahre Bauernland werden, mit angeworbenen Kolonisten und neuen Ansiedlungen neben den alten. Alt Ranft – Neu Ranft, Alt-Küstrinchen – Neuküstrinchen… Die Zeit der Hechtreißergilde in Wriezen ging dem Ende entgegen. Die Kartoffel war der neue Fisch. Zum Fluch der Fischer und zum Segen der Bauern.

Durch den ansehnlichen Ortskern kurbele ich nach Norden und biege ab in die Hafenstraße. Der „Alte Hafen“ wurde erst im Jahre 1902 errichtet und schon 50 Jahre später rückgebaut. Die neuen Häfen in Kienitz und Groß Neuendorf, direkt am Hauptlauf der Oder gelegen, haben ihm über die Jahre den Rang abgelaufen. Reste der alten Kaimauer und die angrenzenden Kalköfen samt ehemaliger herrschaftlicher Villa fristen ein eher tristes Dasein und harren der geplanten Wiedererweckung als Museum und Veranstaltungsort.

Kalköfen und Villa
Der Rost nagt unbarmherzig

Tausende von alten Fotos und Abbildungen des Hafengeländes hat der Besitzer gesammelt und ausgestellt. Nostalgie.

Weiter führt mich mein Weg von der alten Oder hin zum Hauptfluss. Über einen gut fahrbaren Feldweg, vorbei an alten Weiden, nach Neuküstrinchen, dessen Kirchturm am Horizont die näher gelegenen Kollektoren einer Fotovoltaikanlage überragt. Neue und alte Welt.

Blick nach Neuküstrinchen
Kirche von Neuküstrinchen

In Bienenwerder erreiche ich den Oderdeich und die Oder. Genau dort, wo die alte Eisenbahnbrücke ( Europabrücke) hinüber nach Polen führt. Besser: noch im Jahr 2021 nach Restaurierung mit 3,6 Millionen Euro Europafördermitteln ihrem Namen endlich gerecht werden kann und dann Wanderern und Radfahrern die Oderquerung nach Polen wieder ermöglichen soll.

Ab hier setze ich Kurs oderabwärts nach Hohenwutzen, Hohensaaten … Der Wind bläst mir kräftig ins Gesicht, ich lasse die Beine genauso kräftig arbeiten. Es funktioniert noch. Wohlgeformte Cumuluswolken modellieren den tiefblauen Frühlingshimmel. Verrostete, ausgemusterte Fischer- oder Lastkähne liegen auf dem Deich.

Bei Hohensaaten, wo die Alte Oder von Westen her einmündet, biegt der Flusslauf wieder ab nach Norden. Das untere Odertal beginnt, das Oderbruch liegt hinter mir. Der Radweg führt über den Deich zwischen der Oder und der  Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße. Links Wasser und rechts Wasser. Dazwischen endlose Wiesen, die teilweise noch überflutet sind. Einzelne Schwäne haben es sich gemütlich gemacht. Dicke Graugänse watscheln durch das Grün.

Am Eiswachhaus verlasse ich den Deich und nehme den „Grützpott“, den alten Wohnturm von Stolpe, ins Visier. Ein Wanderwegweiser führt hinüber durch die Wiesen und zwischen Tümpeln hindurch zum Hauptradweg. Doch vorher muss ich noch durch eine Barriere, die noch nicht lange hier steht:

Der frisch errichtete Wildschutzzaun zur Eindämmung der Afrikanischen Schweinepest. Auch die Schweine kennen ihr eigenes Corona. Hier oder jedenfalls ganz in der Nähe war Eva ( Takeshi) unlängst bei Vollmond nächtens auf einer genauso wilden wie langen Tour allein und ganze 493 Kilometer unterwegs und stand vor Kälte schlotternd vorm Schutzzaun. Hier sehr anregend zu lesen: https://takeshifaehrtrad.com/2021/03/31/ridefar-493-km-nonstop-durch-den-norden/

Im Vergleich zu ihr bin ich heute geradezu gemütlich auf relativer Kurzstrecke unterwegs. Ich rechne mir einen satten Altersbonus an und fühle mich sogleich wieder wohl. Angekommen unterm Grützpott, rolle ich auf dem Oder-Neiße-Radweg wieder ein Stück stromaufwärts und schwinge mich in Lunow hinein in die Barnim-Hügel, hin zum Parsteiner See, dann wieder über Oderberg nach Liepe und zum Schiffshebewerk.

So sehen glückliche Rinder aus!

Ich verwerfe meine Plan, in Chorin in die Bahn zu steigen, zu schön lacht die Sonne, zu gut fühlen sich die Beine an. Also rolle ich gen Eberswalde, auf dem Treidelweg nach Westen und bin bei Bernau schon fast wieder zu Hause.

Besser ist Beides zu gleichen Teilen, denke ich mir und weiche leicht von der „Fontane-Weisheit“ ab.

Um 20:15 Uhr trage ich das brave Granfondo wieder in den Radkeller, brate mir drei Spiegeleier, drüber lege ich eine große Portion Käse , dazu noch ein köstliches Augustiner Bier. Das wird nicht meine letzte Tour ins Oderbruch sein.

Hier die Strecke zum Nachfahren: https://www.strava.com/activities/5121459518/embed/43130c221f9d14f02f9cb8a867f066ba6402d7d1„>http://https://www.strava.com/activities/5121459518/embed/43130c221f9d14f02f9cb8a867f066ba6402d7d1