1. Etappe einer kleinen Reise entlang Elbe, Saale und Unstrut

Berlin – Ribbeck – Rathenow – Tangermünde – Wolmirstedt – Ebendorf

In Etappen durch das Land – endlich wieder mal ein paar Tage im Sattel und Neues entdecken. Nach Westen hin will ich aus dem Speckgürtel der Stadt hinaus ins Havelland und dann rüber an die Elbe. Mein Granfondo ist mittlerweile routiniert im Lasten tragen – hinten die beiden Ortlieb Gravelpacks, am Oberrohr eine kurze Tasche, die noch genügend Raum für eine große und eine mittlere Trinkflasche lässt und an der Gabel links noch die erprobte Forkbag mit Flickzeug, Schloss etc.

Insgesamt wiegt mein Gepäck knapp neun Kilo, also nocheinmal soviel wie das Granfondo in Grundausstattung. Ich habe alles dabei, was ich für fünf Tourtage brauche. Ein Zelt und Kochutensilien habe ich eingespart, denn ich werde abends komfortabel in Pension oder Hotel übernachten.

Alles Notwendige ist an Bord

Um halb neun nehme ich die ersten Kilometer unter die Räder. Die Sonne lacht, der sanfte Südwind schiebt erste Cumuluswolken über den ansonsten blauen Himmel. Da überrascht mich eine veritable Riesenpfütze, die vom Starkregen der vergangenen Tage übrig geblieben ist und verhindert in Frohnau die Durchfahrt zum Radweg. So früh habe ich noch keine Lust auf nasse Füße. Bei meiner locker geplanten Tour gibt es keine Umwege. Der Weg ist das Ziel, rufe ich mir zu und lasse es über Nauen und über den Havelradweg nach Ribbeck rollen. Ob Fontane im neobarocken Schloss einmal zu Gast war, ist nicht genau überliefert. Aber sein Gedicht kennt jeder: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland…“ der Herrensitz erstrahlt schon seit 2009 wieder in alter neuer Pracht und lockt mit guter Gastlichkeit und interessanten Ausstellungen. Heute mache ich hier nur einen Fotostopp.

Mein Track führt hinüber nach Retzow, Möthlow und Buschow. Beim Sinnieren über die so häufig vorkommende Namensendung „ow“ lenkt der schwabbelig werdende Hinterbau des Granfondo meine Aufmerksamkeit auf den Hinterreifen. In Sekunden verliert er seinen Überdruckinhalt und rumpelt auf der Felge. Stopp! Runter von der Straße und rein in die grüne Wiese, wo ich mir die Bescherung genauer anschauen kann. Klassischer Plattfuß. Das Titangerät auf die Seite legen, Rad ausbauen, Mantel runter und schon habe ich den Übeltäter ertastet: einen fiesen, spitzen Dorn – wahrscheinlich aus einer der schönen wegbegleitenden Hecken. Wenn der Einstichwinkel passt, wird auch der ansonsten resistente 4-seasons-Reifen gelöchert. Zwei Ersatzschläuche habe ich dabei. Ich nehme den ersten, den ich im Beutel greifen kann. Fatalerweise den, den ich schon einmal mit einem blumig beworbenen selbstklebenden Flicken repariert hatte. Nichtsahnend pumpe ich per Kartusche den Reifen auf knackige 7 bar auf und steige frohgemut wieder in die Pedale. In Nennhausen passiere ich das im Tudorstil errichtete Schloss. Fontane hat beim idyllischen Heimatort seiner Effi Briest sich wahrscheinlich den Herrensitz Nennhausen zum Vorbild genommen. Der nächste Ort trägt bezeichnenderweise den Namen Stechow. Genau hier, nach 20 Kilometern, gibt mein frisch aufgepumpter Hinterreifen seinen Überdruck wieder von sich. Diesmal hänge ich den Titanrahmen an ein Gartentor. Optimale Reparaturposition!

Zur Herausforderung und Beweisführung der Zuverlässigkeit moderner Flicktechnik per Aufklebeflicken verwende ich einen der Marke Topeak aus der gleichnamigen, famos gestylten Rescuebox.

Test it!

Ich opfere Kartusche Nr. 2, und flugs hat der frisch geflickte Reifen wieder Betriebsdruck. Und hält ihn auch – vorerst. Aber dazu später mehr …

Bevor nun der Beitrag gänzlich zum „Reparaturspezial“ abdriftet, wende ich mich ab jetzt wieder Kultur und Natur zu. Also aufsteigen und weiter durch Rathenow und dann lang durch den Wald hinüber zur alten Stadt Tangermünde. In Wust, kurz vor Erreichen der Elbbrücke, kann ich an der alten Hausfassade sehen, was die Stunde geschlagen hat.

Eine halbe Stunde später rolle ich in der ehrwürdigen Stadt Tangermünde ein. Nein, heute führt mein Weg zwischen der Elbe und der mächtigen Stadtmauer hindurch, weiter nach Süden. An der Elbe entlang.

Stadtmauer Hansestadt Tangermünde

Dieses Mal locken mich eher die ganz kleinen Orte, die auch Schönes, zumindest Besonderes zu bieten haben. Zum Beispiel Buch mit seinen gerade 300 Einwohnern – einer davon heißt Roland, ist 3,50 Meter groß, aus Sandstein gehauen und hält es hier schon seit dem Jahre 1580 tapfer aus. Dabei hatte er nicht immer eine gute Zeit. Im zarten Alter von etwa 100 Jahren stürzte der Rathausturm auf ihn herunter und lädierte ihn so sehr, dass er einen neuen Kopf brauchte. Kopf Nr. 2 wurde mit einer prächtigen Lockenfrisur versehen. Im Zuge dieser Operation ließ der Lehnschulze Helmicke ihn vom Rathausvorplatz vor seinen eigenen Schulzenhof transportieren und dort aufstellen. Was wird ihn das wohl gekostet haben?! Bis zum heutigen Tage wacht er vor dem Hofgebäude. Ich lehne mein Granfondo an, schaue auf zum Roland und frage mich, was der schon alles gesehen haben mag.

Ich nehme einen großen Schluck aus der Flasche, proste Roland zu und setze mich wieder in Bewegung. Auf den nächsten Kilometern passiere ich die Wiesen der Elbaue, kleinste Ortschaften und schaue auf horizontweite, abgeerntete Kornfelder. Es wird langsam Zeit, dass ich mich um eine Bleibe für die nächste Nacht kümmere. Auf einem Rastplatz mache ich es mir gemütlich, vertilge drei Gemüsefrikadellen und frage Booking.com nach den verfügbaren Betten auf der Strecke, die vor mir liegt. Gestern war hier noch reichlich Angebot vorhanden, aber jetzt sieht es mager aus.

An diesem Gasthof ist die Zeit vorbeigeströmt und hat die Gastlichkeit mitgenommen. Und Diamant Pilsener gibt es seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Also kurbele ich weiter. Noch sind die Beine gut und meine Laune auch. In der Ferne taucht der Kalimandscharo von Zietlitz auf. Aber Obacht, wenn die mehr als 100 Meter hohe Abraumhalde schon nahe scheint, ist sie noch locker 20 Kilometer entfernt.

Der Kalimandscharo

Im Örtchen Loitsche, direkt am Riesenberg, sitzen drei Männer in einem Vorgarten, vor sich einen halb geleerten Kasten Bier und rufen rüber: wohin des Weges, Radler? Ich gebe bereitwillig Auskunft und ernte ungläubiges Staunen, als ich von den heute bis hierher zurückgelegten 150 Kilometern erzähle. „Det is ja unfassbar“, murmelt der Wohlgenährte und streicht sich über seinen mächtigen Bauch. Als mir auch nach einer kleinen Abwartpause kein Bier angeboten wird, suche ich das Weite und richte den Blick nach vorn. Irgendwo wird hier doch ein Hotel zu finden sein! In Wolmirstedt folge ich dem Hinweisschild zum Gasthof Auerbachs Mühle. Sieht gut aus. Gut gelaunte Menschen im Biergarten. Ich bekomme spontan Durst. Nur, auch hier sind alle Betten ausgebucht. Zu meiner Rettung telefoniert die Dame am Empfangstresen in der Gegend herum und wird beim Hotel Bördehof in Ebendorf fündig. Flugs reserviert sie für mich ein Zimmer und kündigt mich an. Treffer! Noch 12 Kilometer, dann warten Dusche und Bier auf mich. Eine halbe Stunde später stehe ich vor dem ansehnlichen Hotel. Mein Granfondo darf im „Motorradkeller“ sicher übernachten, und ich beziehe ein schönes Zimmer unterm Schrägdach.

Im Örtchen Ebendorf mache ich noch eine kleine Spazierrunde zum Beine vertreten und kehre bei einem einladend aussehenden Dönerladen mit Pizzaangebot ein. Die Pasta mit Ei und Pilzen schmeckt köstlich, und Becks Bier löscht bekanntlich „Männerdurst“ ( in unseren Tagen ein unsäglicher Werbespruch). Wieder zurück im Hotel, sind gegen 22 Uhr kaum mehr Gäste zu sehen. Nur hinter der Bar räumt genau der junge Mann auf , der mich schon zum Motorradkeller begleitet hatte und mein Granfondo mit Lob bedachte. Ich fahre auch Rad, bemerkte er – und in meiner Familie sind viele Radsportler. Flandern-Rundfahrt, Tour de France, Paris-Roubaix, all diese Rennen haben die Verwandten meines Barmanns bestritten. Magdeburger Radlegenden: Rolf Pöschke, Robert Wagner… Und Täve Schur ist auch noch der Patenonkel meines bierzapfenden Gesprächspartners. Zuletzt holt er noch sein Stevens-Rennrad vor die Theke zur Begutachtung meinerseits. Anerkennende Worte, fachsimpeln über die Ausstattung. Dann verabschiedet er sich in den Feierabend, wünscht mir eine genussvolle Tour, und ich gehe beseelt und zufrieden auf mein Zimmer und schlummere dem nächsten Tag entgegen.

Teil 2 folgt

Angus-Rinder in Friedrichswalde und ein majestätischer Storch in Densow

„Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, so hat Martin Luther einen Vers des Lukas-Evangeliums volksnah übersetzt. Genau so ging es mir gestern! Als ich bei Friedrichswalde eine riesige Rinderherde entdecke, die auf einer weiten, sattgrünen, welligen Weide steht, wusste ich: Hierüber muss ich ein paar Sätze schreiben.

An diesem Dienstag hatte ich beschlossen, wieder einmal eine ordentliche Runde in den Barnim und die Uckermark zu radeln. Hinein in die wunderbare Landschaft, die jetzt so in vollen Farben leuchtet, die alles zeigt, was im Winter nur schlummert und schläft. Alles ist wach, die Vögel überbieten sich in variantenreichen Gesängen, der Wald duftet nach Holz und nach frischen Kräutern. Schwärmerei! Ja, ich gebe es zu, ich lasse mich gerne einfangen von der Stimmung der Natur.

JANINE transportiert Holzhäcksel auf dem Oder-Havel-Kanal nach Westen

Über Zerpenschleuse und Marienwerder rolle ich mich ein. Dann genieße ich die Wald-und Strandkilometer am Werbellinsee entlang und den Radweg hinauf durch den Buchenwald nach Joachimsthal. Mein Trikot saugt gierig meinen Schweiß auf, den ich an diesem schwülwarmen Tag produziere. Meine Beine funktionieren gut, nur eine spürbare Spannung in den Oberschenkeln zeigt mir, dass ich mich anstrengen muss, um die sanften Hügel zu erklimmen.

Von Joachimsthal führt die Landstraße in Richtung Parlow und Glambeck. Am Waldrand steht ein Feldstein mit der Aufschrift: „Toter Mann“.

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Die schaurigen Geschichten dazu sind hier zu lesen: https://www.amt-joachimsthal.de/texte/seite.php?id=37482. Ein paar hundert Meter weiter führt mich der Wegweiser „Uckermärkischer Radrundweg“ in Richtung Friedrichswalde. Über glatten Leichtrollteer durch den kühlenden Wald, dann auf eine Lichtung hinaus, die sich zu saftigen Wiesen weitet. Und da stehen sie! Wie in einer Filmkulisse weiden mindestens 50 schwarze und braune Angusrinder im hoch stehenden Gras. Mein erster Griff geht zur Kamera, ich bleibe stehen, steige ab und gehe an den Weidezaun heran.

Offensichtlich nehmen die Tiere mich nicht als Bedrohung, sondern eher als Anreiz zum Näherkommen wahr. Die ganze Herde bewegt sich gemächlich in meine Richtung. Große Elterntiere und Kälber, alle einträchtig und sehr entspannt.

Zugleich mit mir hält ein Paar an, das mir mit E-Bikes entgegenkommt. „Meine Frau muss wieder einmal fotografieren“, schmunzelt der Mann. So werden die herrlichen, zutraulichen Tiere zig-Mal auf die SD-Cards gebannt. Und ich nehme die Gelegenheit wahr, den beiden Naturrreisenden die Kultur-Schönheiten von Joachimsthal anzuempfehlen. Sie bedanken sich, und ich kurbele weiter hinüber zum Holzschuhmacherdorf Friedrichswalde.

Wieder einmal kehre ich beim Bäcker Hakenbeck ein und verspeise ein wohlschmeckendes Stück Kirschkuchen, zusammen mit einem duftenden Milchkaffee. Hakenbeck ist eine meiner Top-Adressen in Brandenburger Landen. Bernd Hakenbeck ist sogar auf die Idee mit dem „Brotsponsor“ gekommen: Ein junger Immobilienmakler aus Eberswalde lässt ein eigens kreiertes Hanfsamenbrot mit seinem Logo ausrüsten. Da sage einer, die Märker seien nicht innovativ.

Auf den Spuren der alten Holzschuhmacher-Tradition umkurve ich noch die Kirche mit dem Gedenkstein für die ersten 30 Siedler, die vor 250 Jahren im Auftrag Friedrichs des Großen angeworben wurden, hier das Land zu bewirtschaften. Schließlich wurden sie über die Landesgrenzen berühmt durch die trefflichen Holzschuhe, die sie hier schnitzten. In einem kleinen Museum hinter der Kirche wird die Geschichte dazu lebendig.

Der Radweg führt mich weiter in Richtung Templin und zunächst durch die Ortschaften Reiersdorf, Gollin und Ahlimbsmühle. Am Rande von Templin erreiche ich bei Postheim den Badestrand vom Lübbesee.

Unter den Sonnenschirmen mit Südseeflair tummeln sich die Menschen ganz so wie vor Corona-Zeiten. Fröhlichkeit und gute Laune schwingen in der Luft.

Mein alter Freund Rainer sagt so schön: „Templin ist immer eine Reise wert“. Stimmt!

Heute wähle ich den Radweg hinter der Stadtmauer entlang, über die alte Pionierbrücke und dann nach Norden aus der Stadt hinaus– Kurs Lychen. Der Himmel im Nordwesten wird immer dunkler, drohender. Ein Gewitter braut sich zusammen. Aber ich habe Glück heute, die Front zieht immer weiter nach Westen weg. Ich bleibe trocken und passiere Orte wie Alt-Placht, Neu-Placht – alte Gutsdörfer und Vorwerke mit einer Handvoll Einwohner. Dann folge ich einem Wegweiser nach Süden, nach Annenwalde. In der Hoffnung auf eine Abkürzung direkt nach Süden, denn ich will pünktlich zum Anstoß des Spiels Deutschland-England zu Hause sein. Es sollte anders kommen. Die Landstraße hin nach Annenwalde ist gesäumt von einer prächtigen Lindenallee, meine Laune ist gut, eine Trinkflasche ist noch voll. Dann lasse ich mich verführen, einem schmaler werdenden Weg zum Örtchen Beutel zu folgen. Der endet dann im Wald. Kein Durchkommen nach Süden. Nur Wanderer haben eine Chance. Zwei Seen ohne Übergang stehen mir im Weg. Für eine schöne Rundwanderung ein wunderbarer Ausgangsort. Aber mein Granfondo ist für diesen Zweck nicht geeignet. Also zurück auf festen Untergrund und wieder hinüber nach Templin. In Annewalde wartet nicht nur eine wieder zu neuem Leben erweckte Glashütte samt Künstleraltelier, sondern auch in einer alten Scheune ein Hofladen.

Kirsch-Banane-Eis und eine Flasche Mineralwasser zum Wiederbefüllen meiner Trinkflasche trösten mich über den ungewollten Umweg hinweg. „Der Weg ist das Ziel“. Der nächste Ort heißt Densow und zieht meinen Blick zunächst auf ein Storchennest, das auf einem Mast thront. Die Störchin sitzt und bietet aktuell kein gutes Fotomotiv. Dann endecke ich auf dem First des übernächsten Hauses Herrn Storch, der würdig und entspannt auf mich herabblickt.

Schönes Haus
Stolzer Storch

Wie souverän das Tier im Einbeinstand auf dem First des Hauses mit dem herrlich stuckverzierten Giebel aus dem Jahre 1906 thront. Für mich ist dieser Anblick das Highlight der heutigen Tour. Jetzt kann ich die Kamera beruhigt wegstecken und mich auf den Heimweg machen.

Leitspruch aller Randonneure

Noch einmal durch Templin, an dem gelben Hausgiebel mit dem Zitat von Franz von Assisi vorbei, das schon mein alter Freund Claus Czycholl vor vielen Jahren als Motto für die ganz langen Strecken gewählt hatte. Dann über Hindenburg, Hammelspring und Vogelsang nach Zehdenick, wo ich in den Regio nach Berlin klettere, um dann pünktlich zum Fußballspiel in den heimatlichen Gefilden anzukommen. 155 Kilometer Kultur- und Naturgenuss. Die bleiben viel nachhaltiger in Erinnerung als die beiden eingefangenen Gegentore der englischen Mannschaft, die der unseren gezeigt hat, dass sie in Wembley auch gewinnen kann.