Langsam an der Schnellen Havel

Auf 14 Kilometern Länge verläuft der Voßkanal parallel zur mäandernden Schnellen Havel von Liebenwalde bis nach Zehdenick. Erbaut in den Jahren 1880 bis 1882 und ausgerüstet mit den Schleusen Bischofswerder, Krewellin und Zehdenick. Auf dieser Wasserstraße konnten endlich die Produkte der Ziegeleien um Mildenberg herum nach Berlin verschifft werden. Die schnell wachsende Großstadt Berlin brauchte um die Jahrhundertwende vor dem Ersten Weltkrieg Millionen Tonnen Ziegel und Klinker für die neu entstehenden Häuser und Bauwerke. Der Radweg Berlin – Kopenhagen begleitet den Voßkanal durch die herrliche Auenlandschaft. Gerade jetzt, im Spätherbst, sind die Farben besonders kräftig. Goldbraun leuchten das letzte Laub an Eichen, Ahorn und Linden und die gefallenen Blätter am Boden. Sattgrün die Wiesen an der Schnellen Havel. Ein Farbrausch, der den Vorteil hat, den Menschen nicht besoffen, sondern einfach nur glücklich zu machen.

Am Voßkanal bei Krewellin
Am Voßkanal

Alle paar Hundert Meter klicke ich die Radschuhe aus den Pedalen, fingere meine Olympus Tough-Kamera aus der Oberrohrtasche und mache Foto um Foto. Mit Schilf, mit Bäumen, mit Wiesen, mit Wolken, mit Wasser…

Beste Nahrung für die herbstdämmerungs-, nebelgeschädigte Seele. Endlich Sonne, klare kalte Luft aus Norden. Flache Cumuluswolken gruppieren sich in Reihen am tiefblauen Himmel. Vereinzelt sind noch Kranichrufe zu hören. Die letzten Zugvögel machen sich auf den Weg nach Süden. Graugänse schnattern zu hunderten um die Wette und bilden schöne Schattenrisse unter den Wolken.

Gänse in der Thermik unter Cumuluswolken

Vereinzelt tuckern Sportboote vorbei, wahrscheinlich auf dem Weg ins Winterquartier oder in die Werft von Malz oder ins Bootslager von Liebenwalde. Am Südrand von Zehdenick vereinigen sich Voßkanal und Schnelle Havel, um sich dann wieder als Havel durch die zahlreichen Tonstich-Seen bis hinauf nach Mildenberg zu schlängeln. Heute schaue ich mir ein historisches Kleinod von Zehdenick endlich mal von innen an: Das Zisterzienserkloster aus dem Jahre 1250. Genauer: Kloster für Zisterzienserinnen. Die wechselvolle Geschichte über die Jahrhunderte ist im verlinkten Artikel nachzulesen. das kleine Eingangstor ist erfreulicherweise geöffnet, so dass mein Basso und ich in den Innenhof der ehemaligen Klosteranlage hineingehen können. Die Mauern atmen Geschichte und hätten sicher viel zu erzählen, wenn sie denn könnten. So lese ich wissensdurstig die Informationen auf den Mauertafeln, bin beeindruckt vom mächtigen Mauerwerk und dem kleinen Klostergarten, in dem heute mannigfaltige Kräuter und Gartenpflanzen in Hochbeeten gedeihen.

Zehdenick hat sich im Laufe der Jahre in der Mitte des Ortes ordentlich herausgeputzt. Sorgfältig restaurierte Häuser in den Farben der Barockzeit und daneben gelegentlich auch leer stehende Läden, die neue Betreiber suchen. Alt und neu, hübsch und hässlich in direkter Nachbarschaft.

Zehdenick, ein Ort, der sich Mühe gibt, wieder attraktiv und lebenswert zu werden.

Auf dem Weg wieder zurück nach Berlin rolle ich in Richtung Löwenberg nach Südwesten über die B 109 sanft eine Bodenwelle hinauf, himmelwärts durch eine junge Allee in die Wolkenbänke schauend.

Himmelwärts

Hammelstall heißt ein Anwesen am Waldrand. Wegsteine zeugen von der Vergangenheit.

„Zehdenicker Bürgerheide 1299“ lese ich auf dem ersten Stein westlich der Straße. Wenig weiter südlich dann „Erbauung der Chaussee 1900/1901 – Berlin 7 Meilen“ Eine Preußische Meile entspricht 7,532 Kilometern, also ist die Distanz nach Berlin etwa 53 Kilometer. Damit ist mein Garmin absolut einverstanden. Kurz vor Falkenthal folge ich einem Radwegweiser, der mich in den ehemaligen königlichen Forst hineinführt. Wieder hin nach Osten in die Havelauen. Ein wunderbarer Weg durch alten Mischwald mit herrlichen Buchen, Eichen und großen Kiefern. Eine Viertelstunde später stehe ich an einer Weggabelung. Links ein riesiger Farbklecks in Form einer Stieleiche, die komischerweise noch nicht ihr Laub abgeworfen hat, und gerade vor meinen staunenden Augen wird eine Herde von wunderbaren braunen und schwarzen Rindern immer größer. Mittendrin eine Gruppe von zotteligen Eseln.

Esel inmitten von Rindern – friedliche Koexistenz

Der Sandweg, der nach Süden führt, ist tief und weich. Ich muss eine Weile schieben. Eigentlich genau richtig, um dieses Stück herrliche Natur richtig in mich hineinzusaugen. Irgendwann komme ich wieder auf festen Rollgrund. An einsamen Gehöften vorbei bis zu einer Reihe von Fischteichen, auf denen hunderte von Schwänen ihre sanften Kurven ziehen.

Fischteiche westlich der Schleuse Bischofswerder

Der mittlerweile feste, glatt geteerte Weg führt mich nach Süden in Richtung Neuholland. Dann hinüber nach Malz und wieder an den Oder-Havel-Kanal.

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In Friedrichsthal, an der Kanalbrücke, schließt sich der Kreis für meine Herbstausfahrt, und ich rolle wieder auf wohlbekannten Wegen nach Hause. Mit dem letzten Licht am Lehnitzsee entlang und wenig weiter mit einer leuchtenden Venus als Glanzpunkt des Tages am orangerot gefärbten Südwesthimmel.

Louis Hanri ? Fontane

 

ENTDECKUNGEN IM ODERBRUCH

das Oderbruch hat für mich etwas Magisches, eine besonders starke Anziehungskraft. Woher kommt das eigentlich, frage ich in mich hinein. Die Landschaft und die Kultur sind eher unspektakulär, zumindest wenn man die Gegend mit dem Allgäu oder gar den Tiroler Alpen, wo ich vor wenigen Wochen gewandert bin, in Vergleich bringt. Falscher Denkansatz, sagt mein inneres Ich! Schon Fontane sagte im Vorwort zu seinen Wanderungen in der Mark Brandenburg: „Der Reisende in der Mark muß sich mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben“ 

Schon auf der Anfahrt über die Wellen des Barnim durch kilometerlange Ahorn- Eichen- Linden- und Kastanienalleen wird deutlich: Hinschauen ist erforderlich, nicht nur stures Durcharbeiten und Durchkurbeln. Sonst bleibt das Schöne dem Auge verborgen. Zwischen Grüntal und Klobbicke bewundere ich eine herrliche Ahornallee, die schon eine ganz leichte Herbstfärbung zeigt. Auf dem Weg nach Osten folgt dem Ahorn die Kastanie. Die Bäume sehen aus wie nach einem Frosteinbruch im Spätherbst. Für den frühen Laubfall ist aber nicht Temperatur, Sturm und Jahreszeit , sondern die gefräßige Miniermotte verantwortlich. 

In Gersdorf werden Zierkürbisse feilgeboten, in Dannenberg steht ein ausgedienter Feuerwehr-Robur an der Straßenecke. Nostalgische DDR-Lüfte umwehen mich.

ein echter Robur

Der geflasterte Freienwalder Weg geht am Ostrand des Ortes über in einen gut fahrbaren Waldweg. Nur eine vom letzten Sturm gefällte Fichte will von mir überklettert werden. Auf den nächsten zwei Kilometern führt der als Radweg gekennzeichnete Track durch den Wald. Kurz vor Bad Freienwalde stößt er auf die B 168. Fünf Minuten später kann ich wieder, aufs Neue erstaunt, die Sprungschanze von Bad Freienwalde erblicken. Dann rausche ich mit 50 km/h hinunter gen Oderbruch.

Schwalben und Simsons haben die Tankstelle besetzt

An der Esso-Tankstelle am Ortsausgang herrscht buntes Treiben: Die Fans nostalgischer Mopeds mit Namen Schwalbe und Simson haben sich hier versammelt und blockieren den gesamten Betrieb. Aber sicher nicht böswillig. Die Stimmung ist ausgelassen. Ich schaue mir einige der Zweitakt-Oldtimer an und erfahre, dass die Simson neben mir aus dem Jahr 1988 stammt. Ich nehme ein paar tiefe Züge vom verbrannten Zweitaktgemisch und rette mich wieder auf die Bundesstraße in Richtung Schiffmühle. 

In Schiffmühle hat der Vater meines Lieblings-Brandenburg-Literaten Theodor Fontane seine letzten Lebensjahre in fast schon ärmlichen Umständen verbracht. Seine Spielsucht hatte ihn und die Familie nicht nur einmal in die Pleite getrieben. Bevor ich das Fontane-Haus erreiche, sichte ich an der nächsten Kreuzung Polizeifahrzeuge mit Blaulicht und mehrere Krankenwagen. Als ich, meinen Blick weiter nach vorn gerichtet, die Unfallstelle passiere, sehe ich eine nostalgische Schwalbe verformt am Straßenrand liegen.

Mein Adrenalinspiegel steigt ruckartig an, und mir wird wieder einmal bewusst, wie gefährlich das Fahren auf Schnellstraßen sein kann. Und auf diesem Abschnitt gibt es auch keinen begleitenden Radweg.  

Ich bin froh, als ich in Schiffmühle die Bundesstraße verlassen kann. Das Fontane-Haus ist wieder geöffnet, Kaffee und Kuchen werden feilgeboten, allein, ich habe noch keinen Hunger. Heute will ich durch die Ansiedlung an der Oderbruchkante weiter rollen bis nach Neutornow.

Hier, auf einem  kleinen Friedhof neben der Kirche soll Louis Henri Fontane, der Vater von Theodor begraben sein. Dieser Ort der Fontane-Familiengeschichte fehlt noch in meiner Sammlung. Dort, wo die Wriezener Alte Oder von der Stillen Oder abzweigt, erblicke ich links auf der Abbruchkante thronend ein kleines Kirchlein. Ein paar Meter weiter steht, etwas eingewachsen im Buschwerk ein Hinweisschild auf die Grabstätte. Da heißt es absteigen und raufklettern. Nach 200 Metern komme ich von der Nordseite heran an die alte Kirche. In Neutornow habe ich bislang keinen einzigen Menschen gesichtet. Ganz schön einsam hier. Die Kirche stammt aus der Kolonistenzeit aus dem Jahr 1770. Die Sitzbank neben der Eingangstür hat schon bessere Zeiten gesehen, daneben zeigt ein vom Wetter gegerbtes Schild den Weg zur Fontane-Grabstätte. Ein paar Meter weiter lese ich auf einem Aluminiumschild, was Sohn Theodor zur Grabstelle seines Vaters formuliert hat. 

Ganz nah an der Kirchenmauer, auf dem leicht abschüssigen Gelände, liegt eine von kleinen Findlingen umrahmte große Steinplatte mit einer Inschrift, die mich zum Staunen und Nachdenken bringt:

LOUIS HANRI FONTANE, kann ich lesen. Kein Geburts-und Sterbejahr, nur eben Louis HANRI Fontane. Hat er denn Hanri mit Vornamen geheißen? Nein, hat er nicht. In allen Dokumenten, die ich finden kann, wird der Fontane-Vater nur Henri genannt und geschrieben. Berichte von Veranstaltungen zum Todestag von Louis Henri F. habe ich gefunden und gelesen. Keinem der Schreiber oder Redner ist sie aufgefallen oder gar sauer aufgestoßen, die falsche Schreibweise. Also finde ich meine eigene Erklärung für den bösen Lapsus. Der Steinmetz wird betrunken gewesen sein, als er den Namen in Stein meißelte. Und eine „Korrekturplatte“ wird zu teuer gewesen sein. So mutierte Henri auf dem Grabstein zu Hanri , rede ich mir ein.  Schluss mit der Krittelei, sage ich mir und richte den Blick ins schöne Oderbruch. Und der Blick von diesem Friedhof hin nach Osten ist wirklich grandios. 

„ Sand, Geröll und große Steine, wie sie dort überall in der Erde stecken, liegen auf seinem Grab; sei ihm die Erde leicht“. So schrieb Sohn Theodor. Zu lesen in seiner Biografie. 

Ich setze mich auf die verwitterte Bank unter der von Efeu umrankten Eiche, knabbere einen Müsliriegel und genieße die Fernsicht. 

Mein gesetztes Tagesziel habe ich erreicht, jetzt rolle ich noch gemütlich nach Hohensaaten und dann zurück über Oderberg und den Hügel rauf nach Liepe und dann zum Schiffshebewerk. Dort vertilge ich eine große Portion Pommes, die es leider schon mindestens dreimal im heißen Fett bis zur Verschrumpelung ausgehalten hat. Fast ungenießbar, aber kalorienreich. Zwei Stunden kurbele ich hinüber nach Eberswalde, dann am Kanal entlang bis Zerpenschleuse.  

Die Sonne steht schon niedrig über dem Horizont, als sich auf dem Oder-Havel-Kanal der Tanker Odin auf dem Weg ins ferne Ruhrgebiet unter der Brücke hindurchschiebt. Jetzt noch 30 Kilometer nach Süden, und schon werde ich zu Hause ein wohlverdientes Bier genießen können.

Vielleicht finde ich doch noch irgendwann heraus, wie es zur falschen Schreibweise auf der Grabplatte kam, welche Geschichte dahintersteckt.