Oder-Neiße-Elbe, Teil 2

Auf nach Görlitz

Der Kaffee ist gut, dazu ein gekochtes Ei, eine Scheibe Käse, Marmelade aus der Folienverpackung. Ein Starterfrühstück, kein Genussfrühstück. Um 8.30 Uhr wecke ich mein Granfondo, hänge die Gravel-Packtaschen ein und rolle auf den Oder-Neiße-Radweg hinüber. Die Kulisse von Eisenhüttenstadt kommt näher, alte und neue Industrie reckt die Schlote in den Himmel. Von ehemals 53000 Einwohnern im Jahre 1988 sind bis heute 23000 übrig geblieben. Eisenhüttenstadt war zu Beginn der 50er Jahre als sozialistische Planstadt auf Geheiß der SED entstanden. Ein Eisenhüttenkombinat mit sozialistischer Wohnstadt. Die Schlote qualmten wie im Ruhrgebiet. Fast hätte die Stadt zum 70-jährigen Todestag von Karl Marx den Namen Karl-Marx-Stadt erhalten. Dann bekam Chemnitz den Vorzug und die Planstadt bekam den Namen „Stalinstadt“. Keine zehn Jahre dauerte es, da wurde der Ort im Rahmen der Entstalinisierung umgetauft in Eisenhüttenstadt. Von den Einwohnern schlicht „Hütte“ genannt.

Beim Blick vom Oderdeich hinüber zu Häusern und Fabrikgebäuden wusste ich nur wenig über Eisenhüttenstadt; Wikipedia hat mir geholfen, die Geschichte nachzuvollziehen.

Ganz nah am Radweg steht seit Kriegsende die Ruine des Kraftwerks Vogelsang, das zur Energieversorgung der im 2. Weltkrieg errichteten Werke von Degussa und Rheinmetall dienen sollte. Es ging nie in Betrieb – im Rahmen der Reparationsleistungen wurden die Industrieanlagen und auch die Kraftwerksturbinen gen Osten abtransportiert. Es blieben die leeren Gerippe. Als Vogelsang im Jahr 1998 aus 2,5 Mio DM „Fördermitteln“ abgerissen werden sollte, traten Naturschützer auf den Plan und erwirkten den Abriss-Stopp. Heute hausen hier Fledermäuse, die nur selten von „Entdeckertouristen“ gestört werden.

Ich lasse Eisenhüttenstadt hinter mir; hinter Kornfeldern und Wiesen erhebt sich das Kloster Neuzelle aus der Oderaue. Es hat die Jahrhunderte besser überdauert als Industrie und Kraftwerke.

Kloster Neuzelle am Horizont

Neuzelle ist ein wunderbarer Kontrapunkt zu grauem Beton und sozialistischer Planstadt. Jedem, der in dieser Gegend weilt, sei ein Besuch der Klosteranlage wärmstens empfohlen. Die Barockbauten und die Gartenanlage sind einzigartig.

Ich bleibe heute ausnahmsweise auf dem Oderdamm, weil ich Neuzelle bestens kenne. Vor meinem inneren Auge lasse ich mir ersatzweise einen Erinnerungsfilm der letzten Besuche ablaufen. Die nächsten 30 Kilometer erblicke ich Natur, Natur, Natur. Ein paar Minuten beobachte ich eine freche Elster, die immer wieder auf einen doppelt so großen Milan herabstößt und ihn ärgert. Er wehrt sich nicht, er weicht nur immer wieder aus, bis der Plagegeist von ihm ablässt. Auch eine wirksame Methode.

Während dieser Kilometer hat sich die Oder nach Osten davongemacht, statt ihrer rolle ich seit dem kleinen Örtchen Ratzdorf an der nur halb so breiten Neiße entlang. Kurz darauf bin ich in Guben, auch einer Stadt mit typischer, leidvoller Geschichte. Bis 1945 eine Stadt mit namhaften Tuchmacherbetrieben und über 40000 Einwohnern. Mit vielen prächtigen Bauten und Villen. Am Ende des Krieges wurde Guben, wo in den Rüstingsbetrieben über 4000 Menschen, davon die Hälfte Zwangsarbeiter, die letzten Waffen für Adolf produzierten, zu über 90 Prozent zerstört. Das Potsdamer Abkommen sorgte für die Teilung der Stadt in Guben und das östlich der Neiße liegende Gubin. Heute leben hier weniger als 16000 Menschen. In den Fabrikgebäuden der ehemaligen Tuchfabrik residieren das Plastinarium und die Ausstellung „Körperwelten“ von Gunther von Hagens. Vor dem Gebäude wartet gerade eine Schulklasse auf Einlass.

Die größten Arbeitgeber der Stadt sind heute Trevira und die Großbäckerei Dreißig.

Auf der Neiße paddeln gut gelaunte junge Menschen und rufen mir ein fröhliches cześć zu. Ich erblicke eine Bäckerei von Dreißig und gönne mir Milchkaffee, Croissant und Pfannkuchen. Das hebt meine Laune ungemein. Nächster Halt Rosenstadt Forst, würde der Zugbegleiter verkünden, wenn ich denn mit dem Zug fahren würde. Auch Forst war am Ende des Weltkrieges zu 85 Prozent dem Boden gleich gemacht. Auch Forst war und ist wieder eine Tuchmacherstadt mit Textilindustrie. Radsportler verbinden Forst mit seiner historischen Radrennbahn, auf der zahlreiche Top-Sportler trainiert haben. Die Blumenfreunde schätzen den Rosengarten.

Groß Bademeusel, Klein Bademeusel, gegen 15 Uhr stehe ich vor dem Schloß des Fürsten Pückler in Bad Muskau. Lenné oder Pückler haben fast alle bedeutenden Gartenanlagen in Brandenburg gestaltet oder die Ideen dazu geliefert. Der Park in Bad Muskau ist ein besonders beeindruckendes Zeugnis der Gestaltekunst.

Bevor ich wieder starte, gönne ich mir ein Eis, wie es sicher auch dem Fürsten gemundet hätte. Jetzt noch schlappe 50 Kilometer, und ich werde auf dem Marktplatz von Görlitz stehen. Bis dorthin fließt noch reichlich Schweiß meinen Rücken hinunter. Ein attraktives Tagesziel will eben erarbeitet werden. Eine Ansiedlung am Wege trägt den bezeichnenden Namen „Ungunst“. Als ungünstig empfinde ich auch, dass der Radweg immer wieder durch den Kiefernwald ein paar Höhenmeterauf die Bruchkante macht. Die letzten Kilometer, bevor ich endlich in Görlitz einrolle, ziehen sich. Knapp 170 Kilometer Sonne, Wiesen, Wald, Weitblicke. Jetzt tauche ich in die Kultur der alten Stadt ein. Erstes Ziel ist der Obermarkt, der mit seinen wunderbar restaurierten Bürgerhäusern ein wahres Prunkstück dieser Stadt ist. Das Hotel Am Schwibbogen ist ausgebucht und ich erinnere mich an den Hinweis eines Radlerkollegen in Aurith, der das Hotel Alt Görlitz in höchsten Tönen lobte. Also rufe ich dort an, bekomme ein Zimmer, den Öffnungscode für die Haustür und den Zimmerschlüssel im Umschlag neben der Eingangstür. Dann nehme ich mein Granfondo samt Gepäck auf die Schulter und gönne ihm eine sichere Bleibe in meinem großen Zimmer. Duschen, umziehen und dann bin ich wieder in der Altstadt. Gut gelaunte Menschen flanieren durch die Gassen, am Untermarkt lockt mich ein Italiener mit einer guten Speisekarte.

Die Pasta Calabrese im Restaurant Casanova mundet wunderbar, der Wein ist kühl und verlangt nach einem zweiten Glas. Derweil spielt gegenüber ein mittelalter Gitarrist Songs von Sting, Mark Knopfler und Eric Clapton. In bester Qualität. Besser kann ein Abend für mich nicht laufen. Heute bekommt Görlitz von mir wieder einmal die Note 1. Ich schlummere tief und sitze schon um kurz nach sieben am Frühstückstisch. Das Angebot ist sensationell. Brot, frisch gemachtes Rührei, Müsli, und und und. Ich bediene mich reichlich und genieße. Schon vor acht Uhr stehe ich mit meinem Granfondo auf der Straße und nehme Kurs Süd. Entlang der Neiße will ich nach Zittau fahren. Im Teil 3 mehr davon in Bälde.

Oder-Neiße-Elbe, Teil 1

Wo liegt eigentlich Aurith?

Als ich nach dem Wanderurlaub im Chiemgau nach meinen Rädern im Keller schaue, blickt mich besonders das Granfondo vorwurfsvoll und auch ein wenig traurig an. Warum hast du mich so vernachlässigt, warum muss ich nutzlos am Haken hängen? Wann geht es endlich wieder los auf Strecke? Ich lege beruhigend und besänftigend meine Hand auf und beschließe, diesem unhaltbaren Zustand möglichst schnell ein Ende zu machen.

Wann soll es losgehen und wohin? Warme, um nicht zu sagen, heiße Tage sind vorausgesagt. Auf viele Höhenmeter und die damit verbundene Qual habe ich keine Lust. Aber hinein ins Oderbruch, dann nach Süden an der Neiße entlang bis nach Zittau und rüber zur Elbe, das wäre doch was! Mein Titanrad will geradezu vom Montageständer springen, als es meine Gedanken spürt. An dem kommenden Montag sind noch ein paar Regenschauer zu erwarten, dann sehe ich auf wetteronline vier Sonnentage mit um die 30 Grad Maximaltemperatur. Frischer Wind aus Nordwest am Dienstag, ideal für den Start hinein ins Oderbruch. Fix stelle ich mit basecamp einen provisorischen Track zusammen. Pro Tag etwa 150 Kilometer, das sollte zu schaffen sein. Mit genügend verbleibender Zeit für Kultur und Natur und Nahrungsaufnahme.

Jetzt bekommt mein Granfondo noch einen gründlichen Check: Ich montiere das Ritzelpaket 12-28 für zu erwartende kurze, knackige Anstiege; zur Sicherheit und für den geschmeidigen Lauf wird die Kette geölt und wieder sorgfältig abgewischt, Schaltung und Züge überprüft. Die Ortlieb-Gravelpacks und die Rahmentasche sollten für alles Notwendige Platz bieten. Nach den Erfahrungen des Vorjahres mit drei Plattfüßen hintereinander kommen für mein gutes Gefühl gleich drei Ersatzschläuche mit. Das Gesamtpaket Rad und Pack wiegt so immer noch unter 16 Kilogramm.

Am Dienstagvormittag geht es bei herrlich blauem Himmel los. Mein Granfondo lehnt samt Gepäck nach den ersten 40 Kilometern um 10.40 Uhr an der Kircheneiche von Grüntal. Der monumentale Baum und mein Lieblings-Reiserad kennen sich seit Jahren und zahlreichen Begegnungen sehr gut.

Kircheneiche in Grüntal/ Barnim

Es rollt gut , die Luft ist gut, der Barnim leuchtet in Sommerfarben. Hinunter nach Falkenberg zeigt sich bei 50 km/h mein Titangerät äußerst fahrstabil. In der Altstadt von Bad Freienwalde staune ich über die Inschrift “ Kaffeerösterei mit Kraftbetrieb“. Offensichtlich ist hier mit „Kraftbetrieb“ der Fortschritt ( elektrisch) gegenüber dem Handbetrieb gemeint. Das waren Zeiten.

Den Freienwaldern muss man heute zugute halten, dass sie ihre Stadt in einen sehr ansehnlichen Zustand versetzt haben in den vergangenen 30 Jahren. Mit nur wenigen Ausnahmen, die ich wieder einmal vor die Linse nehme.

Heute wähle ich nicht den Bahnradweg von Wriezen hinüber zur Oder, sondern kurve im Zickzack durch die Dörfer – einfach der Nase nach. In Beauregard lasse ich mich vom Ortsschild verleiten und finde mich auf einer Pflaster-Rumpelstraße wieder. Das Schönste an der Ansiedlung aus Kolonistenzeiten ist der Ortsname. Ansonsten entdecke ich nichts, was meinen Augen gut tut. Der Duft der umliegenden Hähnchen- und Schweinemastbetriebe treibt mich aus dem Ortsgebiet hinaus nach Osten.

Beauregard – schöner Blick. Da hat der Ort mit dem gleichnamigen Château am Genfer See, dessen Namen die Kolonisten um 1750 mitgebracht hatten , mehr Attraktives zu bieten.

Der blaue Oderbruchhimmel ist mit Cumuluswolken betupft. Das Wasser der Oder schimmert eher blauschwarz. Die erste Heuernte ist eingefahren, braun-beige liegen die Wiesen da. Einzelne Störche staksen auf der Futtersuche bedächtig umher. Rinderherden weiden diesseits und jenseits der Ufer. Wie schön, dass lange nicht alle dieser wunderbaren Tiere in riesigen Milchviehanlagen ihr trauriges Leben fristen müssen.

Bald erreiche ich Küstrin-Kiez. Vor mir erhebt sich der Reitweiner Sporn, bei Lebus rücken die Abbruchhänge nah heran an die Oder. Vor ein paar Wochen habe ich hier die letzten Adonisröschen bewundern können. Auf den Kilometern bis Frankfurt haben die Radwegebauer einige fiese Steigungen eingebaut. Wenige Höhenmeter, die aber auch in die Waden zwacken. In Frankfurt habe ich 160 Kilometer hinter mir, eigentlich ist es Zeit, eine Pension zu suchen und zu finden. Ich kurve an der Alten Oder entlang, bin flugs schon am Südrand der Stadt und wieder „in freier Wildbahn“. Kein Hotel will mir gefallen, auf Ziegenwerder sauge ich den letzten Schluck aus der Trinkflasche und lehne das Granfondo an eine knieende Frau an. Künstler unbekannt.

Ein paar Minuten später staune ich über ein verwahrlostes Gebäude – die ehemalige Stadthalle. Investor gesucht!

In Frankfurt sind erfreulicherweise viele sorgfältig restaurierte Schmuckstücke zu bewundern, mein Blick wird aber immer wieder von solchen „lost places“ gefangen. Mittlerweile ist es halb sechs geworden, ich habe bis auf einen Eiweißriegel und eine Banane noch nichts gegessen. Mit der Perspektive, in der nächsten Stunde ein lauschiges Hotel zu finden und dann ein leckeres Mahl zu mir nehmen, trete ich weiter in die Pedale. Ich träume vor mich hin und finde mich unversehens in einer Schleife nach Westen am Helenesee wieder. Kleine Ostsee wird der ehemalige Tagebau vollmundig genannt. Tagungszentrum, Campingplatz, Hostel, Pension. Aber: Rezeption geschlossen, Strand gesperrt. Eine „Maßnahme zur Abwehr von Gefahren früherer bergbaulicher Tätigkeit“ sorgt für Stillstand. Also rolle ich weiter durch den Wald.

Still ruht der See.

In Schlaubehammer tauche ich aus dem Wald auf und sehe wieder Zivilisation. Der Radweg an der Schlaube ist romantisch und verläuft in langen Bögen bis nach Weissenberg. Kein Hotel in Sicht, also befrage ich Google nach Unterkünften. In Aurith an der Oder werde ich fündig: Der Radlerhof ist Campingplatz, Imbiss, Pension und und. So die Beschreibung. Ich rufe an – der Chef wird sich auf den Weg machen und ein Zimmer richten. Ich muss also nicht am Oderstrand unter freiem Himmel nächtigen. Schöne Aussichten. 45 Minuten Kurbeln werden mir noch abverlangt, bevor ich Aurith erreiche. Der Radlerhof ist wirklich besonders: eine Mixtur von Imbissbude und vorgebautem Dach. Nebendran in einem renovierten, kleinen Haus ein paar Zimmer. Ich gönne mir an der Theke ein alkoholfreies Weizen zur Bekämpfung der beginnenden Dehydrierung. Es wirkt. Die Lebensgeister kommen wieder. Der Chef kommt auch und führt mich zum Abstellraum für mein Granfondo. Direkt neben der Tiefkühltruhe darf es sicher übernachten.Ein Dreibettzimmer steht mir zur Alleinnutzung mit Dusche und Toilette „überm Gang“zur Verfügung. Schnell ziehe ich mich um und bin fünf Minuten später wieder an der Imbisstheke. Jetzt bestelle ich ein Helles . Zwei Radler, die schwer bepackt auf dem Weg nach Norden sind, machen gerade eine Pause und berichten über ihre Pläne. Irgendwie ungläubig nehmen sie zur Kenntnis, dass ich heute knapp 200 Kilometer gefahren bin. Wir reden über Radfahren, Räder, Gott und die Welt. Als ich etwas zu essen bestellen will, beichtet der Chef, dass keine Speisen mehr verfügbar sind. KEINE! Also noch ein Bier und noch eins zum Mitnehmen aufs Zimmer. Um 21.30 Uhr liege ich flach. Hungrig, aber doch recht zufrieden mit dem Tag. Durst ist eben viel schlimmer als Hunger. Und Durst muss ich dank Neuzeller Klosterbräu nicht mehr leiden.

Mein Schlaf ist tief, und guter Laune sitze ich am nächsten Morgen um acht Uhr bei herrlichem Wetter erwartungsvoll am Plastetisch unterm Wellblechdach. Wie mag das Frühstücksgefühl hier bei 12 Grad, Wind und Regen sein? So what, denke ich, heute lacht aber die Sonne, und der Chef bringt gut gelaunt Kaffee, Brötchen, Wurst und Käse. Eine halbe Stunde später rolle ich schon südwärts auf dem Oderradweg gen Eisenhüttenstadt. Davon mehr im Bericht zur zweiten Etappe.

Schorfheide und Carinhall

Die auseinandergebrochene Silkebuche wirkt nach – ich entdecke mehr und mehr Buchen, die als Käfer- und Insektenhotel ihre Letztverwendung gefunden haben. Alte Bäume am Ende ihrer Lebenszeit, die aber immer noch einen Nutzen für andere Lebewesen bieten. So ist der Kreislauf der Natur, wenn der Mensch nicht oder nur behutsam eingreift. Ein Wald mit jungem Grün, das sich nach oben streckt, mit alten Baumkronen, die erhaben Schatten bieten, mit Buchen und Kiefern, die sich geradezu ineinandergedreht haben. Mit gemeinsamem Wurzelsystem. Friedliche Koexistenz.

Das riesige Waldgebiet war seit Jahrhunderten bevorzugtes Jagdrevier von Markgrafen und Kurfürsten, Kaisern und Königen, dann von Ministern und dem Reichspräsidenten Hindenburg der Weimarer Republik, dann übernahmen die kruden Köpfe der Nazidiktatur, mit Hermann Göring als oberstem Jagdmeister. Zuletzt jagten die Granden der DDR-Führung Hirsche und Rotwild. Die Schorfheide hat seit jeher eine starke Anziehungskraft für Freunde der Natur und leider auch für deren Ausbeuter. Zu denen zähle ich auch die sogenannten Jäger, die nichts Anderes waren als Jäger von Trophäen. Heutzutage sind die Freunde der Natur in der Überzahl. Sehr erfreulich.

Als ich nach dem besten Waldweg suche, der mich nach Norden führt, stoße ich zunächst auf den grob gepflasterten Groß Schönebecker Damm, der ursprünglich wohl als Weg für die kaiserlichen Kutschen angelegt worden ist. Heute werden eben ich und mein Basso vom Pflaster ordentlich durchgerüttelt. Die Wege tragen Namen wie: Großer und kleiner Kaisergrund und Königsgestell. Abseits des Hauptweges finde ich den Gedenkstein „Königseiche von 1843“.

Der kleine Granitblock erinnert an Friedrich Wilhelm IV, der auch das Jagdschloss Hubertusstock errichten ließ – eher ein großes Landhaus als ein echtes Schloss. Geprotzt hat er wohl mehr in Potsdam bei der Erweiterung der Schlösser. Die Jagd war seine große Leidenschaft, die Schorfheide war königliches Jagdrevier. Kein Normalsterblicher durfte hier ungestraft die Büchse anlegen. Schon mehr als 10 Kilometer kurve ich in diesem Riesenwaldgebiet herum und sehe keine Menschenseele. Eichen, Buchen und auf den nächsten Kilometern in Richtung Norden und Groß Döllner See immer mehr Kiefern. Auch riesig gewachsene, alte Exemplare sind dabei. Und drunter ein grüner Teppich von Heidelbeeren.

Ein Findling trägt die Aufschrift „Bärens Kirchhhof“. Ob hier einmal Bären gelebt haben? Meine Recherche ergibt, dass die letzten Exemplare der sogenannten Beutegreifer, die den Jagdherren die Beute streitig machten, von den Menschen im 16. Jhd. hier ausgerottet wurden. Der Stein mit der „Bärens“- Inschrift deutet hingegen auf den Heidereiter Bärens hin, der unter mysteriösen Umständen hier ums Leben gekommen sein soll.

Weiter rolle ich auf schnurgerade angelegten Forstwegen nach Norden und sauge saubere Waldluft ein. An den wichtigen Wegekreuzungen stehen die alten Hinweissteine. Mein Garmin ist hier überflüssig. Navigation ist hier auf Stein geschrieben seit vielen Jahren.

Kurz bevor ich den Wuckersee erreiche, staune ich über zwei bemerkenswerte Torwärterhäuschen und die zugehörigen Gebäude. Hier, mitten im Wald!

Irgendwie deplatziert und ungewöhnlich. Dahinter dann erstreckt sich ein etwa ein Kilometer langer, schnurgerader Weg. Breiter als die üblichen Forstwege und mit feinem Splitt belegt. Während ich noch nachsinniere, löst sich das Rätsel am Ende des Weges an einem Granitstein auf: Ich stehe vor einem Granitblock mit der Aufschrift „Carinhall“.

Hier also stand einmal das Prunkanwesen vom Reichsjägermeister Hermann Göring. Hier ließ sich der offensichtlich wahnsinnig geltungsbedürftige Machtmensch eine Art Jagdschloss bauen. Mit Skulpturen, Gemälden, aufwändiger Möblierung. Allein die Wohnräume nahmen über 11000 Quadratmeter Fläche ein, dazu kamen noch 15000 Quadratmeter Innenhöfe. Seine erste Frau, Carin, die schon 1931 in Schweden gestorben war, ließ er aus ihrem ersten Grab in Schweden in die Schorfheide transportieren und in eine dafür angelegte Gruft umbetten. Adolf Hitler und viele Nazigrößen waren bei pompös inszenierten zweiten Beisetzung dabei. Wer über Carinhall Details erfahren möchte: hier nachzulesen: Carinhall

Wer an diese Ort Monumentales, Sehenswertes, Erstaunliches sucht, sucht vergeblich. Von dem ehemaligen Anwesen sind nur noch Spuren erkennbar: Fundamentreste, höhlenartige Eingänge zum Bunker, Betonteile. Sonst nichts, einfach nichts. In den letzten Tages des Krieges hatte Göring, der schon nach Berchtesgaden geflohen war, alles Wesentliche, alles Wertvolle wegtransportieren lassen. Als die sowjetischen Soldaten immer näher rückten, ließ er seine Wachmannschaft mittels 80 Fliegerbomben die ganze Herrlichkeit dem Boden gleichmachen. Und so sieht das Gelände auch heute noch aus. Bäume und Sträucher haben sich ausgebreitet, nur schmale Trampelpfade führen durch das Dickicht hinüber zum Steilufer des Groß Döllner Sees. Das Wenige, das hier noch zu finden war, haben in den Jahren „Schatzsucher“ weggetragen.

Geblieben oder besser wiederentwickelt hat sich die ursprüngliche Natur. Der See liegt ruhig da. Wer allein sein will, ist hier genau richtig. Nur kurze Abschnitte des Uferpfades sind befahrbar, schieben ist meistens angesagt. In Gollin hat mich die Zivilisation wieder, und im 400-Seelen-Örtchen Vietmannsdorf backt die Bäckersfrau auch in unseren Tagen noch selbst wunderbares Natursauerteig-Brot. Ich genieße einen großen Kaffee und einen süßen, riesengroßen Krapfen. Neben mir plauschen zwei einheimische Senioren über das Ortsgeschehen und die politische Lage.

„Jwd“ ist man hier: Janz weit draußen. Bald bin ich wieder auf Südkurs und rolle am Havelkanal gen Liebenwalde. Ein Schwanenpaar behütet ihre Jungen und quittiert meine Annäherung mit vernehmbarem, warnenden Zischen.

Noch 40 lockere Kilometer sind es bis nach Hause. Meine Gedanken sind noch in der Schorfheide und der duftenden Natur, der Einsamkeit des riesigen Waldgebietes und auch beim „lost place“ Carinhall mit seiner Vergangenheit.

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Die Silkebuche – in Memoriam

Diese Buche ist für mich die schönste und die älteste, die ich je gesehen habe. Über 300 Jahre hat sie ihre mächtigen Äste in den Himmel gestreckt, hat mit ihrer erhabenen Erscheinung sicher abertausende Menschen beeindruckt und genausoviel Weidetieren in früherer Zeit als Hutebaum Schutz geboten. Als ich diesen Baum zum ersten Mal sah, konnte ich mich nicht sattsehen am moosigen Grün des Stammes, an der unglaublich weit auskragenden Krone mit den stammdicken Einzeltrieben. Ein Baum, der mich in seinen Bann zog mit seiner Größe und seiner Gestalt.

Im Mai 2020 konnte ich sie noch in voller Pracht bewundern. Sie bot Schutz vor Sonne und vor Regen, wie ein riesiger Schirm wölbten sich die Äste in die Breite. Ich staunte über das statische Wunderwerk der Natur. Da ahnte ich noch nicht, wie krank die Buche schon lange im Inneren war. Borkenkäfer und ihre Verwandten haben über viele Jahre ganze Arbeit geleistet. Die Pilze erzeugten Braun- und Weißfäule. Bis der mächtige Stamm im Inneren komplett marode war und irgendwann nicht mehr in der Lage, die Last der mächtigen Äste zu tragen.

Die Silkebuche ist nun eine Nahrungsquelle für die Käfer, die Pilze und auch die Bäume, die nach ihr hier wachsen werden. Der Kreislauf der Natur! Aus vergangenem Leben wächst neues Leben.

Erinnern werde ich mich immer an den Kraftbaum, wie ich ihn das erste mal sah, riesig, mächtig, voller Ausstrahlung: wie hier zu sehen.

Der Sage nach hatte einst ein Förster den 30. Geburtstag seiner Frau Silke vergessen und kein Geschenk besorgt. Daraufhin wollte er sich voll Gram und Scham im Wald erhängen. Doch da sprach ihn ein kleines Männlein an und gab ihm den Rat, seiner Frau doch diese schöne Buche zum Geschenk zu machen. Der Förster eilte nach Hause, nahm seine Frau an die Hand und führte sie zu der Buche. Dort stand inzwischen – wie von Zauberhand hingestellt – eine festliche Tafel, gedeckt mit allem, was das Herz begehrt, und der Förster feierte mit seiner Silke bis in die tiefe Nacht hinein.

Silke ist seit 300 Jahren nicht mehr, auch der Förster wird das Zeitliche seit Jahrhunderten gesegnet haben. Die Geschichte aber lebt. Auch jetzt noch, wo die Silkebuche sich darniedergelegt hat.