Teil 1
Wenn man alt wird, wird es Zeit, die Stätten der Jugend wieder aufzusuchen, zu schauen, wie es jetzt dort aussieht, wie sich Menschen und Kultur und Natur entwickelt haben. Mit dem wunderbaren 49 € Ticket ausgestattet, sollte es doch ein Leichtes sein, in die alten Heimatgefilde zu reisen. Gedacht, geplant, getan. Vier bis fünf Tage will ich unterwegs sein und dem Granfondo zeigen, wo ich geboren und aufgewachsen bin.
Abfahrt pünktlich vom Bahnhof Spandau.

Erster Umstieg pünktlich in Rathenow. Dort treffe ich völlig unerwartet und überraschend einen alten Daimler – Kollegen. Michael begrüßt mich nach 20 Jahren so, als hätten wir uns noch am Vortage im Büro gesehen. Was sind schon 20 Jahre. Michael ist auf dem Weg nach Wolfsburg zu seinem Arbeitgeber Volkswagen – Training. Nach Stationen bei Fiat und Chrysler ist er bei seiner voraussichtlichen letzten beruflichen Station vor dem Ruhestand angekommen. Wir unterhalten uns angeregt. Die Zeit fliegt. Schon sind wir in Stendal. Wir warten auf den RE nach Wolfsburg und Hannover. „Zug fällt aus“, so schallt es nach einer halben Stunde ohne weiteren Kommentar aus den Bahnsteiglautsprechern. Mütter mit Kinderwagen, Reisende mit dick gepackten Koffern, und auch wir beide stehen mit einem Fragezeichen auf der Stirn am Gleis. Schließlich steigen wir in den Zug nach Magdeburg. Das ist ja schon ein paar Kilometer näher am Tagesziel. In Magdeburg trennen sich unsere Wege. Michael will in den RE nach Hannover, ich entscheide mich für den Weg über Braunschweig. 30 Minuten später sitze ich gut gelaunt im nur spärlich besetzten Abteil. “ Wir haben Schwierigkeiten auf der Strecke, die Oberleitung ist defekt“, kommt die Info nach 20 Minuten . Der Zug endet in Helmstedt. Ja, er endet dort! Weiter geht es nur für Menschen, die ohne Rad unterwegs sind, nämlich mit einem Bahnersatzverkehr. Nur eben kein Ersatz für mich! Der Busfahrer ist zwar nett, aber deshalb kann er mich trotzdem nicht mitnehmen. Die Luft ist frisch, der Weststurm bläst mir heftig ins Gesicht auf dem Weg über die Hügel nach Braunschweig. Was hilft es, sage ich mir, getreu dem Sprichwort: „Freu dich, wenn es regnet. Wenn du dich nicht freust, regnet es auch“.

Ich freue mich nicht über den heftigen Gegenwind, der meine Kräfte arg strapaziert. Nach zwei Stunden und 40 Kilometern Kurbelei stehe ich vor dem Bahnhof der Stadt, die einen Löwen im Wappen trägt. Wunderbarerweise fahren auch Züge von hier weiter in Richtung Westen, wo schließlich mein Tagesziel liegt. Allein, bis Hamm, wo ich eigentlich am Nachmittag ankommen wollte, werde ich es nicht mehr schaffen. Heute ist für mich Hameln Endstation.
Die Altstadt, das Hotel „Zur Börse“ und die netten Menschen versöhnen mich mit den Misslichkeiten der Bahnfahrt. Pasta und leckerer Rotwein beim Italiener schaffen eine gute Voraussetzung für wohlige Gedanken und tiefen Schlaf.



Am nächsten Morgen stehe ich um halb neun Uhr wieder auf dem Bahnsteig, hoffend, dass der Zug nach Paderborn, Soest und Schwerte durchhalten möge. Das Unerwartete passiert: Die Züge sind pünktlich! Um die Mittagszeit arbeite ich mich an den Ruhrradweg heran. Welche Wohltat. Grüne Auen, weidende Rinder, nur ein paar Industrieschlote stören den Ausblick. Dann biege ich ab an die Lenne, die mich die Orte meiner Geburt, meiner Schulzeit führen wird.
Bei Hohenlimburg staune ich beim Überqueren der Lenne über eine Kanu-Slalomstrecke, auf der drei Wasserratten trainieren. Der Lenneradweg ist nur mäßig beschildert, genauso mäßig, wie die Wegführung und die Beschaffenheit der Fahrbahn. Auf der Homepage wird auch folgerichtig Familien mit Kindern die Fahrt per Bahn von Letmathe bis Werdohl empfohlen. Kleine Abschnitte führen am Fluss entlang, meistens finde ich mich auf der B 236 wieder, wo die LKW in Kolonnen unterwegs sind. Für ungeübte Radler absolut nicht zu empfehlen! „Gegen Ende der Route geht es vermehrt durch Städte und der Radfahrer bekommt einen Eindruck vom pulsierenden Leben des Ruhrgebietes. “ So ist die Strecke auf der Internetseite https://www.radeln-nach-zahlen.de/de/outdooractive-touren/lenneroute beschrieben. Ja, stimmt! Durch die Stätten der ehemaligen Metallindustrie. Hammerwerke, Metallverarbeitung, Drahtziehereien, Schmieden. Im 19. und 20. Jhd. erblühte hier der Wohlstand. Die Industrialisierung begann. Die Menschen erlebten Aufstieg und Wohlstand. Jedenfalls relativ zur Situation davor. Das gesamte untere Lennetal ist geprägt durch diese Geschichte. Das Ende der Hoch-Zeit habe ich selber erlebt. Jahrelang konnte ich in den Semesterferien gutes Geld für harte Arbeit im Federnwerk Brüninghaus in Werdohl verdienen. 10 Tonnen Stahl habe ich damals pro 12-Stundenschicht bewegt. Ich hatte eine Garantiebeschäftigung in diesen Jahren. Mein erstes Auto habe ich so finanzieren können.




Heute stehen noch die Mauerhüllen der alten Betriebe, manchmal wiederbelebt mit Industrie und Handel der Neuzeit. Aber das ist offensichtlich die Ausnahme. Die Stadt Altena hatte 1970 noch 32000 Einwohner, heute sind es noch gerade die Hälfte. Bei Werdohl mit ehemals 24000, heute noch 17000 Einwohnern, sieht die Entwicklung ähnlich aus.










In Altena quere ich die Lenne hinüber zur Altstadtseite unter der Burg. Tristesse, so kann ich nur mein Gefühl beschreiben, das mich beim Betrachten der vielen leeren Schaufenster in der Lennestraße erfasst. Trotz dieser misslichen Lage erlebe ich viele Menschen gut gelaunt und freundlich. Von oben schaut die mittelalterliche Burg souverän auf das Zeitgeschehen herab. Hier gründete im Jahr 1912 der Lehrer Richard Schirrmann die erste Jugendherberge der Welt. Und es gibt sie auch heute noch. In der Burg residiert auch ein Drahtziehermuseum. Draht, Eisen, Stahl… damit wurde diese Gegend wirtschaftlich groß. Der ehemalige Wohlstand ist nur noch zu erahnen. Mein Uropa hat hier 40 Jahre lang als Drahtzieher gearbeitet.
In Altena biege ich ab in das Rahmedetal, wo ich meine ersten Kinderjahre verbracht habe, wo mein Geburtshaus steht. Minutenlang muss ich warten, um von der einen auf die andere Straßenseite zu kommen, so extrem ist der Verkehr, der nach dem Abriß der Autobahnbrücke durch dieses Nadelöhr strömt. Draht wird hier immer noch gezogen, ist unschwer an den gestapelten Rollen zu erkennen.






Bei Trurnit stellen noch 20 Mitarbeiter Kunststoffteile für die Bauindustrie her…
Auf dem Gebiet der Kaltwalztechnik ist die Region führend. Nur eben mit wesentlich weniger Beschäftigten als früher.
Dann erreiche ich Oberrahmede, das am 7. Mai 2023 Berühmtheit durch die Sprengung der Autobahnbrücke erlangte. Die Anwohner werden auf Jahre brutal durch den kompletten Autobahnverkehr, der über die ansonsten wenig befahrenen Nebenstraßen geführt wird, belastet. Ich habe in den Jahren 1965 bis 1968 erlebt, wie die Brücke gebaut wurde. Heute nur noch Betonschrott. Nachhaltig geht anders.

Auch in lang vergangenen Zeiten war nicht alles besser! Ich erinnere mich an meinen Schulweg, der am Rahmedebach entlang führte. Dicke, graubraune Würste hatten sich an den hineinragenden Zweigen abgelagert. Chemie und Gift pur. Die Abwässer der Industriebetriebe wurden ungefiltert in das Gewässer geleitet. Kein Fisch, kein Frosch, nichts konnte hier über Jahrzehnte leben. Heute leben in der Lenne wieder Forellen, Hechte und Karpfen.
In Dünnebrett arbeite ich mich zu meinem Geburtshaus hoch. Das alte Siedlungshaus aus den 30er Jahren ist hübsch renoviert, die Mieterin lässt mich bereitwillig hinein. Ich bekomme feuchte Augen. Das alte Treppengeländer erkenne ich noch genau. Auf vielleicht 55 Quadratmetern habe ich damals mit meinen Eltern und Großeltern gewohnt. Kochecke, Waschecke, keine Dusche… Nach einer Stunde Eintauchen in die alte Zeit mache ich mich auf den Weg nach Lüdenscheid. Hier habe 1970 am Zeppelin-Gymnasium mein Abi gemacht.
Die Innenstadt lebt, wenn auch die ehemaligen großen Kaufhäuser nur noch als Hülle existieren.





Mein erstes Fernglas kam von Optik Hohage, meine erste Cordjacke von Strodel und Jäger. Beide Läden existieren bis zum heutigen Tage.
In der Altstadt trage ich mein Granfondo über diverse Treppen und rumpele über altes Pflaster. Die kleinen Hotels sind verschwunden oder zumindest geschlossen. Schließlich buche ich im Mercure am Stadtpark, wie das Hotel aktuell heißt. Vormals Queens, Hollstein, Crest und Ramada. Elf Stockwerke hoch steht der Gebäudeklotz seit 1974 hier. Ich bekomme ein Zimmer im sechsten Stock mit Fernblick ins Bergische Land. Mein Granfondo darf mit auf mein Zimmer. Dass ich hier mal im Hotel übernachten würde, hätte ich vor 50 Jahren nicht geträumt

Auf der Terrasse des Cafés Extrablatt auf dem Rathausplatz lasse ich bei einem vegetarischen Teller und einem Bier die verflossenen Jahre Revue passieren. Wehmut!



Ich genieße den Sonnenuntergang und den Übergang in den Nachthimmel bei einem guten Glas Weißwein. Dann schlummere ich tief und freue mich auf die nächste Etappe hin zur Volme und dann die Ruhr hinab. Pro Tag etwa 100 Kilometer. Mehr müssen es auch nicht sein bei soviel Gedenkpausen.
Im zweiten Teil meines Berichts schreibe ich über die Tour entlang der Volme und der Ruhr.

Ja, das zu sehen, tut schon weh, aber es gibt auch sehr gute Entwicklungen. Auch hier gibt es durchaus hightech. Kleine Unternehmen. Im Teil 2 werde ich das beschreiben. Al the best Dietmar
Lieber Dirk, sicher gibt es auch positive Entwicklungen in der Region. Nur fallen die negativen so stark auf. Dafür habe ich viele nette Menschen erlebt. Beste Grüße Dietmar
Lieber Dietmar,
ich bin ja auch ein Kind der Rahmede und habe deinen Bericht natürlich mit Neugier verfolgt. Du beschreibst es treffend. Ich war kürzlich in Altena und habe genau wie du den Niedergang der Stadt sehen können, deprimierend.
Eine spannende Reise hast du gemacht, Respekt.
Beste Grüße,
Dirk
Dietmar! Dein Bericht geht ans Herz, soweit Du Deine alte Gegend und ihre Veränderungen, Deine Vergangenheit und Deine früheren Beschäftigungen reflektierst. Herzlichen Dank.
Um „gefällt mir“ zu drücken muss ich mich einloggen , was irgendwie nicht gelingt. Also auf dies