An diesem Februartag will ich meine mäßige Stimmungslage mit einer Fahrt an die Oder aufhellen. Das hat bislang immer noch funktioniert. Wobei heute der Himmel grauverhangen ist. Dafür schiebt der frische Westwind mich erst einmal kräfteschonend hinein in die Wellen des Barnim. Mein Basso-Crosser freut sich, dass ich ihn endlich wieder in die Landschaft führe. Die Straßen sind noch regennass, ich bin froh, dass ich die langen Schutzbleche von SKS montiert habe. Für ein Winterrad gehört sich das schließlich so. Bernau liegt bald hinter mir, die Windräder vor Tempelfelde empfangen mich mit vernehmbarem Rauschen. An einem Waldrand bei Heckelberg haben Anwohner ein Plakat mit „Keine Photovoltaikanlagen auf Ackerflächen“ am Zaun befestigt.

Dahinter ist eine eher barackenähnliche Unterkunft zu erkennen. Einnahmen aus solchen Anlagen wären sicher hilfreich für ein Sanierungsprojekt des Anwesens. Und den Anblick von Landschaft und der übrigen riesigen Ackerflächen würde das auch nicht beeinträchtigen. Meine ich. Offensichtlich sehen das ein paar Menschen hier anders. Ein paar Dörfer weiter prangt an einer Scheunenwand „Keine Windkraftanlagen in der Barnimer Heide“

Und wo soll zukünftig der Strom herkommen? Aus dem Kohlekraftwerk Jänschwalde und aus Northstream 2 jedenfalls nicht. Sollte sich das noch nicht bis in diese Gegend herumgesprochen haben?
Nachdenklich und auch mit Unbehagen im Bauch rolle ich weiter. Dann genieße ich die Abfahrt hinunter ins Oderbruch über Falkenberg und dann nach Freienwalde. Am Ortsrand kann man im Schlachthausgebäude aus 1899 immer noch Fleischwaren einkaufen.

Mein Magen knurrt zwar schon unangenehm, aber als Flexitarier rolle ich lieber weiter zur Bäckerei vom NETTO neben dem Freienwalder Bahnhof. Hier ist die Bedienung nett und Milchkaffee nebst Käsebrötchen sind von bester Qualität. An der Wand hängt das Informationsangebot des Tages in Form von BILD und MOZ. Ich erfahre, dass Tony Marschall kaum Vermögen, dafür aber mehr als 50 Perücken hinterlassen hat. Der Wetterdienst warnt vor Sturm mit Böen bis 80 km/h. Soll mir recht sein, solange die Windpower mich hin zur Oder und rauf nach Schwedt treibt. Es bleibt bei einigen, wenigen Regentropfen, die kaum die Nässefestigkeit meiner neuen Gore-Thermo-Trail auf die Probe stellen. In Schiffmühle biege ich in Richtung Oder ab, vorbei am Haus von Fontanes Vater.



In Hohensaaten bin ich endlich an der Oder. Der Ort ist eine Radlerhochburg, lese ich auf dem Schild im Rahmen eines angegammelten Zweirads aus vergangenen Zeiten. Dahinter steht schief und verwittert der Wegweiser zur Ostsee. Heute ist irgendwie alles grau.

Von den knapp 700 Hohensaatenern sind mehr als die Hälfte Senioren. Daraus leitet sich der Titel „Ältestes Dorf Brandenburgs“ ab. Als um 1900 die Schleusen zur Verbindung der Oder an die Oder-Havel-Wasserstraße gebaut wurden, lagen hier die Schiffe der Wohlhabenden vor Anker. Heute wandern immer mehr junge Menschen ab. Die Alten werden weniger. Seit der Eingemeindung nach Bad Freienwalde gibt es keine Bevölkerungsstatistik mehr. Keine Ärzte, keine Schulen, keine Geschäfte…
Erst ein paar Kilometer weiter, in Lunow, kann der hungrige und durstige Radler sich stärken. In der Gaststätte Quilitz gibt es Knacker vom Auerochsen, gegenüber beim Fleischer Künkel Eintopf, Kaffee oder auch Bier.



Und in Stolpe, unterhalb des dicken Turms, betreiben seit Sommer 2022 zwei junge Männer das Café „Milchbuben“– in der Nachfolge vom „Fuchs und Hase“. Angebot und Ambiente sind geblieben. Ich freue mich schon auf meine nächste Tour, die ich auf die Öffnungstage Do-So legen werde.
Es wird langsam dämmrig, so richtig hell ist es eh heute nicht geworden. Kalt und feucht und windig. Da heißt es weiter kurbeln, warm bleiben. Und vom fiesen Wetter nicht die Laune vermiesen lassen.
Die Kopfweiden, die in langen Reihen am Deich stehen, sind frisch beschnitten. Bald werden sie wieder austreiben und mit ihrer Wuchsgeschwindigkeit beeindrucken. In früheren Zeiten wurden aus Weidentrieben Körbe, Reusen und Geflechte für das Fachwerk der Häuser gefertigt. Alte Weidenbäume sind wahre Refugien für Insekten, Würmer und Vögel.


Bei Criewen, schon nahe bei Schwedt, sind die Oderauen überflutet. Die Natur kann Wasser tanken, speichern und sich von den Monaten der Trockenheit erholen. Der Radweg verläuft zwischen der Alten Oder oder Faulen Oder, dem Oder-Havel-Kanal und dem Hauptfluss. Dazwischen mäandern zig Kleinarme und bilden den Nationalpark Unteres Odertal.
Gegen 16.30 Uhr rolle ich ein in Schwedt, einer Stadt, die wie kaum eine andere von Krieg, Nachkriegszeit, Nachwendezeit und jetzt der Zeit der „Zeitenwende“ gebeutelt und geprägt ist. Am Ende des 2. Weltkrieges waren nach heftigsten Kämpfen 85 % der Gebäude und Infrastruktur zerstört. In den 50er und 60er Jahren erlebte die Stadt einen industriellen Aufschwung, der hauptsächlich der Raffinerie zu verdanken war, in der bis zu 8000 Menschen beschäftigt waren. Über die Ölpipeline „Druschba“ – Freundschaft, wurden mehr als 10 Mio. Tonnen russisches Erdöl pro Jahr angeliefert und zu Benzin, Diesel und Kerosin verarbeitet. In alter Zeit, im 18. Jhd. gab es hier Tabakfabriken und das größte Tabakanbaugebiet Deutschlands.
Nur ganz wenige alte Gebäude haben die Zeit überdauert. Einen historischen Stadtkern sucht man in Schwedt vergebens. Nur der Berlischky-Pavillon, eine ehemalige Kirche der Französisch-reformierten Kirche aus dem Jahre 1777 steht vereinsamt an der B 166, der Lindenallee, die ansonsten von Mietskasernen flankiert ist.



Und gegenüber, passenderweise vor dem Standesamt, steht diese kleine Skulptur des Bildhauers Axel Schulz.
… Und ich hatte gedacht, der Axel wäre ein Schwergewichtsboxer.
Neben dem Pavillon führt die Straße zum Bahnhof, den ich zum Tagesziel auserkoren habe. Wieder einmal, schon wieder. In den vergangenen Jahren bin ich geschätzt 20-mal allein oder mit Freunden hier angekommen. Von hier fährt der Regio jede Stunde nach Berlin. Und vor dem Bahnhof, der kein eigenes Gebäude besitzt, steht das Steakhouse Mendoza, in dem wir regelmäßig unsere Wartezeit verkürzt haben. Heute bleiben mir nur 20 Minuten – für ein großes, gezapftes Bier reicht die Zeit.

Mein Basso darf mit in den Zug. Für Pendler sind die Bikeboxen ideal, um die Räder sicher zu parken.
Um 20 Uhr komme ich bei Nieselwetter und grauem Himmel und eiskaltem Wind guter Laune wieder zu Hause an.
„Wenn du niedergeschlagen bist, wenn dir die Tage immer dunkler vorkommen, wenn dir die Arbeit nur noch monoton erscheint, wenn es dir fast sinnlos erscheint, überhaupt noch zu hoffen, dann setz dich einfach aufs Fahrrad, um die Straße herunterzujagen, ohne Gedanken an irgendetwas außer deinem wilden Ritt.“ – Arthur Conan Doyle