Birnen, Lady Agnes, Bernsteinzimmer und Wunderblut

Die Wettervorhersage für den 30. April verspricht einen warmen, fast wolkenlosen Tag mit spürbarem Ostwind. Beim Frühstück entsteht vor meinem inneren Auge eine Strecke hinein ins Havelland und dann an die Elbe. Ein kleiner Film mit den Bausteinen aus vergangenen Brevets, Ausfahrten mit Freunden und all den Touren, die ich mit dem alten Colnago, dem Basso, dem Endurace oder immer öfter mit meinem Granfondo gemacht habe. Heute flüstert mir einmal mehr das Titangerät ins Ohr, es sei doch wohl das ideale Gefährt für diese Tour. Zumal das angebaute, leichte Aeropack von Tailwind weiter erprobt werden will. Die Contis sind auf 6 Bar aufgepumpt, Kette und Ritzel gereinigt und sparsam geölt. Die Trinkflaschen sind mit Isogetränk gefüllt, und zwei Eiweißriegel stecken in der Fronttasche.

Los geht es nach Westen über Hennigsdorf und Nauen auf den Havelland-Radweg. Bei Bötzow ein kurzer Fotostopp am Meilenstein, den ich wieder einmal durch Anlehnen auf seine Standfestigkeit überprüfe.

Granfondo mit Tailfin-Aeropack am Meilenstein zwischen Hennigsdorf und Bötzow

Über Wansdorf und Pausin nach Paaren im Ländchen Glien, wo gerade die Brandenburgische Landwirtschaftsschau vorbereitet wird.

Ab Nauen rolle ich auf dem Havelland-Radweg durch duftende Rapsfelder hinüber nach Ribbeck, wo ich wieder einmal nach dem im Jahr 2000 gepflanzten Birnbaum schauen will. Geht es ihm gut? Hat er geblüht? Wird er Früchte tragen?

Seit dem vergangenen Jahr hat er wieder erkennbar an Höhe und Umfang zugelegt. Der Römischen Schmalzbirne scheint es zu gefallen am Standort des ursprünglichen, im Gedicht besungenen Segensbringers. Zur Erntezeit werde ich sicher wiederkommen und mir eine süße Frucht gönnen, so mir die Touristen welche übrig lassen. Das Schloss Ribbeck strahlt in der Frühlingssonne; im Park davor liegen die drei Havelnixen des Bildhauers Knuth Seim. Mein Granfondo will gar nicht mehr weg von hier.

Im Schloss werden mannigfaltige Ausstellungen gezeigt, der Park kann sich sehen lassen. Und Fontane würde sich sicher über den Stellenwert seines Gedichtes freuen. Wobei man dem Dichter sicher nicht gerecht wird, wenn man ihn auf die Birnbaum-Ballade reduziert. Zumal er von sich selbst sagt, dass Gedichteschreiben nicht zu seinen Stärken zählte. Der kleine Ort Ribbeck hat sich in den vergangenen Jahren zum wahren Kleinod entwickelt. Fast hätte ich mich von den in der Alten Schule angebotenen Kuchenköstlichkeiten zur Pause verführen lassen. Aber es ist gerade Mittag, da sollte ich noch ein paar Kilometer machen. Über Pessin und Senzke erreiche ich die Ortschaft Haage, wo ich mich von einem Wanderweghinweis nach Görne verführen lasse, mich über den tiefsandigen Waldweg nach Westen vorzuarbeiten. Zwanzig Minuten absteigen, aufsteigen, fluchen… Dann bin ich wieder auf festem, fahrbaren Grund. Als Belohnung für die Mühen beginnt in Görne ein wunderbarer Radweg, der nur abschnittsweise durch die typische „Platte“ unterbrochen ist. Aussichten, Weite, Havelland eben. Vom Feinsten!

Auf den 15 Kilometern hin nach Stölln begleite ich einen Mountainbiker, der die Strecke schon früh um fünf gefahren war. „MdRzAuz“ : so lautet die gängige Abkürzung auf STRAVA für: Mit dem Rad zur Arbeit und zurück. Er freut sich auf seinen Feierabend, ich genieße die kundige Begleitung. Nahe Stölln, vor dem Gollenberg, wächst die Lady Agnes beim Näherkommen immer höher aus den Wiesen zum vollen Format. Sie steht am wahrscheinlich ältesten Flugplatz der Welt, wo Otto Lilienthal schon 1893 die ersten Flugversuche mit seinen Gleitern machte. Drei Jahre später stürzte er aus 15 Metern Höhe, durch eine Windböe aus dem Gleichgewicht gebracht, zu Tode. Oben, auf dem Gollenberg erinnert ein Denkmal an den Urvater der Fliegerei. Am Rande des heutigen Segelflugplatzes steht zu Ehren und Erinnerung an den Flugpionier auch die IL 62 , ein Geschenk der DDR-Interflug an die Gemeinde Stölln. Flugkapitän Kallbach brachte den Jet am 23.Oktober 1989 spektakulär auf der 900-m-Graspiste auf den Boden und zum Stehen. Normalerweise braucht eine IL 62 zur ordentlichen Landung eine 2500 m lange Betonbahn.

Die „Lady Agnes“ ist nach Agnes Fischer, der Frau von Otto Lilienthal benannt.

Ich lasse die Lady hinter mir und fahre den Hügel zur Ortschaft Stölln hinunter. Hier steht als Blickfänger eine ausgemusterte Zlin Z 37 Cmelak ( Hummel), die ich schon so oft fotografiert habe. Bei Brevets, beim Zeitfahren Hamburg-Berlin, bei zahlreichen Touren mit Freunden.

Auf der Wiese vorm Museum nisten in symbolischer Weise für die Vorbilder der Lilienthal-Gleiter zwei Störche, die sich auch dieses Jahr das prominente Nest ausgesucht haben. Sie wissen offensichtlich um die Geschichte und ihre Bedeutung. Drinnen hängt unter der Decke ein ausgestopftes Exemplar mit ausgebreiteten Schwingen.

Die nächste Pause will ich in Havelberg machen und endlich einmal den riesigen Dom, der so klotzig und trutzig auf der Hangkante über der Havelaue thront, aus der Nähe betrachten. Er sieht mehr aus wie eine Festung als eine Kirche. St. Marien besitzt keinen echten Turm, dafür aber den riesigen 33 Meter hohen Westriegel, der aus Backstein und Grauwacke gebaut ist. Das Bauwerk stammt in seiner Urform aus dem 12. Jahrhundert und wurde mehrfach ergänzt und umgestaltet. Eine Schönheit ist er dadurch nicht geworden, imposant ist er allerdings. Etwa 40 Höhenmeter muss ich einen steilen Weg erklimmen, bis ich auf dem Domplatz stehe. Mit dem Kopf im Nacken mache ich ein paar Fotos und brauche mein Weitwinkelobjektiv, um das Bauwerk ganz aufs Bild zu bannen. In der ehemaligen Domschule, gegenüber der Kirche, residiert das italienische Restaurant La Cucina. Es sieht sehr einladend aus mit der herrlichen Terrasse und dem Blick über die Stadt. Weizenbier und Apfelstrudel munden köstlich und bringen verbrauchte Energie schnell wieder in meinen Körper.

„In der einstigen Propstei, direkt neben dem Dom, unterzeichneten Zar Peter I. und König Friedrich Wilhelm I. am 27. November 1716 die ‚Konvention von Havelberg‘ im Rahmen der antischwedischen Koalition. Gastgeschenke: as Bernsteinzimmer und die Staatsyacht gegen 200 ‚Lange Kerls‘ für den Soldatenkönig.“ Dieser Text auf der Tafel an der ehemaligen Propstei am Havelberger Krankenhaus erinnert seit vielen Jahren an den Besuch beider Monarchen“ ( Zitat aus der Seite des Havelberg-Heimatvereins).

Beim Lesen dieser Zeilen bekomme ich eine Ahnung davon, dass in diesem kleinen Ort vor 300 Jahren große Politik gemacht wurde. Heute würde man sagen, Friedrich Wilhelm I. und Zar Peter I. hatten einen Deal gemacht. In der Zeit des Aufenthalts in Havelberg haben die beiden Herrscher den Berichten nach Feste gefeiert, viel getrunken und gegessen und waren wohl kaum nüchtern beim Verhandeln. Irgendwann ist der Zar dann auf der ihm von Friedrich geschenkten Yacht, oder besser, dem luxuriösen Holzboot, wieder zurück gen Petersburg geschippert. Das legendäre Bernsteinzimmer wurde kurze Zeit darauf von Berlin zum Zarenpalast transportiert.

Und das alles geschah hier, in Havelberg, dem Städtchen mit heute gerade 6500 Einwohnern.

Nach der wohltuenden Rast mache ich mich auf den Weg nach Bad Wilsnack und seiner Wunderblutkirche. Über Quitzöbel, wo die Havel in die Elbe mündet, nähere ich mich von Süden her Bad Wilsnack. In den Jahren von 1382 bis 1552 pilgerten tausende Gläubige zu den „Bluthostien“, die in der Wunderblutkirche aufbewahrt wurden. Hier die Geschichte in kurzer Fassung aus Wikipedia:

Im August 1383 wurde der in der Prignitz gelegene Ort Wilsnack von Raubrittern gebrandschatzt. Auch die Kirche wurde stark beschädigt, und der Priester des Ortes fand drei mit Blut befleckte Hostien. Dies wurde als ein Wunder gedeutet und zog bald Tausende von Pilgern an, die auf Heilung von Krankheiten oder Straferlass hofften oder später auch zur Vollstreckung von testamentarischen Anordnungen kamen. Durch die Abgaben und Spenden der Pilger konnte in Wilsnack eine große Wallfahrtskirche St. Nikolai gebaut werden, und es wurde schließlich zu einem der fünf bedeutendsten Wallfahrtsorte Europas.

Friedrich II. von Brandenburg pilgerte zwischen 1440 und 1451 sechs Mal nach Wilsnack, wo es jährlich bis zu einhunderttausend Pilger aus ganz Europa gab. Schon Ende des 14. Jahrhunderts war die Gegend um Wilsnack, in der es kaum eintausend Einwohner gab, von Pilgern völlig überlaufen.

Die Reformation setzte der Wallfahrt ein Ende. Nach der Verbrennung der Wunderbluthostien durch den ersten protestantischen Pfarrer von Wilsnack im Jahre 1552 fiel Wilsnack in die Bedeutungslosigkeit zurück.

Neugierig auf die Kirche kurbele ich die letzten Kilometer und dann hinein ins „Stadtzentrum“, wobei der kleine Ort mit gerade 2500 Einwohnern die Stadtrechte seit dem Jahre 1513 besitzt. Der Baukörper von St. Nicolai ragt weit über die umgebenden Gebäude hinaus.

Auf dem mächtigen Renaissance-Giebel steht ein schmächtiges Glockentürmchen. Leider ist die „offene“ Kirche nur bis 16 Uhr geöffnet. Ich bin zu spät, um den Wunderblutschrein zu besichtigen, und ein Blick auf meine Bahn-App zeigt, dass der RE in Richtung Berlin in wenigen Minuten kommen soll. „Kleine Stadt, große Kirche, kurze Wege.“ Der Zug rollt ein, als ich am Bahnsteig ankomme. Fahrzeit nach Spandau 1 h 14 min. So bin ich schon um halb sieben wieder in Berlin und kann gemütlich die verbleibenden 18 km nach Hause radeln.

Das Granfondo ist zufrieden mit der heutigen Ausfahrt und hat sich an die Aeropack-Trägertasche gewöhnt. Nichts klappert, nichts steht über oder im Wege. Eine Tasche, die man beim Fahren überhaupt nicht merkt. Die nächste Tour wird dann über mehrere Tage gehen und dann mit mehr Gepäck. Schaun mer mal.

Bäume, Wasser und riesige Findlinge

Nach Nordosten, bis die Oder kommt. Das ist das Motto meiner Freitagstour. Über die Barnimwellen nach Heckelberg und Kruge. Dann den Feldweg hinüber nach Krummenpfahl. Mein Auge kann sich nicht sattsehen an der ergrünenden, erblühenden Natur. Bei zwei Eichen liegt ein mächtiger Findling, der mich zur ersten Pause animiert. Das Alter der Bäume schätze ich auf etwa 100 Jahre, der rundgeschliffene Granit hat am Ende der letzten Eiszeit vor 10000 Jahren hier seine Reise, die irgendwo in Skandinavien begann, beendet.

Von der schon kräftig strahlenden Sonne erwärmt, fühlt der Stein sich angenehm wohlig an. Die kupfergrüne Spitze der Gersdorfer Kirche lugt über den Feldhorizont. Nur ein paar Minuten weiter, in Dannenberg, grüße ich die Gerichtslinde. In ihrem 500-jährigen Leben von Blitzeinschlägen mehrfach malträtiert, steht sie immer noch trotzig da und treibt auch in diesem Frühjahr wieder frische Triebe.

Gerichtslinde in Dannenberg bei Freienwalde

Dann schwinge ich mich in den Wald hinunter nach Bad Freienwalde, vorbei an der Skisprungschanze, die mir immer wieder aufs Neue in dieser Gegend deplatziert vorkommt. Mit fast 50 km/h rausche ich hinunter in die Altstadt. Beim Bäcker im Norma-Supermarkt vertilge ich eine Riesenschnecke und schlürfe einen genauso riesigen Milchkaffee. Die Bedienung ist wie immer freundlich, und mein Granfondo habe ich direkt vor mir im Blick. Auf dem Titel der am Wandhaken feilgebotenen BILD lese ich, dass Fürst Albert „die Krise wegwinkt“. Was auch immer damit gemeint ist … Die Titelseite zu lesen reicht mir allemal.

Ich reiße mich von der Qualiätslektüre los und kurbele weiter nach Schiffmühle, vorbei am Fontanehaus, hinüber nach Altglietzen und Hohenwutzen. Die Äcker und Wiesen im Oderbruch ähneln nach dem nassen Winter immer noch einer Seenlandschaft.

Endlich bin ich auf dem Radweg am Ufer der Oder. Blauer Himmel, tiefblaues Wasser, überflutete Auen. Die Bäume haben nasse Füße. Zwei Schwäne ziehen würdevoll ihre Bahnen. Ich denke an Fontanes Zitat :

Der Reisende in der Mark muß sich … mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben“

Ich sauge die Natur einfach ein in meine Seele, das tut gut.

Vogelgezwitscher, weidende Rinder, blühende Sträucher. Da rollt es leicht und lustvoll. Allein bin ich auf weiter Flur. Keine Radler, nur ein paar Wanderer sind unterwegs. Eine Stunde später stehe ich an der Brücke bei Stolpe, staune wieder einmal über den „Grützpott“, der klotzig seit geschätzt 800 Jahren über der Hangkante thront.

Zeit für eine kleine Pause. Ich genieße einen Proteinriegel und bin froh, dass ich zwei Trinkflaschen dabei habe. Bei 16 milden Grad verlangt der Körper Flüssigkeit. Als ich nachschaue, wann die Züge von Schwedt, meinem geplanten Tagesziel, nach Berlin fahren, sehe ich erstaunt: „Schienenersatzverkehr“ bis Angermünde. Und Busse transportieren Fahrräder bekanntlich nur, wenn man Glück hat. Darauf will ich mich nicht verlassen und setze Kurs in Richtung Angermünde. In Alt-Galow quere ich die Alte Oder über die Brücke und arbeite mich die Rampe nach Schöneberg hoch. 50 hm können auch ganz schön in die Beine gehen. Über Felchow erreiche ich die Bundesstraße 2, die nach Angermünde führt. Leider viel befahren und auf den ersten Kilometern ohne Radweg. Bei Dobberzin biege ich nach Kerkow und dem Mündesee ab. Endlich wieder Ruhe. Der Weg wird sandig, dann rumpele ich über einen so typischen Plattenweg mit Kanten und Löchern. Ich bin auf dem Mündeseerundweg, der mich in großem Bogen erst nach Osten, dann nach Süden zur Stadt führt.

Am höchsten Punkt des Weges steht diese mächtige Findlingsplastik mit dem Namen „Leuchtturm“, gebaut vom niederländischen Bildhauer Ton Kalle. Von hier hat man einen herrlichen Blick auf den See und Angermünde. Eine gute mentale Entschädigung für die Rüttelfahrt auf dem Plattenweg. Mein Granfondo läuft wie immer perfekt und harmoniert sehr gut mit dem Aeropack von Tailfin. Nichts wackelt, nichts klackert. Mit gutem Grund haben sich so viele Ultradistanz-FahrerInnen für die Gepäckbrücke der Engländer entschieden. Für mich ist das die ultimative Tasche für lange und auch kurze Touren, denn sie wiegt knapp 1 kg, ist absolut wasserdicht, wirkt bei Regen wie ein Schutzblech, und sie ist bequem zu beladen und zu komprimieren. Heute wäre ich natürlich auch ohne Oberrohrtasche und die Tailfin ausgekommen. Aber so ein Test vor den nächsten Mehrtagestouren beruhigt enorm.

Ich verlasse den Leuchtturm und freue mich, dass der Plattenweg endet und ein asphaltierter Abschnitt folgt. Die Silhouette der Stadt Angermünde suggeriert eine viel größere Stadt als diese mit etwa 13.000 Einwohnern. Am Seeufer am Altstadtrand erwarten mich weitere Findlings-Kunstwerke. Monumental immer, manchmal brutal, andere filigran.

An einem Anlegesteg neben dem „Segel mit Durchsicht“ komme ich mit einem Radler in meinem Alter ins Gespräch, der sein Bike auch langstreckentauglich ausgerüstet hat. Er wohnt schon seit 20 Jahren hier und fühlt sich offensichtlich wohl. Der Bürgermeister gehört keiner Partei an und hat in den vergangenen 10 Jahren viel Kunst und Kultur hier etabliert. Ein guter Grund für mich, zu einer intensiven Stadtbesichtigung bald wiederzukommen. Der Zug nach Berlin fährt in knapp einer Stunde. So rolle ich noch gemütlich bis Chorin, steige dort in den RE3 und gönne mir noch die 26 km von Bernau aus bis nach Hause. Knapp 150 km sind es heute geworden.

Natur, Kultur, Menschen … was will ich mehr. Schön war es.

Berlin im Winterlicht – eine kleine Fototour

1. Februar, 10.00 Uhr. Aus dem Wolkengrau macht die Sonne Himmelblau. Das Thermometer zeigt vier Grad an, mein Cannondale Taurine ist froh, dass ich es aus dem Winterschlaf wecke. Ich habe Lust auf eine kleine Fototour mittenhinein in die große Stadt. Im Zickzack rolle ich mit der Sonne im Südosten als Wegweiser. Schnell bin ich in Afrika, genauer im Afrikanischen Viertel im Wedding, wo schon 1929 die Architekten Mebes, Emmerich und Bruno Taut die Friedrich-Ebert-Siedlung entwarfen und bauten: erschwinglicher Wohnraum, modern, zeitlos. Wohnungen mit 44 bis 62 qm Fläche und mit Zentralheizung, die über Balkon oder Loggia, dazu ein Bad verfügten. Innerhalb von nur zwei Jahren Bauzeit entstanden über 1400 Wohnungen. Auch heute, fast 100 Jahre später, wirkt die klare Formensprache modern und zeitgemäß.

Friedrich-Ebert-Siedlung im Wedding

Ich lese die Namen Ghana-, Togo- und Swakopmunder Straße. Volkspark Rehberge, Plötzensee mit seiner unrühmlichen Geschichte, dann bin auf dem Radweg am Spandauer Schifffahrtskanal, der über den Invalidenfriedhof zum Hamburger Bahnhof, dem Hauptbahnhof, an der Charité vorbei ins Regierungsviertel führt.

Ich rolle am Hauptbahnhof und dem herrlich spiegelnden City-Cube vorbei und bin wieder einmal fasziniert von der Architektur. Start-Stopp-Foto, Start-Stopp – nächstes Motiv und so weiter. Es ist immer wieder ein Erlebnis, hier hindurchzukurven. Das Winterlicht und der dynamische Wolkenhimmel beleuchten die Szenerie filmreif. Unter den Linden tauche ich ein ins alte Berlin mit Humboldtuniversität, Oper und Berliner Dom; Friedrich der Große sitzt, den Dreispitz auf dem Kopf, den Blick nach Osten gerichtet, auf seinem Lieblingspferd Conde. Die mächtige Bronzeplastik ist ein Meisterwerk von Christian Daniel Rauch, geschaffen 1839-51.

Hier, an der Museumsinsel, an der Schlossbrücke, am Humboldtforum, ist für mich Berlin am schönsten. Also kurve ich noch ausgiebig herum und lande vor der Baustelle des Einheitsdenkmals, genannt Einheitswippe. Allein: Es wippt noch nichts! Beschlossen vor 16 Jahren, Baubeginn vor drei Jahren… Und bis heute eine Baustelle! Blamabel! Peinlich! Einfach nur übel.

2,5 Mio € fordert die Baufirma nach, weil die Kosten gestiegen seien, und der Bund tut sich offenbar schwer, Mittel nachzuschießen. Jetzt ist also Pause, bis Geld und Material kommen.

Beeindruckt von so viel Schnelligkeit und Entschlusskraft setze ich mich wieder auf mein Taurine und schaue mir die Vorderseite des Stadtschlosses und das Replikat des altindischen Sanchi-Tores an. Demnächst werde ich mir dann das Museum für Asiatische Kunst im Humboldtforum gönnen. Heute lehne ich mein Taurine vorsichtig an den Sockel und suche die beste Fotoperspektive.

Wie klein doch der Fernsehturm ist, obwohl er mit einer Höhe von 368 Metern das höchste Bauwerk Deutschlands ist. Bei der Fertigstellung 1969 der ganze Stolz der DDR. Geradezu mitleidig wurde der nur 148 Meter messende Messeturm in Westberlin belächelt. Allerdings steht der schon seit dem Jahre 1926.

Ein paar Meter weiter begrüße ich die Herren Marx und Engels auf dem gleichnamigen Forumsplatz. Gegossen in „Dünnschichtbronze“, sitzen die Erfinder des Sozialismus seit April 1986. Geschaffen vom Bildhauer Ludwig Engelhardt. Das beliebte Fotomotiv haben die Berliner prompt „Sacco und Jacketti“ getauft.

Karl Marx und Friedrich Engels schauen nach Osten, hatten also schon bei der Einweihung ihres Gedenkmonuments dem ehemaligen Palast der Republik, auch „Palazzo Prozzo“ genannt, den Rücken gekehrt.

Im Blick haben die beiden zwei überaus unterschiedliche Kunstwerke: zum einen acht Stelen aus Edelstahl mit eingeätzten Fotos – auf einem Erich Honecker inmitten freundlicher DDR-Bürger. Andere zeigen Menschen von Arbeiteraufständen auf der ganzen Welt. Daneben die Bronzereliefs “ Die Würde und Schönheit freier Menschen“ der Mecklenburgischen Künstlerin Margret Middell.

Die Doppelstelen mit dem Sichtspalt bieten sich an für Fotos durch sie hindurch mit Blick auf den Fernsehturm.

Ich nehme ein paar Schlucke aus der Trinkflasche und wecke das Taurine wieder auf. Nächste Station: Potsdamer Platz. Ein Ort, den ich vor 25 Jahren bei der Eröffnungsfeier erlebt habe, an dem ich fast 10 Jahre meines beruflichen Lebens verbracht habe, oft bis in die Nacht hinein. „Der Daimler“ war der Hauptinvestor des „Neuen Potsdamer Platzes“. Und so zog der gesamte deutsche Mercedes-Vertrieb von Stuttgart nach Berlin. Nicht alle haben sich gefreut … Heute blicke ich zurück mit etwas Wehmut auf die Zeit im Richard-Rodgers-Gebäude mit dem markanten Eckturm.

Das Arkaden-Einkaufszentrum, das sich längs zwischen den Gebäuden erstreckt, war in den 2000er Jahren ein echter Publikumsmagnet. Aus meinem Büro konnte ich hinüberschauen zum Marlene-Dietrich-Platz vorm Musical-Theater und die Berlinale-Stars auf dem roten Teppich von oben betrachten. Der Daimler hat seinen Teil des Platzes schon 2016 an einen US-Investor verkauft und ist zum Ostbahnhof umgezogen.

Der Verkehrsturm steht seit 100 Jahren am Potsdamer Platz. Als erste Verkehrsregelanlage dieser Art in Deutschland. Der Vorläufer der heutigen Ampelanlagen.

Als ich wieder gen Westen, Richtung Philharmonie vom Platz rolle, grüße ich die herrliche Skulptur „The Boxers“ von Keith Haring, die hier seit 1987 steht und immer noch leuchtet und wirkt. Bald ist wieder Berlinale, und der Platz wird sich wieder wie neu anfühlen.

Als ich den Westhafenkanal nach Norden quere, lese ich auf dem Geländer den für mich passenden Spruch des Tages: „Some souls feel each other, even miles apart“

Weiter geht es durch Schrebergartenkolonien hin zum Ex-Flughafen Berlin-Tegel

In Tegel habe ich schon oft die riesigen „Mural Art“- Hochhausmalereien fotografiert. Heute gefällt mir dieses Kunstwerk des Künstler-Teams London Police am besten: Es verströmt spontan gute Laune und bringt mich frohgemut wieder nach Hause.

Rollen, schauen, staunen, Neues entdecken, Schönes und Schauerliches sehen, zurückblicken, und dann wieder nach vorn. Dort ist die Zukunft!

Fläming, Elbe, Elster

Drei Tage Traumwetter, drei Tage ohne irgendwelche Termine, drei Tage auf dem Rad.

Am besten der Nase nach, am besten los mit dem Wind im Rücken, „easy-riding for an old man“. So sollte es gehen, denke ich mir am Mittwochabend und packe meine Sachen zusammen.

Ich werde auch die neue Ortlieb-Trunkbag-Tasche testen. 12 Liter Inhalt, wasserdicht, schmal bauend, 800 g leicht. Mein vorerst letzter Schritt zur Gepäckminimierung für kleine Etappentouren im Frühjahr und Sommer. Als ich die Tasche bestellte, hatte ich nicht berücksichtigt, dass mein Tubus-Airy-Titan-Gepäckträger nur 60 mm schmal ist. Da hängen die beiden Gravelpacks seitlich wunderbar dran, aber 6 cm Stegabstand ist zu wenig für die Befestigungsklauen derTasche. Die Lösung des Problems ist die Verbreiterung mittels zweier Alustäbe rechts und links am Träger. Verdrehfest mit Kabelbindern und zwei vorgebohrten Aluprofilen befestigt. Kosten 10 Euro. Zeitaufwand 90 Minuten. Der Trunkbag sitzt nun bombenfest auf dem Airy.

Am Donnerstagmorgen gegen 10 Uhr mache ich mich auf den Weg. Noch sind es frische 13 Grad, Brevet-Jersey, dünne Armlinge, Windweste drüber und an den Beinen die schön wärmenden X-Bionic-Beinlinge. So rolle ich mich ein und wähle einen Track, der an Berlin westlich vorbeiführt, hin nach Falkensee, über Seedorf nach Potsdam, nach Caputh am Schwielowseee und dann hinein in den Fläming.

Ich verlasse die geteerten Wege und tauche ein in die Wiesen und Auen. Zwei Störche überfliegen mich in wenigen Metern Höhe. Ein erhabener Anblick. Einfach innehalten, wahrnehmen und genießen.

Die Sandpassagen auf den nächsten Kilometern bremsen mich zwar, die gute Laune können sie aber nicht trüben. Barockkirchen in Rosa, ein Ortsname wie im Voralpenland: Salzbrunn.

Hier wurde schon im 16 Jhd. nach Salz gebohrt. Eine Saline sollte entstehen. Alle Mühe war vergebens, der Salzgehalt war viel zu gering. Allein der Ortsname erinnert an das frühe Projekt der Kurfürsten. Im Fläming muss man nur die Hauptrouten verlassen, um immer wieder Erstaunliches zu entdecken.

Barockkirche in Reesdorf

In Treuenbrietzen erkenne ich die Dahlbeck-Bäckerei wieder, bei der Peter, Matthias und ich die erste Pause auf der Etappentour 2016 nach Tschechien und Bayern eingelegt hatten. Heute teste ich die Qualität des Milchkaffees erneut. Bestanden. Lecker. Nur doppelt so teuer wie vor sieben Jahren.

Noch 30 Kilometer bis zu meinem Tagesziel Wittenberg. In einem kleinen Bogen nach Südosten arbeite ich mich über Zahna an die Stadt heran. Die Lutherstadt strahlt seit den mit großem Aufwand betriebenen Restaurationsarbeiten zum 500-jährigen Jubiläum der Reformation im Jahre 2017 in neuem Glanz. Eine vorzeigbare Innenstadtzone ist entstanden. An diesem herrlichen Donnerstagabend flanieren nur wenige Menschen in der Stadt. Nur im Bereich vom Marktplatz mit Luther-und Melanchthondenkmal tummeln sich einige Touristen.

Hinter der Schlosskirche schießt ein Mann mit einem langen Blasrohr auf einen kleinen Luftballon. Aus sicher mehr als 50 Metern Entfernung. Als ich respektvoll näher zu ihm gehe, zeigt er mir mit einigen präzisen Schüssen seine Pustekunst. Irgendwie passend zum den mächtigen Turm umgreifenden Spruchband: “ Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“.

Noch mehr Kunst gibt es in Form der Skulptur “ Die unerträgliche Leichtigkeit“ des Bildhauers Frank Seidel zu bestaunen. Sie balanciert auf einem rostrot in der Sonne leuchtenden Sockel. Es ist 19 Uhr geworden und ich sollte bald eine Bleibe für die Nacht finden. Booking.com lotst mich in Richtung Bahnhof und zum Hotel Acron. Die Dame an der Rezeption kann ich davon überzeugen, dass mein Granfondo besser im Zimmer als im Radschuppen auf dem Hof untergebracht ist. Duschen, umziehen, Stadt erkunden. Nach 15 Minuten bin ich unterwegs und laufe durch die Gassen.

Dreimal hin und wieder zurück, Luther, Melanchthon, Thesentür, dann endlich ein Italiener, kein historischer, nein, einfach ein guter Gastgeber mit einem guten Koch. Satt und zufrieden wandere ich zurück zum Hotel und gönne mir noch ein Absacker-Bier. Danach falle ich in einen erholsamen Tiefschlaf.

Am nächsten Morgen lacht die Sonne aus einem klarblauen Himmel herab. Das Grün der Elbauen bildet einen filmreifen Kontrast dazu. Genuss pur für Körper und Seele! Es rollt wunderbar. Querab von Torgau enden die Ortschaften fast alle auf – witz. Kein Witz! Triestewitz, Kathewitz, Adelwitz, Ammelgoßwitz… Besonders in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen ist diese Endung häufig anzutreffen und weist meistens wohl auf den Gründer oder Erbherren des Ortes hin. Also: Kathewitz – die zu Kathe Gehörigen.

In Prettin rolle ich am Schloss Lichtenburg vorbei. Das teilrestaurierte, riesige Gebäude hat eine ziemlich illustre Geschichte: Erbaut im 16. Jahrhundert als Wittwensitz der sächsischen Kurfürstinnen, wurde das Anwesen im Jahr 1812 umfunktioniert zum kursächsischen Gefängnis und danach zur Strafanstalt für über 500 Insassen. Im dritten Reich begann das finstere Kapitel als Konzentrationslager. Man mag kaum glauben, was hinter den Mauern der Schlossfassade alles geschehen ist über die Jahrhunderte. Heute residiert hier ein Museum zum Gedenken an die KZ-Opfer.

In Triestewitz wird das ehemalige Rittergut als Hotel genutzt, direkt daneben verfallene Gutsanlagen und rostendes Landwirtschaftsgerät. Die Zeit steht still.

In Großtreben backt der Bäcker Schröder in großem Stil und betreibt auch noch einen netten Bäckerladen samt Café. Der Milchkaffee mundet und das Hefeteilchen bringt verbrauchte Energie im Nu zurück. „Heimat, Handwerk, Herzlichkeit“, lese ich hinter der Sitzecke. Kann ich so bestätigen!

In Belgern setze ich mit der Seilfähre über auf die Westseite der Elbe. Der Elbe-Radweg führt im Zickzack-Kurs durch die Auen und Hügel. Genau richtig für Menschen, die keine Eile haben und gerne viel sehen wollen. Also ideal für mich in diesen Tagen. Blumenwiesen, zufrieden wiederkäuende Rinder, eine prächtige Kastanie in voller Blüte. Dann ein gelber Hochzeitstrabbi mit Blumenschmuck vorm Standesamt in Strehla und als vorläufiger Höhepunkt des Tages die Entdeckung des ganz besonderen Flugplatzes von Riesa.

Als ich auf der linken Seite die Fliegerhalle und den Tower entdecke, wundere ich mich darüber, dass die Startbahn auf der gegenüberliegenden Straßenseite anfängt. Obacht! Flugzeuge queren die Fahrbahn. Alles gut geregelt, denn der Flugleiter schaltet die Ampel auf Rot, der Sportflieger rollt quer über die Straße, mein Granfondo staunt.

Neugierig, wie ich bin, rolle ich danach noch zur Halle, vor der gerade ein Doppeldecker startbereit gemacht wird. Sieht alt aus, ist aber ein gänzlich neues Ultraleicht-Fluggerät, wie mir später der Erbauer und Besitzer stolz erzählt. Wir ratschen über alte und neue Zeiten – schließlich habe ich auch in grauer Vorzeit solche Flugzeuge geflogen. Eine halbe Stunde später verlasse ich den Verkehrslandeplatz Riesa Göhlis und nehme den letzten Teil meiner Tagesetappe ins Visier: Meißen. Auf den nächsten Kilometern könnten die Gegensätze nicht größer sein: Auf der Ostseite der Elbe die riesigen Anlagen von Wacker Chemie, auf meiner Seite blühende Landschaften.

An der Wäscheleine am Ufer trocknen Büstenhalter und Unterhosen. Daneben grasen friedlich wunderbar braune, gescheckte und gelbweiße Rinder. Dann kommt die mächtige Albrechtsburg in mein Blickfeld und wird immer größer. In der Altstadt von Meißen herrscht rege Betriebsamkeit, die Stadt ist heute Abend im sportlichen Ausnahmezustand. Aufgeblasene Zielbögen, Getränkestände, Streckenabgrenzungen… Ich staune und schiebe mich und mein Granfondo durch die Menschenmassen. Als ich im Zielbereich ankomme, biegen gerade die Schnellsten der vierten Klassen um die letzte Kurve. Beifall brandet auf.

Bei der Suche nach einer Unterkunft habe ich Glück. Ich bekomme ein Zimmer im Hotel Am Markt. Mein Granfondo residiert selbstverständlich wieder einmal gemeinsam mit mir. Jetzt beginnt der sportkulturelle Genussteil des Tages. Erst duschen, umziehen, dann wieder hinein in den Trubel. Fast wie beim Sechstagerennen ist es hier, man kann inmitten der Sportveranstaltung essen und trinken und es sich gut gehen lassen. Drumherum schwitzen die Läuferinnen und Läufer. Ich genieße derweil ein Glas Wackerbarth Rosé.

Fast 22 Uhr ist es , als die Letzten ambitionierten Amateure nach ihrer Marathonstrecke ins Ziel kommen. Der Mond leuchtet herunter auf die Altstadt. Eine friedliche Stimmung. Ich bin zufrieden mit diesem Tag, mit den Menschen um mich herum und der atmenden alten Kultur dieser Stadt.

Am nächsten Morgen starte ich gut gelaunt und nehme wieder Kurs auf Berliner Gefilde. Zurück auf der Ostseite der Elbe, entlang an den Weinbergen hin bis Riesa und dann das Elstertal hinauf. Mit der Bahn will ich das letzte Stück fahren. Allein die Bahn hat ein Problem. Ein Stellwerk ist ausgefallen, der Zug kann nicht weiter, ich setze mich wieder aufs Rad und ziehe noch einmal 50 km durch bis Jüterbog, dann bekomme ich eine Verbindung nach B. Als es dunkelt, rolle ich wieder vor der Haustür aus. Eine echte Kultur- Genusstour war es. Wittenberg, Meißen, die Elbauen. Herrlich! Verlangt nach baldiger Wiederholung, weil es immer wieder Neues zu entdecken gibt.

Gerade, kreuz und quer – eine Buchbesprechung

Für mich ist das Buch von Rahel Straubel und Dirk Reuber ein ganz Besonderes. Schon allein deshalb, weil ich die beiden gut kenne und weil sie meine Leidenschaften teilen. Radfahren und wandern; dabei Kultur, Natur, Land und Leute kennenlernen.

Als Dirk mir vor gut zwei Jahren von dem Buchprojekt erzählte, hatte ich sofort einige schöne Bilder und Geschichten aus der Region vorm geistigen Auge. Wie schön, dass die beiden mich freundlicherweise auch noch baten, eine Story zum Inhalt beizutragen. Sie kannten mein Blog und meinen Stil. So fing das Ganze für mich an. Und für Dirk und Rahel stand ein ordentliches Paket Arbeit ins Haus.

Vorige Woche hielt ich das 240-seitige Ergebnis ihres Schaffens freudig und erwartungsvoll in Händen. Es ist gut gelungen, das sage ich schon einmal vorab.

Rahel und Dirk haben sich nicht die üblichen Ziele und Wege vorgenommen, die schon vor ihnen viele Autoren beschrieben haben. Sie haben genau hingeschaut im westlichen Brandenburg.

“ Die Tage sind hell, kein Berg begrenzt die Sicht. Die Nächte sind oft so dunkel, dass man dem Sternenhimmel ganz nah zu sein scheint“

“ Uns interessiert Kultur besonders jenseits großer Namen oder wichtiger Stätten“

So haben die Autoren ganz besondere Orte mit interessanten Menschen entdeckt und beschrieben. Sie sind eingetaucht ins Land und ihre Begeisterung fürs Unspektakuläre wird greifbar. Ganz im Sinne des großen Fontane, der im Vorwort zu seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg schrieb: “ Der Reisende in der Mark muß sich mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben“.

Rahel und Dirk beschreiben in ihrem Buch eine Reihe von kreativen, engagierten und mutigen Menschen, die in kleinen Dörfern, oft weit abgeschieden, Initiativen entwickelt haben und für den Ort und die Region Positives bewegen. Sie machen all das im Text und mit den Fotos greifbar und erlebbar.

Gerade, kreuz und quer“ sind sie gewandert, mit dem Rad gefahren und mit dem Hausboot über die Seen geschippert. Wanderrouten und parallel etwas längere Radtouren in der jeweiligen Region führen an den schönen, an den einsamen, an den interessanten Orten vorbei. Beim Lesen habe ich spontan Lust bekommen, aufzubrechen und dorthin zu fahren, wo ich bisher noch nicht war, wo auch für mich „Kreuz und quer-Radler“ Neuland zu entdecken ist. Umso schöner, wenn das so greifbar beschrieben ist und auch noch zu jedem Ziel eine Karte hinzugefügt ist mit der besten Wander- oder auch Radroute.

Warum nicht einmal auf der Pilgerroute von Hennigsdorf nach Bad Wilsnack zur Wunderblutkirche laufen… Die Autorin Ute Gottesmann beschreibt ihre sechs Pilgertage und 130 Wanderkilometer kurzweilig und anschaulich.

Oder einmal bei Vehlefanz und Schwante um den Mühlensee laufen und anschließend ein Salonkonzert bei Monta Wegmann im ehemaligen Stall neben dem Wohnhaus erleben und dabei mit den Künstlern ins Gespräch kommen und ein Glas Wein trinken…

Gerade, kreuz und quer ist ein herrliches Buch zum Lesen, zum Nacherleben, zum Verschenken an jeden, der Land und Leute besser kennenlernen will.

Danke Rahel und Dirk!

LESEN!

Rahel Straubel/ Dirk Reuber, Gerade, kreuz und quer. Wandern & Radfahren durchs westliche Brandenburg

240 Seiten, Broschüre, 16×22 cm, ISBN 978-3-95894-240-0

18 Euro

Überall im Buchhandel oder unter http://www.omnino-verlag.de

Adonisröschen an den Pontischen Hängen

„Wo das Blut des schönen Jünglings ( Adonis) hintropft, sprießen die Blüten der Adonis aestivalis, der roten Verwandten unseres gelb blühenden Frühlings-Adonisröschens.“ So lese ich es nach in einem Beitrag des NABU über die Pontischen Hänge von Lebus an der Oder. Schon 1921 wurde hier ein kleines Naturschutzgebiet eingerichtet, um die seltene Pflanze zu schützen.

Es geht Adonis gut an den Pontischen Hängen. Die Blume stammt ursprünglich aus der Gegend des Kaukasus und Südsibiriens. Am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12000 Jahren hat sich die Pflanze in mehreren Schüben entlang der Flüsse Weichsel, Oder und Warthe schrittweise nach Westen vorgearbeitet. Das Adonisröschen hat also einen eindeutigen Migrationshintergrund. Es fühlt sich dennoch bei uns wohl, wird geschützt und geschätzt. Bei all meinen Fahrten „nad Odra“ hatte ich es bisher nicht in Blüte erlebt. Entweder war ich zu spät im Jahr auf Suche gegangen, oder ich war einfach zu bequem, die Feldwege zu fahren und zu schieben bis dorthin. Also wartete heute eine kleine Aufgabe auf mich. Endlich Adonisröschenblüten sehen und dann aufs Foto bannen.

Aber halt, bis zur Oder hin dauert es um die vier Stunden für den Kultur-Randonneur, denn er will ja auch auf der Anreise zum Tagesziel sehen und erleben. „Der Weg ist das Ziel.“ Frischer Westwind ist angesagt an diesem Aprilmittwoch und genauso frische 8 Grad, vielleicht noch ein Graupelschauer dazu… Ich packe sicherheitshalber meine Gore-Shakedry ein und streife mir für die ersten kalten Kilometer Langfingerhandschuhe über. Das Granfondo-Titan kommt zum Einsatz.

Die Grundschule ist schon seit 2003 geschlossen

Es freut sich genauso wie ich auf eine ordentliche Granfondo-Distanz. In eine kleine Thermosflasche, die gut in den Halter passt, fülle ich heißen Ingwertee, in die normale kommt 0,6 l Isogetränk. Dazu stecke ich noch einen dicken Eiweißriegel in die Trikottasche. So sollte ich ohne Hungerast notfalls über den Tag kommen. Nach einem Frühstück mit Kaffee, Vollkorntoast, Käse, Honig und Marmelade sitze ich um 9.30 Uhr auf dem Rad. Dann rolle ich mich über Bernau, Tempelfelde, Heckelberg ein. Durch den langen Wald nach Haselberg, und schon habe ich das Oderbruch formatfüllend vor Augen. Auf den ersten 60 Kilometern sind mir gerade mal zwei Rennradler begegnet. Meinem Radlerfreund Wolfgang schreibe ich hinter Schulzendorf eine WhatsApp mit diesem anhängenden Foto:

Ich bin fies, ich will ihn neidisch machen. Vor einem Jahr waren wir hier gemeinsam unterwegs, heute sitzt der Arme im Büro und arbeitet sich an einer Excel-Tabelle ab. Die Sonne lacht, der Wind schiebt mich mit 45 km/h hinunter nach Vevais, wo die Kolonisten, vom Alten Fritz angeworben, ihre neue Heimat im Jahr 1752 nach ihrer alten tauften. 17 Familien bauten sich ein neues Leben auf.

Keramik-Skulptur von Inge Müller

Eine Keramikskulptur erinnert an die ersten Siedler, die wahrscheinlich aus der französisch-sprachigen Schweiz am Genfer See stammten. Vevais – nach Vevey am Genfer See. Genau vor einem Jahr stand ich auch an dieser Stelle und fotografierte das Werk von allen Seiten.

Ich steige wieder auf mein Granfondo, sonst fange ich noch an zu frieren. Die dunklen Wolken, aus denen vereinzelt Graupel fällt, ziehen knapp nördlich an mir vorbei. Glück gehabt. Kurs Ost, nächster Halt Alt-Lewin, mit zwei Dutzend Häusern für 55 Einwohner. herumgruppiert um die Kirche, ein Angerdorf. Bei den Siedlungen für die Kolonisten, die immer mit „Neu“ anfangen, handelt es sich meistens um Straßendörfer.

Der heiße Ingwertee tut gut und wärmt. In Alt-Lewin lässt sich kein Mensch blicken, still liegt der Ort. Die lange Eichenallee, Ortwiger Kruschke genannt, führt mich nach Ortwig. Am Ortseingang biege ich ab in die Bauernstraße mit einem genauso dominanten wie hässlichen alten, grauen Mietshaus, das offensichtlich noch freie Wohnungen zu bieten hat.

„Selig sind, die Frieden stiften“, lese ich an der teilrestaurierten Dorfkirche, die in den letzten Tagen des Krieges in Trümmer gelegt wurde. Zwei Glocken haben in den Fensteröffnungen der Südwand einen neuen Platz gefunden. Die kleine evangelische Gemeinde hat in den vergangenen 30 Jahren mühevoll und in kleinen Schritten innerhalb der Grundmauern wieder einen Gedenkraum gestaltet.

Noch zwei Kilometer bis zur Oder, bis Groß Neuendorf – einem Ort, in dem wieder mehr als 350 Menschen wohnen, auch Zugezogene aus der Hauptstadt, die am Wochenende hier leben und in Berlin arbeiten. Sogar übernachten kann man in einer Ferienwohnung im alten Verladeturm und – sehr originell – in alten Zugwaggons, die einen freien Blick auf die Oder erlauben.

Am 26. April aber erlebe ich Groß Neuendorf ohne jede Gastlichkeit. Der Radlergarten samt Haus steht zum Verkauf, das Maschinenhaus sucht einen neuen Pächter, und auch das Landfrauencafé ist geschlossen. Möge die beginnende Saison reichlich Rad- und sonstige Touristen an die Oder locken, damit wieder Leben einkehrt und die Menschen lachen können. Landschaft und Leute haben es wahrlich verdient.

Auf meiner Suche nach heißem Kaffee werde ich auch in Kienitz und seinem Kirchen-Café nicht fündig. Es hat nur freitags bis sonntags geöffnet.

Also rolle ich um die nächste Dorfecke, am Panzer vorbei und dann südwärts. Und hier wartet dann eine echte Überraschung auf meinen nach Speis und Trank lechzenden Körper.

„Bitte sind Sie so nett und klingeln, ich bin in 1 Minute da – bis gleich, freue mich“

Ich klingele. Nach wenigen Augenblicken öffnet eine freundliche Frau die Türe und bittet mich herein. Auf einem Blech liegt ein frisch angeschnittener Apfelstreusel. In einer Kanne wartet heißer Kaffee. Als ich bezahle und die Gastfreundschaft mit drei Euro Trinkgeld belohne, werde ich meinerseits durch ein „da freu ick mir aber janz dolle“ wertgeschätzt.

Gut gelaunt biege ich wieder auf den Deichweg ein. Küstrin lasse ich heute „links liegen“, ich will schließlich mein Tagesziel, die Pontischen Hänge in Lebus, noch zeitig erreichen. Der Reitweiner Sporn, ein langgestreckter Hügel, erhebt sich aus der Bruchebene auf 80 Meter empor. Dann schließt sich das Lebuser Plateau südlich an. Die Adonishänge kommen näher. Der Radweg macht im unteren Teil von Lebus einen Bogen wieder auf die Hochfläche hinauf. Ich bleibe diesmal nahe an der Oder und folge einem Fußpfad und dem Hinweisschild zum Adonis.

Diesmal lachen die Röschen mich an, sie stehen in voller Blüte und leuchten in klarem Gelb. Harmlos sehen sie aus, sind aber überaus giftig und zum Verzehr nicht geeignet. Das wissen auch die Schafe und Ziegen, die hier weiden und die Hänge von Unkraut freihalten und eine Verbuschung verhindern. Sie knabbern alles weg, lassen aber die Adonis-Pflanzen stehen. Gut so.

20 Minuten verweile ich hier, sauge die Farben und die Düfte auf und genieße den Blick in die Oderauen. Dann stiefele ich den Feldweg durch das Buschwerk hoch, um wieder auf den Radweg zu gelangen. Von hier oben reicht der Blick bis hin zu den polnischen Oderhängen auf der Ostseite. Traumhaft.

Die Wildkirschen stehen in voller Blüte und leuchten in strahlendem Weiß. Ich muss mich geradezu losreißen von diesen An-und Ausblicken. Bis hinunter nach Frankfurt begleitet mich diese Frühlingsorgie noch. Da braucht es keine gemütsaufhellenden Drogen. Die Natur macht das alles noch besser und leistet einen wunderbaren Beitrag zur seelischen Gesundheit. Also, liebe Leser, macht euch auf an die Oder, es lohnt sich.

Nach 150 Kilometern in den Beinen und dem Kopf voller schöner Eindrücke steige ich in Frankfurt in den leeren RE und gleite entspannt gen Berlin.

Grauer Himmel an der Oder…

An diesem Februartag will ich meine mäßige Stimmungslage mit einer Fahrt an die Oder aufhellen. Das hat bislang immer noch funktioniert. Wobei heute der Himmel grauverhangen ist. Dafür schiebt der frische Westwind mich erst einmal kräfteschonend hinein in die Wellen des Barnim. Mein Basso-Crosser freut sich, dass ich ihn endlich wieder in die Landschaft führe. Die Straßen sind noch regennass, ich bin froh, dass ich die langen Schutzbleche von SKS montiert habe. Für ein Winterrad gehört sich das schließlich so. Bernau liegt bald hinter mir, die Windräder vor Tempelfelde empfangen mich mit vernehmbarem Rauschen. An einem Waldrand bei Heckelberg haben Anwohner ein Plakat mit „Keine Photovoltaikanlagen auf Ackerflächen“ am Zaun befestigt.

Dahinter ist eine eher barackenähnliche Unterkunft zu erkennen. Einnahmen aus solchen Anlagen wären sicher hilfreich für ein Sanierungsprojekt des Anwesens. Und den Anblick von Landschaft und der übrigen riesigen Ackerflächen würde das auch nicht beeinträchtigen. Meine ich. Offensichtlich sehen das ein paar Menschen hier anders. Ein paar Dörfer weiter prangt an einer Scheunenwand „Keine Windkraftanlagen in der Barnimer Heide“

Und wo soll zukünftig der Strom herkommen? Aus dem Kohlekraftwerk Jänschwalde und aus Northstream 2 jedenfalls nicht. Sollte sich das noch nicht bis in diese Gegend herumgesprochen haben?

Nachdenklich und auch mit Unbehagen im Bauch rolle ich weiter. Dann genieße ich die Abfahrt hinunter ins Oderbruch über Falkenberg und dann nach Freienwalde. Am Ortsrand kann man im Schlachthausgebäude aus 1899 immer noch Fleischwaren einkaufen.

Mein Magen knurrt zwar schon unangenehm, aber als Flexitarier rolle ich lieber weiter zur Bäckerei vom NETTO neben dem Freienwalder Bahnhof. Hier ist die Bedienung nett und Milchkaffee nebst Käsebrötchen sind von bester Qualität. An der Wand hängt das Informationsangebot des Tages in Form von BILD und MOZ. Ich erfahre, dass Tony Marschall kaum Vermögen, dafür aber mehr als 50 Perücken hinterlassen hat. Der Wetterdienst warnt vor Sturm mit Böen bis 80 km/h. Soll mir recht sein, solange die Windpower mich hin zur Oder und rauf nach Schwedt treibt. Es bleibt bei einigen, wenigen Regentropfen, die kaum die Nässefestigkeit meiner neuen Gore-Thermo-Trail auf die Probe stellen. In Schiffmühle biege ich in Richtung Oder ab, vorbei am Haus von Fontanes Vater.

In Hohensaaten bin ich endlich an der Oder. Der Ort ist eine Radlerhochburg, lese ich auf dem Schild im Rahmen eines angegammelten Zweirads aus vergangenen Zeiten. Dahinter steht schief und verwittert der Wegweiser zur Ostsee. Heute ist irgendwie alles grau.

Von den knapp 700 Hohensaatenern sind mehr als die Hälfte Senioren. Daraus leitet sich der Titel „Ältestes Dorf Brandenburgs“ ab. Als um 1900 die Schleusen zur Verbindung der Oder an die Oder-Havel-Wasserstraße gebaut wurden, lagen hier die Schiffe der Wohlhabenden vor Anker. Heute wandern immer mehr junge Menschen ab. Die Alten werden weniger. Seit der Eingemeindung nach Bad Freienwalde gibt es keine Bevölkerungsstatistik mehr. Keine Ärzte, keine Schulen, keine Geschäfte…

Erst ein paar Kilometer weiter, in Lunow, kann der hungrige und durstige Radler sich stärken. In der Gaststätte Quilitz gibt es Knacker vom Auerochsen, gegenüber beim Fleischer Künkel Eintopf, Kaffee oder auch Bier.

Und in Stolpe, unterhalb des dicken Turms, betreiben seit Sommer 2022 zwei junge Männer das Café „Milchbuben“– in der Nachfolge vom „Fuchs und Hase“. Angebot und Ambiente sind geblieben. Ich freue mich schon auf meine nächste Tour, die ich auf die Öffnungstage Do-So legen werde.

Es wird langsam dämmrig, so richtig hell ist es eh heute nicht geworden. Kalt und feucht und windig. Da heißt es weiter kurbeln, warm bleiben. Und vom fiesen Wetter nicht die Laune vermiesen lassen.

Die Kopfweiden, die in langen Reihen am Deich stehen, sind frisch beschnitten. Bald werden sie wieder austreiben und mit ihrer Wuchsgeschwindigkeit beeindrucken. In früheren Zeiten wurden aus Weidentrieben Körbe, Reusen und Geflechte für das Fachwerk der Häuser gefertigt. Alte Weidenbäume sind wahre Refugien für Insekten, Würmer und Vögel.

Bei Criewen, schon nahe bei Schwedt, sind die Oderauen überflutet. Die Natur kann Wasser tanken, speichern und sich von den Monaten der Trockenheit erholen. Der Radweg verläuft zwischen der Alten Oder oder Faulen Oder, dem Oder-Havel-Kanal und dem Hauptfluss. Dazwischen mäandern zig Kleinarme und bilden den Nationalpark Unteres Odertal.

Gegen 16.30 Uhr rolle ich ein in Schwedt, einer Stadt, die wie kaum eine andere von Krieg, Nachkriegszeit, Nachwendezeit und jetzt der Zeit der „Zeitenwende“ gebeutelt und geprägt ist. Am Ende des 2. Weltkrieges waren nach heftigsten Kämpfen 85 % der Gebäude und Infrastruktur zerstört. In den 50er und 60er Jahren erlebte die Stadt einen industriellen Aufschwung, der hauptsächlich der Raffinerie zu verdanken war, in der bis zu 8000 Menschen beschäftigt waren. Über die Ölpipeline „Druschba“ – Freundschaft, wurden mehr als 10 Mio. Tonnen russisches Erdöl pro Jahr angeliefert und zu Benzin, Diesel und Kerosin verarbeitet. In alter Zeit, im 18. Jhd. gab es hier Tabakfabriken und das größte Tabakanbaugebiet Deutschlands.

Nur ganz wenige alte Gebäude haben die Zeit überdauert. Einen historischen Stadtkern sucht man in Schwedt vergebens. Nur der Berlischky-Pavillon, eine ehemalige Kirche der Französisch-reformierten Kirche aus dem Jahre 1777 steht vereinsamt an der B 166, der Lindenallee, die ansonsten von Mietskasernen flankiert ist.

Artwork am Plattenbau – schöne Illusion
Berlischky-Pavillon
Liebespaar – Axel Schulz 1965

Und gegenüber, passenderweise vor dem Standesamt, steht diese kleine Skulptur des Bildhauers Axel Schulz.

… Und ich hatte gedacht, der Axel wäre ein Schwergewichtsboxer.

Neben dem Pavillon führt die Straße zum Bahnhof, den ich zum Tagesziel auserkoren habe. Wieder einmal, schon wieder. In den vergangenen Jahren bin ich geschätzt 20-mal allein oder mit Freunden hier angekommen. Von hier fährt der Regio jede Stunde nach Berlin. Und vor dem Bahnhof, der kein eigenes Gebäude besitzt, steht das Steakhouse Mendoza, in dem wir regelmäßig unsere Wartezeit verkürzt haben. Heute bleiben mir nur 20 Minuten – für ein großes, gezapftes Bier reicht die Zeit.

Mein Basso darf mit in den Zug. Für Pendler sind die Bikeboxen ideal, um die Räder sicher zu parken.

Um 20 Uhr komme ich bei Nieselwetter und grauem Himmel und eiskaltem Wind guter Laune wieder zu Hause an.

„Wenn du niedergeschlagen bist, wenn dir die Tage immer dunkler vorkommen, wenn dir die Arbeit nur noch monoton erscheint, wenn es dir fast sinnlos erscheint, überhaupt noch zu hoffen, dann setz dich einfach aufs Fahrrad, um die Straße herunterzujagen, ohne Gedanken an irgendetwas außer deinem wilden Ritt.“ – Arthur Conan Doyle

Artfahren und mehr in Berlin

Im Frühjahr 2016 kam der Blogger-Kollege „Kreuzbube“aus Dresden auf die Idee, einen kleinen Wettbewerb zu veranstalten, den er „Artfahren“ taufte. Es ging darum, mögliche viele zeitgenössische Skulpturen zu finden und dann samt eigenem Rad zu fotografieren. Bei mir hat es damals sofort „klick“ gemacht, und bei meiner nächsten Ausfahrt wurde ich zum Objektsucher. Bis zum Herbst entdeckte und identifizierte ich ingesamt 156 Kunstwerke in Berlin und Brandenburg. Auch nach dem Artfahren habe ich nicht aufgehört, mit suchenden Augen durch Stadt und Land zu fahren. Mein Blick war sensibilisiert und geschärft.

An diesem Februarmorgen lacht die Sonne aus einem stahlblauen Himmel. Klar, dass dann die Olympus tough in die Oberrohrtasche muss. Um 10.30 Uhr sitze ich auf meinem Basso und wähle als erstes Ziel Tegel, wo ich den Betonbogen an den Seeterrassen in bestem Licht erwische. Schon im Jahr 1954 hatte der Bildhauer Gerhard Schultze-Seehof im Rahmen des Berliner Wiederaufbauprogramms den Auftrag für einen Mosaikbogen erhalten, in dem er Fliesen und Keramik-Teile aus Trümmerschutt der Umgebung eingesetzt hat. 2015 wurde das marode gewordene Bauwerk sorgfältig restauriert und strahlt wie neu an diesem Morgen.

Mosaikbogen von Gerhard Schultze-Seehof am Tegeler See

Nach wenigen hundert Metern Fahrt auf dem Borsigdamm erreiche ich die Hochhäuser der riesigen Wohnsiedlung, wo 2015 das erste 42 Meter hohe „Mural“ – Wandbild entstand. Mittlerweile zieren acht riesige Kunstwerke die Fassaden der vier gewaltigen Blöcke zwischen Wasserwerk Tegel und Emstaler Platz.

https://www.visitberlin.de/de/artpark-tegel – Gute Infos zu den Objekten des Art-Parks Tegel.

Heute fotografiere ich die Murals von der Südseite, wo sie im Sonnenlicht strahlen und sich wunderbar vom blauen Himmel abheben. Tegel-Besuchern kann ich nur empfehlen, die vier Hausblöcke komplett zu umrunden. Es lohnt sich!

Von Borsigwalde aus nach Siemensstadt. Von Reinickendorf nach Spandau. Die Backsteinfabrikhallen und Arbeitersiedlungen künden von der vergangenen Industriekultur, der Blütezeit der Siemens- und der Borsigwerke. Siemens bot schon in den 1920er Jahren mehr als 30000 Menschen Arbeit, Brot und Wohnungen. Man stelle sich vor, dass heutzutage ein Großunternehmen für die Beschäftigten Wohnanlagen samt Schulen und Kindergärten zur Verfügung stellen würde. Ja, warum eigentlich nicht? Oder warum nicht mehr? Fortschritt ist immer relativ. Wenn ich über die Siedlungen in historisierendem Stil bis zur Bauhausarchitektur staune, tausende von Wohnungen, dann hören sich die nicht gehaltenen Versprechungen der Politik zur Schaffung von „neuem Wohnraum“ in unseren Tagen hohl an.

Torbogen zur Siemens Werkssiedlung am Schuckertdamm

Kurz vorm Überqueren der Nonnendammallee stehe ich auf dem Platz vor der Siemens-Verwaltung, auf dem seit 2017 die Alu-Skulptur „Wings“ von Daniel Libeskind prangt. Glänzend, glitzernd, spiegelnd. Beeindruckend besonders im Sonnenlicht. 10 Meter hoch und 15 Tonnen schwer soll sie Sinnbild für die digitale Zukunft des Unternehmens sein. Ich hoffe sehr, dass sie wirklich eine starke Zukunft symbolisiert.

Direkt an der Nonnendammallee thront ein riesiger Adler auf dem Denkmal für die im 1. Weltkrieg gefallenen Siemens-Arbeiter. Blick zurück und in die Zukunft nah beieinander.

Siemens-Denkmal für die Weltkriegsopfer

Den folgenden Text habe ich auf der Startseite Siemensstadt 2.0 gefunden:

Neue Arbeits- und Lebenswelten in der Siemensstadt Arbeiten, Forschen und Wohnen vereinen! Das wollte man bereits bei der Gründung der Siemensstadt vor mehr als einem Jahrhundert. Und das gilt auch für die Zukunft: In den kommenden Jahren sollen auf dem Siemens-Gelände in Berlin-Spandau neue Arbeits- und Lebenswelten entstehen. 
Das historische Verwaltungsgebäude und sein Umfeld werden der erste Baustein der Siemensstadt 2.0 sein. Im Frühjahr startet ein Hochbauwettbewerb, um für das Verwaltungsgebäude ein Nutzungskonzept zu erarbeiten und für die Neubauten im Umfeld im Wettstreit die besten architektonischen Lösungen zu finden. Dafür wird derzeit die Aufgabenstellung – die sogenannte Auslobung – erstellt.

Da bin ich gespannt, wie schnell oder wie langsam hier Siemensstadt 2.0 entstehen wird.

Auf dem Weg in den Kern der großen Stadt umrunde ich den Lietzensee mit seinen altherrschaftlichen Gebäuden, dann rolle ich entspannt auf dem breiten Radstreifen der Kantstraße bis hin zum Kranzler Eck. Für viele Wessies bis heute die Mitte von Berlin. Neue Hochhäuser, viel Glas und Beton und natürlich die unvermeidlichen Bären. Hier als prächtiges Gespann:

Ich genieße das Wetter und die gut gelaunten Menschen. Kein Berliner motzt mich an, Autofahrer lassen mich bereitwillig den Ku’damm queren. Schön hier heute. Nächster Halt Euref-Campus mit dem Gasometer. Ich will nachsehen, wie weit das Bauprojekt gediehen ist.

Immerhin, vor genau einem Jahr sah ich hier noch ein blankes Stahlgerippe, heute ist der Gasometer schon verglast. 2024 sollen 28000 Quadratmeter Büroflächen, Eventbereiche und eine Skylounge in 66 Metern Höhe eingeweiht werden. Die Deutsche Bahn will von hier aus mit 2000 Mitarbeitern!!! die Digitalisierung und die Zukunft der Bahn nach vorn treiben, lese ich. https://euref.de/entry/gasometerschoeneberg/

Zunächst bedeutet das Ganze über 200 Mio Euro Invest. Ich hoffe, dass noch genügend Geld für neue Schienen und Züge übrig bleibt. Skepsis scheint angebracht. Als ich 1997 auf dem neu errichteten Potsdamer Platz aus meinem Büro ehrfürchtig hinüber auf den „Bahntower“ schaute, in dem Hartmut Mehdorn die Zukunft ( oder war es doch eher die Abwicklung) der Bahn plante, gab es auch große Ziele. Wenig davon wurde umgesetzt. Ich frage mich gerade, warum die Mitarbeiter im Gasometer bessere Ideen und Pläne haben sollten als vor 20 Jahren im prächtigen Glastower.

Der Bahntower am Potsdamer Platz erscheint irgendwie verwandt mit dem neu entstehenden Tower im Gasometer. Er sieht aus Wie ein Halb-Gasometer, fällt mir auf. Wenn das kein Omen ist?! So lese ich parallel, dass über die nächsten zwei Jahre der Bahntower kernsaniert werden muss??? Dann erst können die zukünftig fast 2000 Zentral-Bahner wieder einziehen und denken und planen und verwalten. Moderne Bauwerke scheinen ungemein kurzlebig zu sein. Muss ich mich jetzt fürchten in unserem Holzhaus, das wir auch genau im Jahr 2000 gebaut haben? Ich kann als Laie noch keine Verfallserscheinungen erkennen. Offensichtlich gab es seinerzeit auch Bausubstanz, die für einen weit längeren Zeitraum wohntauglich bleibt.

Ohne zu wissen, dass ich eigentlich nur vom neuen DB-Turm zum alten DB-Turm geradelt war, schaue ich mir mit etwas nostalgischen Gefühlen die Berlinale-Vorbereitungen an. Der Rote Teppich wird ausgerollt, die Fans stehen Schlange, alles ist ganz so wie vor über 20 Jahren, als ich aus meinem Büro die Stars auf dem Teppich von oben ansehen konnte. Es war einmal.

Die Berlinale-Fans werden in diesen Tagen dem Areal wieder kurzzeitiges, frisches Leben einhauchen. Wobei man heute nicht mehr durch die Arkaden flaniert, sondern eher ein paar Meter zum Leipziger Platz mit der „Mall of Berlin“ weiterzieht. Moderne Vergänglichkeit.

Auf dem Heimweg kurve ich durch den Tiergarten und lasse mich vom Beethoven-Haydn-Mozart-Denkmal einfangen, das wunderbar im Licht der tief stehenden Sonne funkelt.

Mozart und Beethoven – auf der Rückseite steht Haydn

Mit den Klängen der Musik der großen Meister im Kopf fahre ich gut gelaunt nach Hause.

Diese Stadt hat einfach alles: Alte Geschichte, neuen Protz, alten Protz, Schönes, Hässliches, und auch Zukunft weisendes. Berlin eben.