Herbst in der Uckermark

Milde Lüfte, Herbstfarben, Zugvögel am Himmel… Die Steuererklärung ist fertig, der Heizungsbauer hat die Heizung gewartet, und das Dach vom Gartenhaus habe ich auch winterfest gemacht. Ein guter Zeitpunkt, wieder Nahrung für Körper und Seele zu tanken. Am besten bei einer langen Ausfahrt in die bunte Landschaft. Grobe Richtung Nordost bis hin zur Ostsee und dann eine gemütliche Übernachtung in der Uckermark. Gedacht, geplant, getan. In Löcknitz buche ich ein Zimmer im Hotel am See. Das Ziel des ersten Tages ist also klar. Den Track vom Radweg Berlin-Usedom nehme ich als grobe Orientierung für meine Fahrstrecke. Dann bessere ich auf der Basis meiner vergangenen Erkundungstouren noch auf Basecamp nach. Diese Art der Vorbereitung liebe ich, denn beim Planen kann ich im Kopf schon mal vorfahren. Bilder aus den gemachten Touren laufen vor meinem geistigen Auge vorbei und erzeugen erwartungsfrohe Gedanken.

Für nur eine Übernachtung und bei angekündigten Spätsommertemperaturen kann ich mein Reisegepäck auf ein Minimum schrumpfen. Zahnbürste, Linola-Creme, Deo – Pulli, dünne Funktionshose und leichte Turnschuhe samt einem Paar hineingestopfter Ersatzsocken. Dann für alle Fälle meine ultraleichte Gore Shakedry zum Überziehen. Das passt alles locker in eine einzige Ortlieb-Gravel-Tasche. Summa summarum wiegt meine Ausrüstung samt Radwerkzeug, Ersatzschlauch, Kamera etc. weniger als 3 kg. Drunter geht es kaum. Dazu kommen noch zwei 750ml Trinkflaschen. Macht zusammen mit meinem Granfondo Titan etwa 14 kg Gepäck plus Rad. Dann noch meine 78kg inclusive Kleidung. Nur knapp über 90 kg muss ich also über die Endmöränenwellen drücken.

Beim Start genau um 9 Uhr sind es noch frische 8 Grad. Dünne Langfingerhandschuhe und meine Rapha-Brevetjacke, dazu Beinlinge für die kälteempfindlichen Knie. Was so ein in die Jahre gekommener Randonneur mittlerweile alles braucht, um sich wohlzufühlen…

Das erste Foto mache in in Eichhorst. Selbstredend von der namensgebenden Eiche des kleinen Ortes.

Als 1709 die „Werbelliner Kanalkolonie“ auf Geheiß von Friedrich I. gegründet wurde, war der Baum schon über 300 Jahre alt und auch damals schon von imposanter Größe. Für den Verbindungskanal vom Werbellinsee zum Oder-Havel-Kanal musste das Gelände vier Meter hoch aufgeschüttet werden – die alte Eiche wurde genauso tief eingegraben. Auch diesen Angriff auf ihre Gesundheit hat sie überstanden. Heute, noch einmal über 300 Jahre später hat das beeindruckende Alter Spuren hinterlassen: Totholz, abgebrochene Äste, allerdings tragen daneben auch einige kräftige, vital wirkende Ausleger reichlich Eicheln und Herbstlaub. Möge es noch lange so bleiben. Der Werbellin liegt ruhig und friedlich da, die Strandgaststätten haben die Herbstruhe eingeläutet. Erst in Joachimsthal sehe ich die ersten Menschen auf der Straße. Das Gasthaus „Zur Krim“ gibt es seit 1883. Ob es hier wohl den berühmt-berüchtigten Krimsekt gibt? Ich kann es nicht testen, denn die Krim hat Betriebsruhe bis zum 8. November.

Jetzt, zur Mittagszeit ist mir auch mehr nach einem Milchkaffee und einem süßen Teilchen. Beim Bäcker Hakenbeck in Friedrichswalde wartet sicher schon ein leckerer Pfannkuchen auf mich. Der erste Duft, der mich erwartet, riecht allerdings nach Teer und nicht nach frischem Kaffee. Die Landstraße wird aufwändig mit einer dicken, neuen Decke versehen, bis hin zum Ortseingang. Die Bauarbeiter sind freundlich und lassen mich an den schweren Maschinen vorbei. „Vorsicht, der Teer ist noch heiß“, werde ich gewarnt.

Erst heißer Teer, dann heißer Kaffee bei Hakenbeck, dem besten Bäcker weit und breit. Gestärkt steige ich nach einer Pause in der wärmenden Sonne wieder auf und kurbele über die sanften Barnimwellen nach Norden. Auf den Äckern und Wiesen rasten Graugänse, drei Kraniche fühlen sich von mir gestört und starten zum kurzen Rundflug.

Kleine Eiszeitseen säumen meinen Kurs, hin zum ersten größeren Gewässer, dem Oberuckersee. Langsam wird es hügeliger, meine Beine werden zunehmend gefordert. Viele kleine Hügel wirken auch wie ein einziger großer. Die Uckermark wirkt menschenleer. Herrliche Ausblicke kann ich in mich hineinsaugen ohne jede Ablenkung. Vor ein paar Jahren kam ich hier vorbei bei einem 400 km Brevet. Der offizielle Track führte über einen rumpeligen Waldweg, den ich mir heute spare.

Bei Warnitz, einem kleinen Ort am Rande des Oberuckersees, bietet der Gasthof „Deutsche Eiche“ eine Karre Mist zur gefälligen Verkostung an. Wobei die kulinarische Übersetzung für Mistfladen, Pferdeäpfel und Hühnerkot tröstlicherweise Schnitzel, Bratkartoffeln und Spiegelei lautet. Ich habe aber noch keinen Hunger, und überdies hat das Haus noch nicht geöffnet.

In Brüssow weist ein Plakat an einem trostlos-grauen Gemäuer auf ein Kino hin. Ein Kulturhaus samt Kneipe, Galerie und 60 Quadratmeter großem Kino soll sich hier verbergen, lese ich auf der Ortsseite nach. Die Sonne wird durch eine Cirrusschicht milde abgedimmt. Das erzeugt eine Stimmung, geeignet für einen melancholischen Film aus der alten Zeit.

Löcknitz ist nicht mehr weit. Bald habe ich 150 Kilometer in den Beinen. Aussicht auf eine Dusche, dann vielleicht ein Bier auf der Terrasse… Vorfreude. Ein kleiner Festungsturm markiert den 3300-Seelen-Ort an der Randow, die hin zum Stettiner Haff fließt. Etwas Kultur muss sein, erinnert mich mein inneres Ich. Also durchschreite ich die Burganlage samt Touristikzentrum. Das ist kein zeitraubendes Unterfangen, nach wenigen Schritten habe ich das Areal durchmessen.

Ein paar hundert Meter weiter erreiche ich das Hotel am See, in dem ich ein Zimmer gebucht habe. Freundlich und professionell werde ich empfangen, mein Granfondo erhält eine sichere Bleibe im sogenannten Radschuppen, der sich als Abstellraum, ehemaliger Fitnessbereich und Rumpelkammer erweist. Trotzdem oder gerade deshalb fühlt sich mein Rad neben einer ausgedienten Hantelbank sehr wohl.

Wo bin ich hier hingeraten? Ja, bin ich denn in Bayern? Alles ist korrekt geschrieben, auch der Obazda und die Brezn.

Das Colnago braucht auch mal frische Luft

Vor genau 40 Jahren fuhr Andre Roest aus Venlo auf einem wunderschönen blau-metallic schimmernden Colnago einige Erfolge bei Rundstreckenrennen ein. Und 1983, im Jahr danach, wurde mir mein geliebtes Koga, das ich im im Jahr zuvor bei Clemens Großimlinghaus, genannt „Mücke“, erworben hatte, einfach aus dem Kellerverschlag geklaut. Die Versicherung zeigte sich gnädig und überwies mir 1600 Mark, den Kaufpreis für das „Gentsracer“. Auf der Suche nach einem geeigneten Nachfolger half mir unser damaliger Fuhrparkleiter von MB in Krefeld mit seinen Beziehungen in die Rennszene. „Fahr einfach zum Andre Roest nach Venlo, der hat sein Colnago, das er nur einige Rennen gefahren ist , im Schaufenster zum Verkauf stehen“. Eine halbe Stunde später sitze ich im 230 CE und sause nach Venlo. Mitten im Arbeitstag. Die Freiheit nehm ich mir, das muss jetzt sein… Dann stehe ich vorm Radladen von Andre Roest. Formatfüllend im Schaufenster prangt ein herrliches Metallic-blaues Colnago zum Kaufpreis von 1800 Mark. Jetzt nur nicht zeigen, dass ich mich schon verliebt habe, nur nicht zeigen, dass ich eigentlich nicht mehr verhandeln will… Es ist um mich geschehen, als ich die Campa-Super-Record Ausstattung, die Mavic SSC-Blue Räder gesehen habe. Ganz cool betrete ich den Laden . Eine halbe Stunde später liegt das Traumrad im Kofferraum. Ich habe es tatsächlich für genau 1600 DM kaufen können. Ein Glückstag.

Viele Tausend Kilometer sitze ich in den 39 Jahren nach dem Glückskauf auf dem herrlichen Rad. Es hat mich keinen einzigen Moment im Stich gelassen. Die Qualität: schier unglaublich. Meine Aufzeichnungen belegen mittlerweile über 100.000 Kilometer Laufleistung. Einzig das Innenlager, die Kurbelgarnitur war einmal und natürlich Ketten und Ritzel regelmäßig zur Erneuerung fällig. Die Laufleistung einer Kurbelgarnitur mit über 60.000 km glaubt mir heute kein Redakteur von ROADBIKE mehr. Aber es ist die Wahrheit! Solange hielten einmal die Baugruppen. Und das Super Record-Schaltwerk, die Schalthebel, die Bremshebel… Alles Original! Funktionieren wunderbar, wie in besten Tagen!

Leder und Stahl

Eine Ode an die Langlebigkeit!

In unseren Tagen suggerieren Herstellermarketing und Fachpresse Lebenserwartungen von Gruppen und Bauteilen im Bereich von < 3000 km. Fortschritt ???

Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein, metallic-blau ist der Rahmen auch nicht mehr. Einige Macken und Abplatzer hatten mich vor zehn Jahren auf die Idee gebracht, die Columbus-Rohre neu pulvern zu lassen. Die Spezialisten von Neuser am Innsbrucker Platz verwandelten Blau in feines Anthrazit. Die Chromteile wurden noch klar überpulvert. Saubere Arbeit. Bis heute ohne jede Abnutzungserscheinung.

Am Oberrohr der Startnummernhalter von Andre Roest

Zeitsprung!

Heute habe ich nach langen Wochen endlich wieder einmal Ernesto, wie ich mein Colnago getauft habe, aus dem Kellerdunkel ins Licht geholt. Warum habe ich dies wunderbare Rad solange verschmäht? Keine Ahnung. Endurace, TREK, Basso, Granfondo Titan… Sie alle wollten auch bewegt werden. Heute ist aber endlich Ernesto an der Reihe.

Eine schöne Runde nach Norden, hin zum Werbellin, rein in die Barnimwellen, das wird dem alten Renngerät gefallen. Ich rolle über Schönwalde, Basdorf und Klosterfelde nach Norden.

Vorbei am „Tapferen Schneiderlein“ in Klosterfelde, dann hin zum Werbellin, an der Rosenbecker Schleuse mit dem wundersamen Ausflugslokal „Zur kleinen Moldau“ vorbei. Irgendwann muss ich unbedingt hier ein tschechisches Bier trinken.

Weiter rolle ich am Werbellin entlang nach Joachimsthal, endlich den Kaiserbahnhof mal von innen betrachten…

Um von der Hauptstadt in die Schorfheide oder direkt nach Joachimsthal zu kommen, musste man in Britz (1842) bei Eberswalde auf die Kutsche umsteigen. Das galt sogar für den Kaiser. Mit dem Bau der Nebenstrecke Britz-Joachimsthal-Templin-Fürstenberg wurde es vor allem für die kaiserliche Reise zur Jagd wesentlich komfortabler. Hier nahe beim Werbellinsee errichtete man einen Bahnhof, den es so zwischen Berlin und der Schorfheide kein zweites Mal gibt. Dieser wurde im Jahr 1898 eingeweiht. Kaiser Wilhelm der II sorgte dafür, dass eine Bahnstation auch für den Hof und die Staatsgäste entstand. Diese Station erhielt den Namen Bahnhof Werbellinsee (der im Volksmund schon immer Kaiserbahnhof hieß). Quelle: Amt Joachimsthal

Oft habe ich schon vor dem mittlerweile sorgfältig restaurierten Gebäude gestanden, noch nie war ich drinnen. Das hole ich jetzt nach. Eine freundliche Dame, die gerade mit der Pflege der Grünanlage beschäftigt ist, begleitet mich in die Räume, die so gar nichts von einem klassischen Bahnhof haben. Malereien, Schnitzwerk, fürstliche Sitzgelegenheiten, und ein Kamin sollten es Wilhelm II erleichtern, auf seine Kutsche zu warten, die ihn mehrmals pro Jahr in sein Jagdhaus Hubertusstock am Werbellinsee gebracht hat. In der Zeit von 1898 bis 1914 war der Kaiser hier zu Gast. Dann war es vorbei mit der Herrlichkeit. Der erste Weltkrieg war ausgebrochen, nicht ganz ohne Zutun des Kaisers. Die Biografen sind sich nicht ganz einig über seine Rolle dabei.

Am Bahnsteig könnte ich jetzt in den RB 63 einsteigen, der zwischen Eberswalde und Templin verkehrt. Mit Anschluss an die große Welt. Ich ziehe für die Weiterfahrt mein Colnago vor. Ich bleibe aber auf dem Wege nach Templin immer nah dran an der Schorfheide-Bahn.

“ Nächste Station Friedrichswalde“ , wo mein Lieblingsbäcker Hakenbeck sein wunderbares Brot backt. Heute hat er seinen verdienten Ruhetag. Mein Magen knurrt weiter und wird nur unwillig mit einem Saitenbacher-Riegel ruhig gestellt.

Ernesto bewundert die Tierwelt der Schorfheide an der „Kunstkate“ in Friedrichswalde

Friedrichswalde, Ringenwalde, Templin, Vogelsang. Heute, am Montag ist es nicht leicht, eine Futterquelle zu finden.

Erst im Gasthof Stadtgarten in Zehdenick, neben der Zugbrücke an der Havel, werde ich fündig. Ich bestelle einen Käse-Burger mit Pommes, dazu ein großes Bitburger. Schmeckt sehr lecker, gibt Kraft und gute Laune. 45 Minuten später sitze ich wieder auf dem Stahlgerät und freue mich auf die letzten 45 Kilometer des Tages. Ers wird langsam Zeit, denn ich habe nur eine Rückleuchte, aber keine Frontlampe dabei. Völlig untypisch für mich. So muss ich mich beeilen, noch im Hellen wieder daheim anzukommen.

160 Kilometer hat mein Garmin gezählt heute. Ernesto flüstert mir zu, dass er solche Runden mit mir gerne öfter rollen würde. Schaun mer mal.

Oder-Neiße-Elbe, Teil 2

Auf nach Görlitz

Der Kaffee ist gut, dazu ein gekochtes Ei, eine Scheibe Käse, Marmelade aus der Folienverpackung. Ein Starterfrühstück, kein Genussfrühstück. Um 8.30 Uhr wecke ich mein Granfondo, hänge die Gravel-Packtaschen ein und rolle auf den Oder-Neiße-Radweg hinüber. Die Kulisse von Eisenhüttenstadt kommt näher, alte und neue Industrie reckt die Schlote in den Himmel. Von ehemals 53000 Einwohnern im Jahre 1988 sind bis heute 23000 übrig geblieben. Eisenhüttenstadt war zu Beginn der 50er Jahre als sozialistische Planstadt auf Geheiß der SED entstanden. Ein Eisenhüttenkombinat mit sozialistischer Wohnstadt. Die Schlote qualmten wie im Ruhrgebiet. Fast hätte die Stadt zum 70-jährigen Todestag von Karl Marx den Namen Karl-Marx-Stadt erhalten. Dann bekam Chemnitz den Vorzug und die Planstadt bekam den Namen „Stalinstadt“. Keine zehn Jahre dauerte es, da wurde der Ort im Rahmen der Entstalinisierung umgetauft in Eisenhüttenstadt. Von den Einwohnern schlicht „Hütte“ genannt.

Beim Blick vom Oderdeich hinüber zu Häusern und Fabrikgebäuden wusste ich nur wenig über Eisenhüttenstadt; Wikipedia hat mir geholfen, die Geschichte nachzuvollziehen.

Ganz nah am Radweg steht seit Kriegsende die Ruine des Kraftwerks Vogelsang, das zur Energieversorgung der im 2. Weltkrieg errichteten Werke von Degussa und Rheinmetall dienen sollte. Es ging nie in Betrieb – im Rahmen der Reparationsleistungen wurden die Industrieanlagen und auch die Kraftwerksturbinen gen Osten abtransportiert. Es blieben die leeren Gerippe. Als Vogelsang im Jahr 1998 aus 2,5 Mio DM „Fördermitteln“ abgerissen werden sollte, traten Naturschützer auf den Plan und erwirkten den Abriss-Stopp. Heute hausen hier Fledermäuse, die nur selten von „Entdeckertouristen“ gestört werden.

Ich lasse Eisenhüttenstadt hinter mir; hinter Kornfeldern und Wiesen erhebt sich das Kloster Neuzelle aus der Oderaue. Es hat die Jahrhunderte besser überdauert als Industrie und Kraftwerke.

Kloster Neuzelle am Horizont

Neuzelle ist ein wunderbarer Kontrapunkt zu grauem Beton und sozialistischer Planstadt. Jedem, der in dieser Gegend weilt, sei ein Besuch der Klosteranlage wärmstens empfohlen. Die Barockbauten und die Gartenanlage sind einzigartig.

Ich bleibe heute ausnahmsweise auf dem Oderdamm, weil ich Neuzelle bestens kenne. Vor meinem inneren Auge lasse ich mir ersatzweise einen Erinnerungsfilm der letzten Besuche ablaufen. Die nächsten 30 Kilometer erblicke ich Natur, Natur, Natur. Ein paar Minuten beobachte ich eine freche Elster, die immer wieder auf einen doppelt so großen Milan herabstößt und ihn ärgert. Er wehrt sich nicht, er weicht nur immer wieder aus, bis der Plagegeist von ihm ablässt. Auch eine wirksame Methode.

Während dieser Kilometer hat sich die Oder nach Osten davongemacht, statt ihrer rolle ich seit dem kleinen Örtchen Ratzdorf an der nur halb so breiten Neiße entlang. Kurz darauf bin ich in Guben, auch einer Stadt mit typischer, leidvoller Geschichte. Bis 1945 eine Stadt mit namhaften Tuchmacherbetrieben und über 40000 Einwohnern. Mit vielen prächtigen Bauten und Villen. Am Ende des Krieges wurde Guben, wo in den Rüstingsbetrieben über 4000 Menschen, davon die Hälfte Zwangsarbeiter, die letzten Waffen für Adolf produzierten, zu über 90 Prozent zerstört. Das Potsdamer Abkommen sorgte für die Teilung der Stadt in Guben und das östlich der Neiße liegende Gubin. Heute leben hier weniger als 16000 Menschen. In den Fabrikgebäuden der ehemaligen Tuchfabrik residieren das Plastinarium und die Ausstellung „Körperwelten“ von Gunther von Hagens. Vor dem Gebäude wartet gerade eine Schulklasse auf Einlass.

Die größten Arbeitgeber der Stadt sind heute Trevira und die Großbäckerei Dreißig.

Auf der Neiße paddeln gut gelaunte junge Menschen und rufen mir ein fröhliches cześć zu. Ich erblicke eine Bäckerei von Dreißig und gönne mir Milchkaffee, Croissant und Pfannkuchen. Das hebt meine Laune ungemein. Nächster Halt Rosenstadt Forst, würde der Zugbegleiter verkünden, wenn ich denn mit dem Zug fahren würde. Auch Forst war am Ende des Weltkrieges zu 85 Prozent dem Boden gleich gemacht. Auch Forst war und ist wieder eine Tuchmacherstadt mit Textilindustrie. Radsportler verbinden Forst mit seiner historischen Radrennbahn, auf der zahlreiche Top-Sportler trainiert haben. Die Blumenfreunde schätzen den Rosengarten.

Groß Bademeusel, Klein Bademeusel, gegen 15 Uhr stehe ich vor dem Schloß des Fürsten Pückler in Bad Muskau. Lenné oder Pückler haben fast alle bedeutenden Gartenanlagen in Brandenburg gestaltet oder die Ideen dazu geliefert. Der Park in Bad Muskau ist ein besonders beeindruckendes Zeugnis der Gestaltekunst.

Bevor ich wieder starte, gönne ich mir ein Eis, wie es sicher auch dem Fürsten gemundet hätte. Jetzt noch schlappe 50 Kilometer, und ich werde auf dem Marktplatz von Görlitz stehen. Bis dorthin fließt noch reichlich Schweiß meinen Rücken hinunter. Ein attraktives Tagesziel will eben erarbeitet werden. Eine Ansiedlung am Wege trägt den bezeichnenden Namen „Ungunst“. Als ungünstig empfinde ich auch, dass der Radweg immer wieder durch den Kiefernwald ein paar Höhenmeterauf die Bruchkante macht. Die letzten Kilometer, bevor ich endlich in Görlitz einrolle, ziehen sich. Knapp 170 Kilometer Sonne, Wiesen, Wald, Weitblicke. Jetzt tauche ich in die Kultur der alten Stadt ein. Erstes Ziel ist der Obermarkt, der mit seinen wunderbar restaurierten Bürgerhäusern ein wahres Prunkstück dieser Stadt ist. Das Hotel Am Schwibbogen ist ausgebucht und ich erinnere mich an den Hinweis eines Radlerkollegen in Aurith, der das Hotel Alt Görlitz in höchsten Tönen lobte. Also rufe ich dort an, bekomme ein Zimmer, den Öffnungscode für die Haustür und den Zimmerschlüssel im Umschlag neben der Eingangstür. Dann nehme ich mein Granfondo samt Gepäck auf die Schulter und gönne ihm eine sichere Bleibe in meinem großen Zimmer. Duschen, umziehen und dann bin ich wieder in der Altstadt. Gut gelaunte Menschen flanieren durch die Gassen, am Untermarkt lockt mich ein Italiener mit einer guten Speisekarte.

Die Pasta Calabrese im Restaurant Casanova mundet wunderbar, der Wein ist kühl und verlangt nach einem zweiten Glas. Derweil spielt gegenüber ein mittelalter Gitarrist Songs von Sting, Mark Knopfler und Eric Clapton. In bester Qualität. Besser kann ein Abend für mich nicht laufen. Heute bekommt Görlitz von mir wieder einmal die Note 1. Ich schlummere tief und sitze schon um kurz nach sieben am Frühstückstisch. Das Angebot ist sensationell. Brot, frisch gemachtes Rührei, Müsli, und und und. Ich bediene mich reichlich und genieße. Schon vor acht Uhr stehe ich mit meinem Granfondo auf der Straße und nehme Kurs Süd. Entlang der Neiße will ich nach Zittau fahren. Im Teil 3 mehr davon in Bälde.

Kastanien, Sand und tiefe Wasser

Die Kastanien blühen, die gefingerten Blätter spreizen sich in voller Größe. Ganze vier Kilometer lang ist die prächtige Kastanienallee am Weg zwischen Tornow und dem Barsdorfer Haussee. Wunderbar als Radweg ausgebaut ist die schmale Verbindungsstraße, die hinter Barsdorf nach Qualzow hin in einen feinsandigen Weg übergeht. Rapsfelder zu beiden Seiten säumen das satte Blattgrün mit sattem Blütengelb.

In Barsdorf wird der ehemalige Dorfgasthof restauriert. Ich fürchte, eine Gaststätte, wie sie bis mindestens 2016 hier betrieben wurde, wird dann nicht mehr Treffpunkt der Barsdorfer sein. Der laubenartige Vorbau des Hauses mit den gotischen Spitzbögen passt so gar nicht zum übrigen Gebäude. Was alt aussieht, ist nicht immer wirklich alt.

Gaststätte zur alten Schmiede, geschrieben in einer seltsamen Schrift, die an die Altdeutsche erinnert, allerdings mit einem wundersamen „e“, das aussieht wie ein „n“ .

Um die Mittagszeit wirkt Barsdorf verlassen, keine Menschenstimmen, nur Vogelgesang ist zu hören. Am Ortsausgang endet die geteerte Straße und wird zum Feldweg. Beim Haussee sinken meine 25 mm Contis in den trockenen Feinsand ein. Ich steige ab und lege eine kleine Wanderpassage ein. So kann ich den Wald und die Felder intensiv genießen.

QUALzow, ein bezeichnender Name und Synonym für die kleine Qual, die der Randonneur im Sand erfährt. Vorbei am Stolpsee und Bredereiche führt die hügelige Rumpelstraße nach Fürstenberg. Schön die Landschaft, aber arg durchgerüttelt wird man. Ab Fürstenberg hin nach Neuglobsow werde ich durch den herrlichen Radweg entschädigt. Keine Autos, viel Wald und Wasser, viele kleine fiese Wellen, die Körnchen kosten und Kondition bringen. Am Stechlin rolle ich an den Strand und gönne mir am Imbiss ein Stück Schokoladenkuchen und einen großen Kaffee. Die angebotene „Pizza-Meterware“ verschmähe ich. Der Stechlin ist immer schön, und heute zeigt er wieder, was in ihm steckt. Die alten Buchen am Uferrand zaubern eine ganz besondere Stimmung.

Bis zur Wetterstation folge ich dem Uferweg, dann kurbele ich zurück in Richtung Menz und setze Kurs nach Südosten. In Zernikow kurve ich kurz ein auf den Hof vom Gut Zernikow, das schon Fontane begeisterte.

„In Vorbereitung – eine Ausstellung über Achim von Arnim und sein Meteorologieprojekt“. Die Hinweistafel macht mich neugierig. Dieser Ort und die Gebäude haben eine besondere Geschichte, um die ich mich demnächst noch intensiver kümmern sollte. Von Zernikow führt einer der schönsten Radwege Brandenburgs zum kleinen und großen Wentowsee. Allein dieses Stück Natur ist ein besonderer Schatz.

Zugegeben: nicht alles ist hier restauriert. Solvente, tatkräftige Investoren können hier noch interessante Objekte finden. Bei Ribbeck, nicht zu verwechseln mit dem Ribbeck vom Ribbeck auf Havelland, schwinge ich mich wieder auf den Radweg, auf dem ich am Morgen in den Norden gekommen war, und mache Kilometer in Richtung Berlin. Am Voßkanal entlang, nach Liebenwalde und Bernöwe, wo ich einen Stopp beim dem mir seit letztem Jahr bekannten Trabi-Imbiss einlege. Aus einem Bier werden zwei, aus 15 Minuten wird eine halbe Stunde mit anregenden Gesprächen. Die „Eingeborenen“ zeigen sich freundlich, weltoffen und naturverbunden.

Heute hat mein Garmin 182 gehaltvolle Kilometer gezählt, die ich nicht missen möchte. 

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