Noch einmal 200 Kilometer Kultur und Natur

Ich will es heute wissen: Schaffe ich immer noch 200 Kilometer an einem Tag, ohne Plage, ohne Schmerzen, einfach so? Wie früher zig Male bei Brevets, wobei diese Distanz die kürzeste für die Randonneure ist. In meiner besten Zeit eine leichte Übung mit Start um 7 Uhr und dann im Ziel gegen 16 Uhr. Die richtig Schnellen saßen da schon zwei Stunden beim Bier. Schöne Zeiten damals, immer noch schöne Zeiten heute. Nur muss ich mich eben mit kürzeren Distanzen und weniger Tempo zufriedengeben.

Für diese Tour steige ich auf mein Carbon-Endurace. 11 Jahre und mehr als 30000 Kilometer begleitet mich das Canyon-Rad schon. Klaglos, zuverlässig, wendig, komfortabel und knapp 8 kg leicht. Um 7.30 Uhr starte ich bei blauem Himmel, 12 Grad und spürbarem Ostwind. Klar, dass ich den Kurs nach Nordwesten hin lege. Zum Einrollen dann über Hennigsdorf, Marwitz, Vehlefanz und Kremmen hinein ins Ruppiner Land.

Wo es gut sein könnte, da triffst du es vielleicht schlecht, und wo du das Kümmerlichste erwartest, überraschen dich Luxus und Behaglichkeit, Zustände von Armut und Verwahrlosung schieben sich in die Zustände modernen Kulturlebens ein“ ( aus dem Vorwort zu Theodor Fontanes „Die Grafschaft Ruppin“.)

Trifft auch heute noch zu, stelle ich fest.

In Neuruppin ziehen mich wieder einmal der Parzival am See, die über 700-jährige Wichmann-Linde und dann das Alte Gymnasium mitten in der Stadt an. Es ist gerade halb elf, 70 Kilometer von 200 liegen hinter mir. Nach Westen hin kurve ich hinüber nach Kränzlin und dann auf die Trasse des Prignitz-Express-Radweges. Großenteils ein wunderbar glatter Plattenweg, der kilometerlang geradeaus führt.

10 Kilometer südlich von Fretzdorf bleibe ich, entgegen den Radweghinweisen auf dem Plattenweg, der irgendwann zum Wald-und Schotterweg wird. Schließlich muss ich eine Schiebepassage einlegen, die aber erfreulicherweise nur etwa 200 Meter lang ist. Laufen ist gesund!

Fretzdorf, Christdorf, Karstedtshof… Kilometerlange Alleen bieten Schatten und herrliche Aussichten.

Schon seit Stunden halte ich Ausschau nach einem Café oder einer Bäckerei, wo ich meine Energiespeicher auffüllen könnte.

Das Gasthaus Zum Lindenhof in Katerbow ist verlassen. Die Eingangstür ist zugenagelt, und wo einmal die Speisekarte aushing, kümmert nur noch ein leerer Kasten an der Ziegelwand vor sich hin. Irgendwie traurig.

Jetzt ist es nicht mehr weit bis Heiligengrabe und dem historischen Nonnenkloster. Vor Jahren war ich schon einmal dort, hatte mir aber nicht die Zeit genommen, die Anlage richtig anzuschauen. Dieses Mal will ich das nachholen, zumal ich auch weiß, dass dort ein Klosterladen mit Café wartet. Gegen halb zwei biege ich in den Klosterhof mit seinen Schatten gebenden Linden, Eichen und Buchen ein.

Im Klosterladen bin ich der einzige Besucher. Bücher liegen aus, Wein und Öl gibt es zu kaufen. Eine Kuchentheke oder Ähnliches kann ich nicht entdecken. Aber die nette Dame, die den Laden betreut, bereitet mir einen köstlichen Kaffee und legt großzügig einen dicken Keks dazu. Vor der Tür schlürfe ich genüsslich und knabbere den Keks in kleinen Bissen. So bin ich eine Viertelstunde später gestärkt und zu einem Rundgang über das Klostergelände motiviert. Seit dem 13. Jahrhundert gibt es das Kloster der Zisterzienserinnen. Kriege, Pest, Brände hat die Gemeinschaft der Nonnen überstanden bis zum heutigen Tag. Eine erstaunliche Geschichte über Glauben, Zuversicht und Widerstandskraft. Auch heute atmet die gesamte Anlage pure Historie.

Ganze acht Stiftsfrauen plus Äbtissin zählt heute die Klostergemeinschaft. In der Klosteranlage werden Seminare zur Einkehr, zur Selbstfindung oder auch einfach zur Erholung angeboten. Ein Gästehaus und ein Hotel werden betrieben.

Eine halbe Stunde lang kurve ich kreuz und quer durch den Park und um die verschiedenen Gebäude, wohl wissend, dass ich nur eine kleine Ahnung von dem bekommen habe, was hier drinnen steckt an alter und neuer Geschichte.

Mittendrin in der Prignitz bin ich jetzt. Viel Wiese, Feld und Wald. Wenig Leute. Weite Blicke. Dann Pritzwalk, das ich durchquere, ohne davon etwas zu behalten. Allein die Nikolaikirche mit ihrem neugotischen Turm fällt mir ins Auge. Schon bin ich wieder auf dem Lande. Dann, im winzigen Örtchen namens Helle, zieht ein barockes Kirchlein meine Blicke auf sich. So außergewöhnlich die Bauform, der Kirchplatz, die einladenden Bänke. Eine davon mit zwei Fahrradrahmen an der Seite garniert. Da lehnt sich mein Endurace voller Genuss an.

Die jetzige Kirche wurde erst 1913 gebaut und im teils romanischen, teils barocken Stil errichtet. Die Kirche erweist sich als wahres Kleinod. Farben, Schnitzwerk, Bilder, Glasfenster, Empore, Orgel, überaus beeindruckend. In einem Ort, der gerade 39 Einwohner zählt. Übrigens ausgewiesen als Radwegekirche – am Wegverlauf der „Tour Brandenburg“, die ganze 1111 Kilometer ausweist. Es lohnt sich, hierher zu radeln!

Auf den nächsten Kilometern hin nach Karstädt kann ich wieder den Blick durch lange Alleen und über unendlich weite Felder schweifen lassen. Der Roman „Ein weites Feld“ von Günter Grass, den er ganz im Fontane-Stil geschrieben hat, passt genau in die Geschichte der Region. Ich muss mir diese 800 Seiten demnächst mal wieder antun.

In Karstädt finde ich endlich ein Bäckereicafé und stärke mich mit einem riesigen Milchkaffee, dazu vertilge ich ein genauso riesiges Stück Blechkuchen. Das sollte bis in den Abend als Kraftstoff reichen.

150 km bis Berlin, also ein Kilometerstein, kein Meilenstein

Garlin, Groß Pinnow, Groß Warnow, dann Grabow, ein Ort, der mir bisher nichts und gar nichts sagte. Jetzt bin ich unwiderruflich in Mecklenburg-Vorpommern angekommen. Hier kurve ich wieder um die Hausecken. Eine sehr schöne historische Substanz hat der Ort, und mittendrin:

Das Reuterhaus, Generationentreff, Zukunftswerkstatt und und… Das Gebäude passt so gar nicht in die alte historische Kulisse von Grabow mit den Fachwerkhäusern. Trotzdem oder gerade deswegen ist es ein absoluter Blickfang.

Nur noch wenige Kilometer bis zu meinem 200er Tagesziel. In Ludwigslust, das einen Bahnanschluss hat, um bequem zurückzukommen nach Berlin, habe ich mein Tagesziel erreicht. Es ist halb sieben, ab zum Bahnhof, schon sitze ich im RE 8, der mich zurückbringt nach Hause, besser: fast nach Hause, denn von Falkensee bis vor die Haustür darf ich noch 25 Kilometer drauflegen. Aber ich habe ja zwei Stunden Bahnfahrt, um mich zu erholen und neu zu motivieren. Auf den letzten Kilometern kommen noch meine Lupine Piko und die famose Rückleuchte von Lezyne zum Einsatz. Um kurz vor 22 Uhr schließe ich die Haustür auf und schiebe das Endurace in den Flur.

Gut 220 Kilometer waren das: reiner Genuss und keine Plage. Altes und Neues, viel Schönes und wenig Hässliches. Alles in guter Dosierung. Darauf ein großes Bier.

5 Kommentare zu „Noch einmal 200 Kilometer Kultur und Natur

  1. Servus aus Bayern lieber Dietmar,

    Danke für das „Mitnehmen“ durch den Text und die tollen Bilder, als wäre man dabeigewesen.

    Liebe Grüße, bis demnächst!!

  2. lieber Rainer, meine Touren sind im Vergleich zu eurer epischen Etappenreise kleine, beschauliche Runden. Ihr lernt die Länder kennen, die Leute, die Kultur und schaut genau hin und genießt. So muss es sein!

  3. Mensch Dietmar,

    das hast Du wieder gut gemacht und schön geschrieben. Die Tour Brandenburg sind wir ja auch schon gefahren und wollen das auch nochmals machen. Zu Hause ist es eben auch schön.

    Vielen Dank für Deinen Bericht.

    Rainer

  4. Hallo,

    wieder ein schöner Artikel und schöne Bilder 😀 Ich bin ja Saarländer und wie man unseren Fussballspiele im Pokal und auch den Nachrichten mitgekommt, regnet es bei aus seit Oktober ohne Pause. Da ist es einfach mal schön, wenigstens am Laptop mal einen blauen Himmel zu sehen.

    Beste Grüße und Kette rechts, Claus

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