kann ich es noch? Und wenn, dann wie? Und wie weit, wie lange?
Seit Ende September habe ich gerade fünf Radrunden gedreht. Urlaub, Erkältung, „Altersschlappheit“ ? Mein Randonneurgewissen fängt langsam an, mich zu piesacken. Ja, ja, ich habe bereits die Wandlung vom Randonneur zum Kultur-Randonneur vollzogen. Mit einem einigermaßen guten Gefühl, und mit 75 rollt es auch nicht mehr so schnell und so locker wie vor zehn Jahren. Genug gezetert!
Also rauf aufs Rad und rein in die Barnimwellen und dann an den Finowkanal. Das Wetter ist ein Traum. Die Herbstsonne strahlt aus einem makellos blauen Himmel. Die Erkältung hat sich verflüchtigt, die malträtierte linke Hand kann auch wieder recht gut greifen. Bleibt zu entscheiden, welches meiner Räder heute den Vorzug bekommt. The winner is the Titan-Granfondo, genannt “ Mike“, nach Mike Hall, der mit diesem Rahmen aus Titan die ersten Transcontinental Races bestritten hat – bis ihn 2017 tragischerweise ein Autofahrer in Australien bei einem Ultra Race vom Rad holte. Immer, wenn ich auf diesem trefflichen Rad sitze, sende ich auch einen Gruß in den Radlerhimmel hinauf zu Mike.
Um 10 Uhr hat die Sonne die Herbstluft schon auf acht Grad erwärmt. Trotzdem habe ich mir sicherheitshalber die dünnen Langfingerhandschuhe übergezogen. Unterm Helm wird die winddichte Mütze von Gore Stirn und Ohren warm halten. Immer schön stetig und sanft kurbeln, dann laufen die ersten Kilometer hinüber nach Bernau locker und genussvoll. Der Körper wird warm und die Muskeln lockern sich.


In Ladeburg biege ich kurz nach Osten ab, hin zur herrlichen Flatterulme, die mich schon vor zehn Jahren in ihren Bann gezogen hat. Oben drängt sich das Granfondo noch in den Vordergrund, unten füllt der 600-jährige Ulmenstamm das ganze Bild, so, wie es ihm zusteht. Dieser Baum ist wunderbar, ruft mir eine Frau zu, die mit ihrer kleinen Tochter unterwegs ist. Da kann ich nur überzeugt zustimmen. Nach einer Genuss-Fotopause rolle ich weiter nach Lobetal und dann über das Backofendorf Danewitz nach Grüntal, wo ein für mich genauso eindrucksvoller Baumriese vor der alten Kirche seit sicher über 500 Jahren Wache hält. Die kuriose Wuchsform mit drei, ursprünglich vier Stammtrieben soll nach einem Blitzeinschlag im dreißigjährigen Krieg, bei dem der Kirchturm auf die Eiche stürzte, entstanden sein. Und vor über 200 Jahren soll hier Napoleon mit seinen Soldaten auf dem Rückzug aus Russland hier rast gemacht haben. Drei seiner Männer starben wegen Erschöpfung und Unterernährung – jedenfalls der Sage nach. Und die hat mir schon vor fünf Jahren der damalige Pastor der Gemeinde, Utz Berlin, so erzählt. Eine kleine Gedenkplakette auf dem Ortsfriedhof zeugt davon.


Bei meinem heutigen Besuch leuchtet der Baumriese noch im allerletzten Herbstlaub. So ist die Stammform gut zu erkennen. Kaum Totholz zeigt sich in der Krone. Auch in den nächsten hundert Jahren wird die Eiche wohl noch vor der Kirche Wache halten und uns alle überleben. Am Eingang zum ehemaligen Pfarrhaus sind Informationen zu Veranstaltungen zu lesen und ein Satz trifft besonders auf Pilger und auch Randonneure zu:

Menschen auf der Suche nach Ruhe und Natur können im Haus Grüntal Seminare buchen.

Die Dorfbäckerei hat schon vor über 10 Jahren ihre Pforte geschlossen.
Die Sonne meint es gut mit mir heute. Naturgenuss im Barnim. Schade, dass das herrliche Bunt der Allee hin nach Tuchen und Trampe einem eher winterlich anmutenden Braun der letzten Blätter gewichen ist.

Allein bin ich unterwegs auf weiter Flur, kilometerlang weder Autos noch Menschen zu sehen. Schön! Bis nach Pond Inlet an der Baffin Bay in Nordkanada sind es 4558 Kilometer. So kann ich es auf einem Schild vor dem Geburtshaus von Artur Haack, einem der ersten Polarfilmer, im Ort Klobbicke lesen.

„Er erfror, auf einem Schlitten sitzend und mit einer Pfeife im Mund. Sein Freund Franke konnte gerettet werden.“ Seit 2019 befindet sich ein Denkmal für Arthur Haack vor seinem Geburtshaus in Klobbicke/Breydin/Barnim.“
Hier ist es erfreulicherweise deutlich wärmer als im ewigen Eis, und ich kann meine Langfingerhandschuhe ausziehen. Nördlich von Trampe führt die Straße kilometerweit durch den Barnimer Wald, bis sie mich hinunter nach Eberswalde und zum Finowkanal rauschen lässt. Dieser Kanal verbindet seit über 400 Jahren die Oder mit der Havel und ist die älteste noch schiffbare künstliche Wasserstraße Deutschlands. Der Finowkanal entwickelte sich zu einer der wichtigsten deutschen Binnenwasserstraßen und bestimmte die rasante wirtschaftliche Entwicklung des Finowtals als Wiege der „Brandenburgisch- Preußischen Industrie“ bis ins 20. Jahrhundert. Eisenspaltereien, Messingwerke, Kranbau, Papierfabrik, Hufnagelproduktion… Märkisches Wuppertal, so wurde diese Region auch treffenderweise genannt. Heute rolle ich an den Zeugen dieser glorreichen Zeit vorbei und sehe hauptsächlich Ruinen. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtete, damals hochmoderne Kohlekraftwerk Heegermühle rottet seit seiner endgültigen Stilllegung im Jahre 1991 vor sich hin. Die Natur holt sich Gelände zurück.


Wenig später erreiche ich die Messingwerksiedlung, die der jüdische Fabrikant Gustav Hirsch für seine Arbeiter schon in den 1860er Jahren nahe der Fabrik errichten ließ. Um 1900 waren hier bereits 950 Menschen beschäftigt mit steigender Tendenz bis zu 2000 Arbeitern um 1920. Heute zeigt sich die ehemalige Werkssiedlung aufwändig restauriert und ist ein attraktiver Wohnplatz für Jung und Alt. Zum Gemeindeverband Messingwerk gehörten auch eine Schule mit zwei Lehrerhäusern, von denen heute eines ein Eichamt ist. 1929 war das Messingwerk das größte und leistungsfähigste Europas.




Das Gelände um den Wasserturm und die Messingwerksiedlung empfehle ich jedem, der sich für die Historie der Region interessiert.
Ich bleibe bis Finowfurt auf dem Treidelweg am Kanal. Als ich über eine Rumpelwegpassage hin zur B 167 fahre, übersehe ich einen veritablen Scherbenhaufen, der wahrscheinlich mal ein kleiner Kronleuchter war – bis ihn irgendein rücksichtsloser Zeitgenosse auf dem Radweg zerdeppert hat. Auf der Lauffläche meiner 25mm Schwalbe Pneus kann ich auch nach genauer Begutachtung keine Einstiche erkennen. Glück gehabt? Denkste! Bis Wandlitz hält der Hinterreifen noch die Luft, dann ist Schluss mit Lustig. Ich fluche, nehme das Hinterrad heraus und ziehe einen neuen Schlauch ein. Meine Co2-Kartusche sorgt in Sekundenschnelle für sechs Bar Druck, meine Wut verfliegt und ich rolle hinein in die sinkende Sonne.
112 Kilometer waren es heute. Gut für Körper und Seele. https://www.strava.com/activities/16365090180

Die Stieleiche war CP beim „Bernauer Heerweg“ 2023.War eine schöne Reise!https://www.kilometermacher.at/bernauer-heerweg-bikepacking-berlin-bernau-baltische-see/Gruß aus dem nebligen Burgenland!Rudi
Moin Peter, schön, zu lesen, dass Du immer noch freudvoll mit dem Renner unterwegs bist. Und die elektronischen Schaltungen sind schon klasse. Dir wünsche ich Morgen einen herrliche Tour. Bleib munter.
Alles Jute Dietmar
P.S Morgen werde ich auch eine Tour machen -gen Oderbruch
Das freut mich sehr! Danke
Immer wieder schön Deine Beiträge zu lesen und die Fotos dazu anzuschauen – Danke!!!
Und ob du es noch kannst 🙂
Moin Dietmar !
Junger Spund was soll ich sagen mit 78 Jahren. Ja wir sind nicht mehr die schnellsten aber das Fahren bringt noch Spaß. Ich habe mir noch ein neues RR zugelegt mit elektronischer Schaltung, Echt Klasse.
Morgen will ich auch eine Runde ab Rendsburg fahren nach Süden. Gemütlich mit viel schauen was es so unterwegs zusehen gibt. Schön das du wieder fit bist. Ich wünsche dir alles Gute und bleib schön gesund.
Gruß aus dem HOHEN NORDEN
Peter Pirk
Eindrucksvoll – das Messingwerk. Meines Wissens war es damals ein beliebter Massenwerkstoff auch für Patronenhülsen. Wo Messing heute wohl legiert und gewalzt wird?
Die Bäume brauchen sich solche Fragen nicht zu stellen – vielen Dank für diese schöne Herbstreise.