Die Dutch-Capitals-Tour, 1000 Kilometer Gegenwind, Teil 1

Matthias war es: Er hat uns infiziert mit dem Erreger! Er hatte sich ihn schon 2012 eingefangen – bei der ersten Auflage der „Dutch-Capitals-Tour“. Mit Bravour nahm er die 1425 Kilometer unter die Räder, und ich las neidvoll und anerkennend seinen Bericht.

Dieses Jahr haben Matthias, Peter und ich uns angemeldet für die Auflage Nr. 2 vom 13.bis 17. Juli. Ich habe die komplette Brevet-Serie gefahren und noch reichlich mittlere Distanzen dazu. 9000 Kilometer habe ich in diesem Jahr schon in den Beinen und fühle mich gerüstet für mein Saisonziel:

1425 Kilometer am Stück, durch alle Provinz-Hauptstädte Hollands – „Dutch Capitals“ eben. Nicht viele Höhenmeter, kommentieren Kollegen. GPSies weist ca. 5900 Hm aus. Aber bekanntlich ist der Wind des Flachländers Berg! Und pusten kann es an Hollands Küsten mächtig – und regnen auch.

Am 12. Juli bringt uns Matthias in seinem Van komfortabel zum Startort Zoetermeer. Am schwierigsten gestaltet sich das Finden des Starts. Kein Hinweis, nichts! Nur ein großes Sportgelände, ein Hundetrainingsplatz und andere suchende Teilnehmer. Dann winkt uns ein Kundiger auf das Gelände, das mit einer Schranke abgesperrt ist: Jubel – hier steht das moderne Gebäude der „Toervereniging Zoetermeer ´77“ .

Wir werden herzlich empfangen, bekannte Gesichter von anderen Langstrecken-Brevets sitzen vorm “ bakje koffie“. Eine sehr persönliche, geradezu familiäre Veranstaltung ist das hier. 42 Starter sind eingetroffen, die Unterlagen werden ausgegeben, Guus van Charante erklärt die wichtigsten Regeln auf Holländisch und Englisch. „Bleibt auf den Radwegen!“, lautet eine deutliche Botschaft.

Alles wirkt unspektakulär, unaufgeregt – sehr beruhigend und angenehm. So ganz anders als bei „PBP“ mit über 5000 Teilnehmern und einer Riesenorganisation.

Am Mittwochmorgen finden wir uns dann gegen 9 Uhr am Startplatz ein. Sehr deutlich ist die Präsenz der schnellen Velomobile und der Liegeräder.

Auch Ymte Sijbrandij, der absolute Star der Velomobil-Rennszene, Weltrekordhalter, Weltmeister …, gibt sich die Ehre. Alle Räder sind langstreckentauglich, wenn auch die individuellen Lösungen sehr unterschiedlich daherkommen. Das Titanrad von William Dickies aus Irland – klassisch mit Carradice-Tasche am Sattel. Oder Matthias‘ Troytec mit den Taschen von Radical an den Seiten. Leo Försters  (Mr. PBP) Markenzeichen ist seit langem die Querstange mit Lampenkollektion und Garmin-Kamera.

Unter den Beifallsbekundungen von einigen Dutzend Zuschauern geht es pünktlich um 10 Uhr auf die ersten von insgesamt 1425 Kilometern. Ein frischer Westwind weht, das Thermometer zeigt 15 Grad. Sehr angenehm, besonders auf den ersten 50 Kilometern. Der Rückenwind schiebt gut. 27 km/h Schnitt trotz Ortsdurchfahrten und Zickzack-Kurs. Velomobile, Lieger und „Uprights“ sausen einträchtig über zum Teil schmale, aber gute Radwege. Südlich von Rotterdam dreht der Kurs dann in den Wind, und wir bekommen die Naturkräfte zu spüren. Schauerwolken türmen sich auf und lassen einen eiskalt klatschenden Regen auf uns niederprasseln. Einige halten an und ziehen die Regenjacken über. Ich fahre weiter. Kurz bevor Nässe und Kälte den Körper erreichen, lässt der Regen nach. Der Gegenwind trocknet uns wieder ab.

Beeindruckend sind die gewaltigen Hubbrücken, wo die Straße für die Durchfahrt riesiger Frachter mal locker 20 Meter nach oben gekurbelt wird.

Nach gefühlten 20 und realen 10 Minuten Pause stürzen wir uns wieder in den Gegenwind. Die Ortsdurchfahrten liegen hinter uns, das Deichland vor uns. Wir rollen zu dritt durch Dünen, über Brücken, am Deich entlang. Schafe knabbern Gras, Möwen fliegen elegante Schwünge. Schön ist das hier in Holland.

Nach 100 Kilometern hat der Veranstalter mitten auf dem Deich eine „Geheimkontrolle“ eingerichtet. Ein Stempel kommt ins Büchlein, der Name mit Zeit in die Liste. Hier soll keiner ungestraft die Hafenrunde um Rotterdam abkürzen können.

Jetzt beginnt Urlaubsfeeling. Weite Strände, Surfer, Badegäste –  fast vergessen wir den fiesen Gegenwind.P1060341P1060342

Wir haben unseren Rhythmus gefunden, kurbeln gleichmäßig. Vor uns schlenkert ein junger Bursche auf dem Deichweg mir einer Angel herum. Ich rufe: Achtung! Er dreht die Angel rechtzeitig zur Seite. Ein paar Meter weiter trifft mich ein klatschendes Etwas auf der Wade, ich drehe mich um – haben die Jungs eine Wasserbombe losgelassen? Nein, sie schauen nicht nur unschuldig, sie sind es auch. Es ist auch keine Wasserbombe, sondern fette, unfassbar stinkende Möwenkacke. Da hat mich doch wahrhaftig eine dicke Möwe aus vollem Flug heraus beschissen. Auch Matthias kann kaum glauben, wie heftig ich getroffen bin. Die Wade, die Socken, der rechte Schuh, die Ortlieb hat einen Streifschuss, Sogar die schöne DT-Swiss-Nabe ist grün bekleckert.

Erste Hilfe leistet Matthias mit einem Paket Feuchttücher. Wade und Hose sind wieder sauber. Der bestialische Gestank bleibt.

Um 17 Uhr erreichen wir Middelburg, die Hauptstadt der Provinz Zeeland. IMG_0830

Matthias ist bester Laune. Wir tun es ihm gleich – Trinkflaschen auffüllen, Kaffee trinken, süße Stückchen verspeisen. Weiter geht die Reise, ab jetzt mit dem Wind im Rücken. 64 Kilometer bis Ossendrecht. Das reiten wir locker ab. Um 20.30 Uhr rollen wir am Kontrollpunkt aus. Hier soll es eine erste Mahlzeit geben. Erwartungsvoll gehen wir in den Gastraum, bestellen Cola ( 0,2 l -Fläschlein), davon schlürfen wir gleich drei leer. Dann verkündet die Wirtin, sie müsse schauen, ob sie noch eine dritte Suppe hätte … Womit hat die gute Frau gerechnet? Randonneure sind hungrig! Nach 20 Minuten stehen unsere Suppen auf dem Tisch. Etwas dünn, aber dafür heiß.

Die nächste Etappe steht an: nach s`Hertogenbosch, der Hauptstadt von Nordbrabant. 104 Kilometer und immer noch leichter Rückenwind. Das wollen wir so lange wie möglich nutzen. Peter hat beschlossen, eine Hotel-Ruhepause in Breda einzulegen. Matthias und mir ist das zu früh für den ersten Tag, wir wollen die Nacht durchfahren und erst in der Folgenacht ein Hotelbett suchen. So verabschiedet sich Peter nach Breda, Matthias und ich   sind die Nachtfalter. Gleichmäßig und ruhig rollen wir über sattglatte Radwege. In Eindhoven erleben wir, wie Prioritätsschaltungen für Radfahrer funktionieren. Langsam an die Radfahrerampel annähern und Wupp, schaltet die Ampel auf Grün! So durchqueren wir zügig die nachtschlafende Stadt.

Um halb fünf beschert uns die aufgehende Sonne Morgennebel und eine echte Turner-Stimmung. Die Vögel sind schon lange aktiv und halten uns auf die beste Weise mit ihrem Gesang wach. Als nächste Provinz ist Limburg dran mit der Hauptstadt Maastricht. An der „Oude Maas“ entlang arbeiten wir uns nach Süden. Matthias würde gerne einen Tack schneller fahren, merke ich. Es läuft gut auf seinem Troytec-Lieger. In Susteren dann machen wir eine kurze Pause, ich etwas länger, und Matthias fährt jetzt voraus. Ich brauche hier eine kleine Auszeit. 20 Minuten später fühle ich mich schon deutlich erholt und steige wieder auf mein Endurace.IMG_0831

Auf dem Weg nach Maastricht und der Kontrolle in Eijsden wird es malerisch. Schmale Wege, Kopfsteinpflaster. Rauf und runter neben der Maas. Ich entscheide mich für den schmalen Pfad hinauf auf den Deich und kann ein paar Meter abkürzen. Psychologisch von Vorteil! In Eijsden ist die Stempelstelle eine Autobahnraststätte, die wir „durch die Hintertür“ betreten. Ein schmales Törchen ist geöffnet, ein paar Meter Matschweg, und schon stehe ich vor der Raststätte – und vor Matthias, der auch noch nicht lange hier ist. Km 469. Ab hier geht es hinein in die Limburger Hügel. Schließlich ist der nächste Kontrollpunkt auch der höchstmögliche in Holland. Stolze 325 Meter hoch. Das hört sich nicht besonders anspruchsvoll an, allerdings gibt es auf den 38 Kilometern einige fiese Rampen zu erklettern. Nach fast 500 Kilometern wird das zäh und tut richtig weh. William Dickey aus Irland sitzt hinter der Leitplanke und repariert seine gerissene Kette. Mein Mitgefühl hat er, helfen kann ich ihm hier nicht.

Matthias, Ed Dekker, Guus van Charante und ein paar weitere Randonneure kommen mir kurz vor dem „Gipfel“ schon wieder entgegen. Also bin ich nur ein paar Minuten hinten. Nicht so schlecht wie ich befürchtet hatte.

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In Vijlen ist die nächste Kontrolle und gleichzeitig eine Möglichkeit zu schlafen. Am helllichten Tag um vier Uhr nicht die ideale Zeit, aber ich brauche eine Auszeit. Matthias ist auch hier, und wir verspeisen köstliche Spaghetti. Während ich mich eine Treppe nach oben in ein spärliches Schlafgemach verziehe, geht Matthias schon wieder auf Strecke. Recht gemütlich ist es nicht. Der einzige nutzbare Platz ist der quer auf einem Zweiersofa. Knapp zwei Stunden ruhe ich hier und horche dem Schnarchen der Kollegen.

In der Nähe von Roermond, bei ca. km 600, will ich eine Hotelpause einlegen. Im „Asselt“ bekomme ich ein Zimmer – Dusche und Toilette auf dem Gang. Das Duschwasser ist heiß, wunderbar, der Schlaf tief und traumlos. Bis um drei. Dann klingelt der Wecker. Schließlich muss ich spätestens um 8.28 Uhr am nächsten Tag in Arnheim sein. Km 674!

Erfreulich erholt und frisch starte ich in die Morgendämmerung. Es rollt! Arnheim erreiche ich gegen 8.15 Uhr. Provinz Gelderland.

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Endurace an lila Scheibenreiniger – Eine Art Screenwash könnte ich hier auch vertragen

Jetzt bin ich wieder „bei der Musik“. Der nächste Punkt ist Hengelo, km 765. Die psychologisch wichtige Halbzeit der Tour. Mit leichtem Rückenwind kann ich wieder Zeit gutmachen. In Hengelo habe ich wieder ein Polster von drei Stunden, in Zwolle bei km 850 dann wieder fünf Stunden. Das beruhigt ungemein! Am Deich nach Zwolle haben zwei Velomobilfahrer ihr Lager aufgeschlagen:P1060360

Um 19 Uhr rolle ich in Zwolle aus. Hier gibt es auch die Möglichkeit zu schlafen, aber ich will den noch deutlichen Rückenwind nach Emmen hin  nutzen. So lange er noch weht. Also verspeise ich köstliche Pasta, genieße die überaus herzliche Gastfreundschaft des Teams, sitze 20 Minuten auf einer weichen Couch und mache mich dann wieder auf den Weg. Ich fühle mich noch gut: keine Schmerzen, der Nacken macht gut mit, nur die Hände sind etwas taub.

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Mit Sonne und Wind im Rücken ist das Fahren der reine Genuss. In sanften Schwüngen über die Deiche durch ein herrliches Naturschutzgebiet. Reiher, Schafe, Kühe, Ziegen – alle in sanftem Abendlicht.

Vor mir fährt William Dickey, ein Randonneur aus Irland, den ich bis zum Ende der epischen Tour immer wieder treffe.

Am liebsten würde ich bis zur nächsten Kontrolle in Emmen fahren, km 936, aber das wird wohl zu spät für die nächste geplante Hotelübernachtung. Also rufe ich Jutta an und nehme ihre bekannt guten organisatorischen Fähigkeiten in Anspruch. 20 Minuten später hat sie ein ein Hotel in Coevorden gefunden und gebucht. 20 Kilometer vor Emmen. Top!

Um 22.55 Uhr stehe ich vor der Eingangstür des Best Western. Das Endurace darf ich auf mein Zimmer mitnehmen. Der Portier zapft mir noch als Schlummertrunk ein großes Bier. Auf dem Zimmer, raffe ich mich noch auf, Trikot und Unterhemd zu waschen, dann falle ich in Tiefschlaf, bis der Wecker um 4.45 Uhr klingelt. Um Fünf bin ich wieder erholt und ausgeruht auf der Piste. Diese Art von Pausen- und Schlafmanagement scheint sehr gut aufzugehen. Nach fünf Stunden Tiefschlaf gibt es so eine Art Reset für Körper und Geist. Es geht frisch wieder von vorne los. So hatte ich mir das erhofft.

Mehr als die Hälfte der Strecke ist geschafft. Ich fühle mich gut, habe keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, aufzugeben. So kann es weitergehen.

FOLGE ZWEI kommt morgen. Bleibt neugierig!

5 Gedanken zu “Die Dutch-Capitals-Tour, 1000 Kilometer Gegenwind, Teil 1

  1. crispsanders 20. Juli 2016 / 22:44

    Ein Hoch auf die holländische Möwe! Freue mich auf die Fortsetzung …………….

  2. Ole Trumann 20. Juli 2016 / 22:41

    Wow, sehr beeindruckende Fahrt und ein toller Bericht, sehr gespannt auf Teil Zwei! 🙂

  3. Takeshi 20. Juli 2016 / 20:44

    Keine Sorge, die Neugierde ist Dir sowas von gewiss! Spannend!! Herzlichen Dank für Teil 1!

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