9,5 Grad ist die Lufttemperatur am Starttag um 7.30 Uhr. Der Scheibenwischer muss arbeiten, auf der Landstraße nach Warberg künden abgerissene Äste von ordentlich pustendem Nordwest. Warum bin ich nicht am vergangenen Dienstag bei lauen Lüften und Sonnenschein beim Superbrevet Berlin-Wien-Berlin an den Start gegangen? Es war so schön, die Kollegen auf den ersten 100 Kilometern bis an den Spreewald zu begleiten. So war es ein Prolog für das vermeintlich viel leichtere Ostfalen-600-km-Brevet.
Als ich mein Granfondo in der Wohnsiedlung am Startort zusammenbaue, machen sich neben mir die Mitstreiter wetterfest: Regenjacke, -hose, Überschuhe. Das volle Programm.
Hartmut hat auf seiner überdachten Terrasse den Starttisch aufgebaut und gibt gut gelaunt die Brevetkarten aus. 72 Starter haben sich für die 626-km-Tour von Warberg nach Kühlungsborn und zurück angemeldet.
Hartmut wird nach wenigen Kilometern mit seinem Velomobil pfeilschnell an uns vorbeigischten. Schnell wird das Rücklicht kleiner. Starten ist einfach heute, das Durchkommen wird zum Härtetest.

- Etappe: 104 km bis Arendsee in der Altmark . Die Gruppen finden ihren Rhythmus. Brutal aufs Tempo drücken tut keiner bei nassen und rutschigen Straßen. Im Örtchen Grasleben im Lappwald fragt sich mein Nebenmann, ob es dort wohl Gras zu rauchen gäbe. Zur Gemütsaufhellung und Verdrängung der aktuellen Realität wäre das nicht schlecht. Ich freue mich derweil, dass ich meine Shakedry, meine Überschuhe und auch den wärmenden Buff über Nacken und Hals gezogen habe. Richtiggehend gemütlich fühlt sich das an. Wir überqueren den Mittellandkanal und passieren die Ortschaften Himmelreich, Eigenthum und Heiligenfelde. Was mag denn noch alles heute kommen? Der Regen lässt nach, der Wind bleibt. Die Straße trocknet ab. Könnte doch ganz nett werden, die Ausfahrt, denke ich.
Das Korn wird vom Wind gebogen, auf der anderen Seite ist schon geerntet und das Stroh zu Ballen gerollt.
Die Altmark ist ein weites Land. Bald ist die Tanke in Arendsee erreicht. 104 km. Um 12.30 Uhr schon, Schnitt trotz Schrägwind von vorn gut 25 km/h. Ich bin zufrieden. Die Kollegen ziehen die Regenjacken aus, ich tue es ihnen gleich. Als Mittagsmahl muss eine fetttriefende heiße Knackwurst mit Brötchen reichen. Immer noch besser als eine schwarz angekohlte Frikadelle oder ein ranziges Schnitzel.



Natürlich bleibt es nicht trocken. Nach wenigen Kilometern packen einige ihre Regensachen wieder aus. Ich entscheide, meine Rapha-Brevet-Jacke auf ihre Wasserfestigkeit zu testen. Erster Schauer: noch trocken, zweiter Schauer: Es wird feucht auf den Armen. Dritter Schauer: Die Shakedry muss wieder drüber.
Flaschen leer, Füße nass, aber warm dank Neopren-Überzieher.
In Lenzen geht es per Fähre über die Elbe. Kurz vor Ablegen kann ich noch hinaufspringen und sehe hinter mir die Kollegen am Ufer, die das Nachsehen haben. Kabbeliges Wasser, würde wohl der Seemann zu den Wellen sagen.

Weiter führt der Track nach Norden – über die Elde nach Neustadt-Glewe, km 177. Hier rolle ich um 16.50 Uhr vor den Autohof. Ich beschließe, mich nicht lange aufzuhalten und nur meine Trinkflaschen mit Apfelschorle aufzufüllen. Haferriegel habe ich noch reichlich, und so sollte ich die etwa 115 Kilometer bis zum nördlichen Wendepunkt Kühlungsborn ohne Hungerast überstehen können. Fünf oder sechs Kollegen machen hier länger Pause, ich fühle mich fit, weiterzufahren. Eine Viertelstunde später beginnt es wieder zu regnen, diesmal heftiger und in Schauern, die man von NW her heranziehen sieht. Gischt und Pfützen bilden sich auf der Straße. Die Autos fahren mit Licht. Jetzt wird das Brevet zur Härteübung. Die Shakedry-Jacke hält den Wind und das Wasser bestens ab. Die Beine bleiben unter den Nanoflex-Beinlingen trocken, Nur die Füße sind mittlerweile komplett nass, aber dank Neopren-Spitzen über den Schuhen bleiben sie warm. Und das ist entscheidend für mein Wohlbefinden. In Leezen, zwischen Schwerin und Wismar, kommt Henning gerade mit Vorräten für die Nacht aus einem Norma-Markt heraus, mit der frohen Kunde, dass noch zehn Minuten geöffnet ist. Genügend Zeit für mich, die Trinkflaschen aufzufüllen, diverse Riegel zu kaufen und auf die Schnelle ein fettes Mohnteilchchen beim Bäcker zu verdrücken.
Die Regenwolken färben die Landschaft grau, mein Granfondo ruht sich unter dem Dachvorsprung eines noch nicht fertigen Hauses aus, der Überzug der Topeak-Fronttasche hält dem Regen nicht mehr stand. Autoscheibenwischer wischen im Intervalltakt – der Regen lässt nach – ich muss weiter. Mein Zusatz-Rücklicht blitzt die Gischt versprühenden Autos an. Gutes Gefühl, wenn ich hinter mir höre, dass abgebremst wird und ich dann in sicherem Abstand überholt werde. Gesehen werden ist noch wichtiger als zu sehen. Über 50 Kilometer sichte ich keinen einzigen Brevet-Mitfahrer. Es wird dunkel. Ich habe meinen Rhythmus gefunden. Permanent rechne ich hoch, wann ich endlich in Kühlungsborn ankommen müsste. 23.30 Uhr? Mitternacht? Irgendwann kurve ich ein unter das Dach der Aral-Tankstelle. Nur der Nachtschalter ist geöffnet. Schnell den Stempel holen und nochmal Apfelschorle tanken. Drei Kollegen rollen ein paar Minuten später ein. Ich fahre weiter und hoffe auf einen trockenen Platz in einem Bushaltehäuschen an der Strecke. Langsam schleicht sich die Müdigkeit in Körper und Geist. Südlich von Kühlungsborn steigt die Straße an. Ich erklimme die Kühlung, die namensgebende Stauchmöräne, die sich bis auf 130 m erhebt. Im Nordosten erleuchten die Lichter von Rostock den Nachthimmel gespenstisch, vor mir steht horizontbreit eine Mauer von Warnlichtern des Windparks Brusow mit seinen über 100 Meter aufragenden Windrädern. Ich komme mir vor wie in einem Science-Fiction-Film. Ich bin so beeindruckt, dass ich das Fotografieren vergesse.
Der nächste nennenswert große Ort ist Bützow. Sogar einen Hinweis zum „Stadtzentrum“ gibt es. Ich biege in diese Richtung ab und hoffe auf einen warmen und trockenen Sparkassenvorraum. Das Glück ist mir hold. Die hell erleuchtete Fassade der Volksbank lädt mich ein. Die Schiebetüren öffnen automatisch, und drinnen haben sich Henning und Holger schon nachtfertig gemacht. ( Wo ich auch ankomme, Henning ist schon da!) Herzliche Begrüßung, Biwaksack auspacken, nasse Socken ausziehen, Regenjacke über den Lenker, und schon liege ich flach in genauso flachem Schlummer. 45 Minuten später, irgendwann gegen 2 Uhr, weckt uns ein Wachmann unsanft aus unseren Träumen. Hier ist doch keine Obdachlosenunterkunft, hier ist seit null Uhr geschlossen, hier wurde Alarm ausgelöst, ihr müsst hier schnellstens raus. Diskutieren hilft nicht, wir packen im Eiltempo unsere Sachen und stehen auf der Straße – wieder mal im Regen. Vielleicht könnt ihr im Bahnhof Unterschlupf finden, meint der ortskundige Wachmann. O.k., wir versuchen das. Der Bahnhof ist zwei Kilometer entfernt und ist zwar hell erleuchtet, aber leider sind die Türen verrammelt. Dafür ist die Eingangstreppe überdacht und bietet uns guten Regenschutz. Also noch mal, Biwaksack und Rettungsdecke raus, Jacken aufhängen, Systeme runterfahren.
Henning, den ich von der epischen Dutch-Capitals-Tour über 1425 km kenne, ist hart im Nehmen und gemeinsam mit seinem Begleiter Holger immer ein Quell guter Laune. Ein Blick auf den Regenradar sagt, dass der Niederschlag gegen 2:30 Uhr durchgezogen sein müsste. Also stelle ich den Wecker entsprechend. Eigentlich überflüssig, denn in den Schlaf kommt auf der harten Treppe keiner. Um halb drei regnet es immer noch. Trotzdem beschließen wir, wieder auf Strecke zu gehen. Ich ein paar Minuten hinter den beiden, dafür finde ich den direkten Weg wieder auf den Originaltrack zurück und bin wieder nahe dran. Die Singvögel sind schon erwacht und haben beschlossen, uns mit prächtigen Gesängen in die Morgendämmerung zu begleiten.
Ich fahre weiterhin alleine. Es wird hell und heller, und auf abgetrockneten Straßen mache ich Kilometer nach Süden. Hände gut, Hintern gut, Rücken gut, Knie gut. In Parchim, nahe Streckenkilometer 400 ist die nächste Kontrolle. Natürlich ist Henning schon da, als ich vor der Tanke ausrolle. Als ich sofort wieder starten will in Richtung McDonalds, das ich ein paar Meter vorher passiert hatte, warnt er: Der hat erst ab 8 Uhr geöffnet! Also absitzen und eine Knackwurst in der Tanke verdrücken. Henning und Holger sind schon wieder on tour.

Nächstes Teilziel ist Havelberg bei Kilometer 480. Diesen Teil der Strecke kenne ich recht gut von den Berliner Brevets und vom Zeitfahren HH – B her. Bekanntes Terrain. Die Straße ist kilometerlang als Vorbereitung für eine neue Decke abgefräst, die Einmündung des Radwegs garniert mit dunklem scharfkantigen Split. Wäre ich doch auf der Straße geblieben! So schleicht sich die Luft aus meinem Hinterrad, und ich darf in sanftem Nieselregen den Schlauch wechseln. Eine messerscharfe Mikroscherbe hat sich in den Conti 4000 hineingearbeitet.

Da hat der gute Reifen keine Chance gehabt. Die Kollegen, die ich vor ein paar Kilometern überholt hatte, passieren mich jetzt wieder. Nicht ohne mir ihre Hilfe anzubieten. Der zweite Plattfuß ereilt mich wenige Kilometer weiter. Wahrscheinlich bin diesmal ich der Urheber, weil ich den Schlauch nicht vorgepumpt hatte, bevor ich die Power aus der Co2-Kartusche hineingelassen hatte. Irgendwo hat sich der Schlauch verklemmt und Schaden genommen. Also werde ich wieder einmal überholt. „Selbstgewähltes Leid.“ In Havelberg spendiert mir Henning, natürlich ist er gerade startbereit, als ich anrolle, einen schönen Schwalbe-Schlauch. Das beruhigt mich ungemein, denn auf Schlauchflicken im Falle einer weiteren Panne hatte ich überhaupt keine Lust. Henning sei Dank!
Der Elbauenweg nach Tangermünde läuft parallel zur B 107, die jetzt um die Mittagszeit stark befahren ist. Der Radweg ist in mäßigem Zustand, auf der Straße ist das Leben gefährlich. Ich wähle die Buckel des Radwegs. Kurz vor Tangermünde hat sich ein alter VW-Bulli mehrfach überschlagen und liegt an der Straßenböschung, daneben eine Familie, die dem Anschein nach heil geblieben ist. Auf der Elbbrücke hinüber nach Tangermünde kommt mir ein ganzer Konvoi von Rettungsfahrzeugen mit Blaulicht und Martinshorn entgegen.
In Tangermünde hat sich der Sturm des Vortages in eine Fabrikhalle hinein verkrochen.
Der Wind ist zwar noch deutlich spürbar, hat aber die Aggressivität verloren. Gleichmäßig kann ich dahinkurbeln. Die nächste Kontrolle ist Wolmirstedt in der Region der Kalibergwerke und der 100 Meter hoch aufgetürmten Kalihalden. Stempel holen, weiterfahren. Noch 57 Kilometer bis zum Ziel. Hinein in die Wellen von Ammensleben, Gutensleben, Ottmersleben, Rottmersleben. Immer auf und ab. Jetzt spüre ich langsam meine Erschöpfung, denn drei Prozent Steigung fühlen sich an wie ein veritabler Alpenpass. Also noch einen Mars-Riegel in den Körper schieben, und immer reichlich Apfelschorle drübergießen.

Jetzt fängt es auch wieder an zu regnen.
Du fieses Wetter wirst mich nicht bezwingen!
Von Rottmersleben sind es nur noch 2440 Kilometer auf dem Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela. Vor 11 Jahren bin ich diese Strecke mal komplett gefahren. Allerdings habe ich mir damals 12 Tage Zeit lassen können.
Der Jakobsweg gibt auf den letzten 40 km nochmal moralischen Schub, und so erreiche ich Warberg um 20.20 Uhr. Fast 36 Stunden hat das Unternehmen Brevet 626 km, Ostfalen, gedauert. Keine Superzeit, aber ich bin im Ziel. Als Nr. 27 von 72 Startern.
Bei Hartmut im Wohnzimmer werde ich mit „Chapeau!“ empfangen, kann mein Kärtchen abgeben, bekomme einen Kaffee und lasse gemeinsam mit den Kollegen das Regen-Brevet Revue passieren.
P.S.: Warberg ist eine Reise wert! Top Organisation, sympathische Organisatoren und ein wunderbar gemischtes Starterfeld. DANKE!