Cold, wet and windy – Das 626-km-Ostfalen-Brevet

9,5 Grad ist die Lufttemperatur am Starttag um 7.30 Uhr. Der Scheibenwischer muss arbeiten, auf der Landstraße nach Warberg künden abgerissene Äste von ordentlich pustendem Nordwest. Warum bin ich nicht am vergangenen Dienstag bei lauen Lüften und Sonnenschein beim Superbrevet Berlin-Wien-Berlin an den Start gegangen? Es war so schön, die Kollegen auf den ersten 100 Kilometern bis an den Spreewald zu begleiten. So war es ein  Prolog für das vermeintlich viel leichtere Ostfalen-600-km-Brevet.

Als ich mein Granfondo in der Wohnsiedlung am Startort zusammenbaue, machen sich neben mir die Mitstreiter wetterfest: Regenjacke, -hose, Überschuhe. Das volle Programm.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Hartmut hat auf seiner überdachten Terrasse den Starttisch aufgebaut und gibt gut gelaunt die Brevetkarten aus. 72 Starter haben sich für die 626-km-Tour von Warberg nach Kühlungsborn und zurück angemeldet.

Hartmut wird nach wenigen Kilometern mit seinem Velomobil pfeilschnell  an uns vorbeigischten. Schnell wird das Rücklicht kleiner. Starten ist einfach heute, das Durchkommen wird zum Härtetest.

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Socken, die nicht vorhanden sind, können auch nicht nass werden
  1. Etappe: 104 km bis Arendsee in der Altmark . Die Gruppen finden ihren Rhythmus. Brutal aufs Tempo drücken tut keiner bei nassen und rutschigen Straßen. Im Örtchen Grasleben im Lappwald fragt sich mein Nebenmann, ob es dort wohl Gras zu rauchen gäbe. Zur Gemütsaufhellung und Verdrängung der aktuellen Realität wäre das nicht schlecht. Ich freue mich derweil, dass ich meine Shakedry, meine Überschuhe und auch den wärmenden Buff über Nacken und Hals gezogen habe. Richtiggehend gemütlich fühlt sich das an. Wir überqueren den Mittellandkanal und passieren die Ortschaften Himmelreich, Eigenthum und Heiligenfelde. Was mag denn noch alles heute kommen? Der Regen lässt nach, der Wind bleibt. Die Straße trocknet ab. Könnte doch ganz nett werden, die Ausfahrt, denke ich.  OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Das Korn wird vom Wind gebogen, auf der anderen Seite ist  schon geerntet und das Stroh zu Ballen gerollt.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Die Altmark ist ein weites Land. Bald ist die Tanke in Arendsee erreicht. 104 km. Um 12.30 Uhr schon, Schnitt trotz  Schrägwind von vorn gut 25 km/h. Ich bin zufrieden. Die Kollegen ziehen die Regenjacken aus, ich tue es ihnen gleich. Als Mittagsmahl muss eine fetttriefende heiße Knackwurst mit Brötchen reichen. Immer noch besser als eine schwarz angekohlte Frikadelle oder ein ranziges Schnitzel. OLYMPUS DIGITAL CAMERA

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Ich lach mich fett, es wird trocken
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Auch Frauen mögen Regen
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Und hier die ultimative Powerdrink-Kombination

Natürlich bleibt es nicht trocken. Nach wenigen Kilometern packen einige ihre Regensachen wieder aus. Ich entscheide, meine Rapha-Brevet-Jacke auf ihre Wasserfestigkeit zu testen. Erster Schauer: noch trocken, zweiter Schauer:  Es wird feucht auf den Armen. Dritter Schauer: Die Shakedry muss wieder drüber.

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Flaschen leer, Füße nass, aber warm dank Neopren-Überzieher.

In Lenzen geht es per Fähre über die Elbe.  Kurz vor Ablegen kann ich noch hinaufspringen und  sehe hinter mir die Kollegen am Ufer, die das Nachsehen haben. Kabbeliges Wasser, würde wohl der Seemann zu den Wellen sagen.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

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Wind von Backbord, Stärke 4

Weiter führt der Track nach Norden – über die Elde nach Neustadt-Glewe, km 177. Hier rolle ich um 16.50 Uhr vor den Autohof. Ich beschließe, mich nicht lange aufzuhalten und nur meine Trinkflaschen mit Apfelschorle aufzufüllen. Haferriegel habe ich noch reichlich, und so sollte ich die etwa 115 Kilometer bis zum nördlichen Wendepunkt Kühlungsborn ohne Hungerast überstehen können. Fünf oder sechs Kollegen machen hier länger Pause, ich fühle mich fit, weiterzufahren. Eine Viertelstunde später beginnt es wieder zu regnen, diesmal heftiger und in Schauern, die man von NW her heranziehen sieht. Gischt und Pfützen bilden sich auf der Straße. Die Autos fahren mit Licht. Jetzt wird das Brevet zur Härteübung. Die Shakedry-Jacke hält den Wind und das Wasser bestens ab. Die Beine bleiben unter den Nanoflex-Beinlingen trocken, Nur die Füße sind mittlerweile komplett nass, aber dank Neopren-Spitzen über den Schuhen bleiben sie warm. Und das ist entscheidend für mein Wohlbefinden. In Leezen, zwischen Schwerin und Wismar, kommt Henning gerade mit Vorräten für die Nacht aus einem Norma-Markt heraus, mit der frohen Kunde, dass noch zehn Minuten geöffnet ist. Genügend Zeit für mich, die Trinkflaschen aufzufüllen, diverse Riegel zu kaufen und auf die Schnelle ein fettes Mohnteilchchen beim Bäcker zu verdrücken.

Die Regenwolken färben die Landschaft grau, mein Granfondo ruht sich unter dem Dachvorsprung eines noch nicht fertigen Hauses aus, der Überzug der Topeak-Fronttasche hält dem Regen nicht mehr stand. Autoscheibenwischer wischen im Intervalltakt – der Regen lässt nach – ich muss weiter. Mein Zusatz-Rücklicht blitzt die Gischt versprühenden Autos an. Gutes Gefühl, wenn ich hinter mir höre, dass abgebremst wird und ich dann in sicherem Abstand überholt werde. Gesehen werden ist noch wichtiger als zu sehen. Über 50 Kilometer sichte ich keinen einzigen Brevet-Mitfahrer. Es wird dunkel. Ich habe meinen Rhythmus gefunden. Permanent rechne ich hoch, wann ich endlich in Kühlungsborn ankommen müsste. 23.30 Uhr? Mitternacht? Irgendwann kurve ich ein unter das Dach der Aral-Tankstelle. Nur der Nachtschalter ist geöffnet. Schnell den Stempel holen und nochmal Apfelschorle tanken. Drei Kollegen rollen ein paar Minuten später ein. Ich fahre weiter und hoffe auf einen trockenen Platz in einem Bushaltehäuschen an der Strecke. Langsam schleicht sich die Müdigkeit in Körper und Geist. Südlich von Kühlungsborn steigt die Straße an. Ich erklimme die Kühlung, die namensgebende Stauchmöräne, die sich bis auf 130 m erhebt. Im Nordosten erleuchten die Lichter von Rostock den Nachthimmel gespenstisch, vor mir steht horizontbreit eine Mauer von Warnlichtern des Windparks Brusow mit seinen über 100 Meter aufragenden Windrädern. Ich komme mir vor wie in einem Science-Fiction-Film. Ich bin so beeindruckt, dass ich das Fotografieren vergesse.

Der nächste nennenswert große Ort ist Bützow. Sogar einen Hinweis zum „Stadtzentrum“ gibt es. Ich biege in diese Richtung ab und hoffe auf einen warmen und trockenen Sparkassenvorraum. Das Glück ist mir hold. Die hell erleuchtete Fassade der  Volksbank lädt mich ein. Die Schiebetüren öffnen automatisch, und drinnen haben sich Henning und Holger schon nachtfertig gemacht. ( Wo ich auch ankomme, Henning ist schon da!) Herzliche Begrüßung, Biwaksack auspacken, nasse Socken ausziehen, Regenjacke über den Lenker, und schon liege ich flach in genauso flachem Schlummer. 45 Minuten später, irgendwann gegen 2 Uhr, weckt uns ein Wachmann unsanft aus unseren Träumen. Hier ist doch keine Obdachlosenunterkunft, hier ist seit null Uhr geschlossen, hier wurde Alarm ausgelöst, ihr müsst hier schnellstens raus. Diskutieren hilft nicht, wir packen im Eiltempo unsere Sachen und stehen auf der Straße – wieder mal im Regen. Vielleicht könnt ihr im Bahnhof Unterschlupf finden, meint der ortskundige Wachmann. O.k., wir versuchen das. Der Bahnhof ist zwei Kilometer entfernt und ist zwar hell erleuchtet, aber leider sind die Türen verrammelt. Dafür ist die Eingangstreppe überdacht und bietet uns guten Regenschutz. Also noch mal, Biwaksack und Rettungsdecke raus, Jacken aufhängen, Systeme runterfahren. OLYMPUS DIGITAL CAMERAOLYMPUS DIGITAL CAMERA

Henning, den ich von der epischen Dutch-Capitals-Tour über 1425 km kenne, ist hart im Nehmen und gemeinsam mit seinem Begleiter Holger immer ein Quell guter Laune. Ein Blick auf den Regenradar sagt, dass der Niederschlag gegen 2:30 Uhr durchgezogen sein müsste. Also stelle ich den Wecker entsprechend. Eigentlich überflüssig, denn in den Schlaf kommt auf der harten Treppe keiner. Um halb drei regnet es immer noch. Trotzdem beschließen wir, wieder auf Strecke zu gehen. Ich ein paar Minuten hinter den beiden, dafür finde ich den direkten Weg wieder auf den Originaltrack zurück und bin wieder nahe dran. Die Singvögel sind schon erwacht und haben beschlossen, uns mit prächtigen Gesängen in die Morgendämmerung zu begleiten.

Ich fahre weiterhin alleine. Es wird hell und heller, und auf abgetrockneten Straßen mache ich Kilometer nach Süden. Hände gut, Hintern gut, Rücken gut, Knie gut. In Parchim, nahe Streckenkilometer 400 ist die nächste Kontrolle. Natürlich ist Henning schon da, als ich vor der Tanke ausrolle. Als ich sofort wieder starten will in Richtung McDonalds, das ich ein paar Meter vorher passiert hatte, warnt er: Der hat erst ab 8 Uhr geöffnet! Also absitzen und eine Knackwurst in der Tanke verdrücken. Henning und Holger sind schon wieder on tour.

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Parchim, Kontrolle Nr. 4

Nächstes Teilziel ist Havelberg bei Kilometer 480. Diesen Teil der Strecke kenne ich recht gut von den Berliner Brevets und vom Zeitfahren HH – B her. Bekanntes Terrain. Die Straße ist kilometerlang als Vorbereitung für eine neue Decke abgefräst, die Einmündung des Radwegs garniert mit dunklem scharfkantigen Split. Wäre ich doch auf der Straße geblieben! So schleicht sich die Luft aus meinem Hinterrad, und ich darf in sanftem Nieselregen den Schlauch wechseln. Eine messerscharfe Mikroscherbe hat sich in den Conti 4000 hineingearbeitet.

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Genau – nur nicht krampfen

Da hat der gute Reifen keine Chance gehabt. Die Kollegen, die ich vor ein paar Kilometern überholt hatte, passieren mich jetzt wieder. Nicht ohne mir ihre Hilfe anzubieten. Der zweite Plattfuß ereilt mich wenige Kilometer weiter. Wahrscheinlich bin diesmal ich der Urheber, weil ich den Schlauch nicht vorgepumpt hatte, bevor ich die Power aus der Co2-Kartusche hineingelassen hatte. Irgendwo hat sich der Schlauch verklemmt und Schaden genommen. Also werde ich wieder einmal überholt.  „Selbstgewähltes Leid.“ In Havelberg spendiert mir Henning, natürlich ist er gerade startbereit, als ich anrolle, einen schönen Schwalbe-Schlauch. Das beruhigt mich ungemein, denn auf Schlauchflicken im Falle einer weiteren Panne hatte ich überhaupt keine Lust. Henning sei Dank!

Der Elbauenweg nach Tangermünde läuft parallel zur B 107, die jetzt um die Mittagszeit stark befahren ist. Der Radweg ist in mäßigem Zustand, auf der Straße ist das Leben gefährlich. Ich wähle die Buckel des Radwegs. Kurz vor Tangermünde hat sich ein alter VW-Bulli mehrfach überschlagen und liegt an der Straßenböschung, daneben eine Familie, die dem Anschein nach heil geblieben ist. Auf der Elbbrücke hinüber nach Tangermünde kommt mir ein ganzer Konvoi von Rettungsfahrzeugen mit Blaulicht und Martinshorn entgegen. OLYMPUS DIGITAL CAMERA

In Tangermünde hat sich der Sturm des Vortages in eine Fabrikhalle hinein verkrochen.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Der Wind ist zwar noch deutlich spürbar, hat aber die Aggressivität verloren. Gleichmäßig kann ich dahinkurbeln. Die nächste Kontrolle ist Wolmirstedt in der Region der Kalibergwerke und der 100 Meter  hoch aufgetürmten Kalihalden. Stempel holen, weiterfahren. Noch 57 Kilometer bis zum Ziel. Hinein in die Wellen von Ammensleben, Gutensleben, Ottmersleben, Rottmersleben. Immer auf und ab. Jetzt spüre ich langsam meine Erschöpfung, denn drei Prozent Steigung fühlen sich an wie ein veritabler Alpenpass. Also noch einen Mars-Riegel in den Körper schieben, und immer reichlich Apfelschorle drübergießen.

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Rüber über den Mittellandkanal nach Westen

Jetzt fängt es auch wieder an zu regnen. P6240434.jpg

Du fieses Wetter wirst mich nicht bezwingen!

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Von Rottmersleben sind es nur noch 2440 Kilometer auf dem Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela. Vor 11 Jahren bin ich diese Strecke mal komplett gefahren. Allerdings habe ich mir damals 12 Tage Zeit lassen können.

Der Jakobsweg gibt auf den letzten 40 km nochmal moralischen Schub, und so erreiche ich Warberg um 20.20 Uhr. Fast 36 Stunden hat das Unternehmen Brevet 626 km, Ostfalen, gedauert. Keine Superzeit, aber ich bin im Ziel. Als Nr. 27 von 72 Startern.

Bei Hartmut im Wohnzimmer werde ich mit „Chapeau!“ empfangen, kann mein Kärtchen abgeben, bekomme einen Kaffee und lasse gemeinsam mit den Kollegen das Regen-Brevet Revue passieren.

P.S.: Warberg ist eine Reise wert! Top Organisation, sympathische Organisatoren und ein wunderbar gemischtes Starterfeld. DANKE!

Durch Havelauen und Haveldörfer

Wir treffen uns an der Fähre in Ketzin. Peter kennt den Fährmann mittlerweile gut und grüßt mich schon von der Brücke. „Hol über.“ Die Seilfähre Charlotte bringt uns auf die Südseite der Havel an den Radweg, der nach Brandenburg führt. 11 Uhr ist es, und ich habe bis hierher schon 52 Kilometer in den Beinen. Der Himmel ist tiefblau, die Sonne lacht, ein sanfter Ostwind bläst. So macht Kurbeln Freude, nur in den Wäldern der Havelaue, zwischen den alten Tonstichen, lauern Mücken auf bluttragende Beute. Schneller fahren ist das Gebot, dann haben sie keine Chance zur Landung. Noch drei Wochen sind es bis zum 600er Brevet in Warberg. Meine Beine brauchen noch ein paar Trainingskilometer. Lange Strecken fallen leichter, wenn man vorher oft und lange und auch regelmäßig intensiv in die Pedale getreten hat. Peter weiß das genau und begleitet mich wie ein wohlmeinender, mit reichlich Erfahrung vollgesogener Mentor, der es selber nicht mehr nötig hat, ein Langbrevet zu fahren. Können kann er schon, bin ich sicher. Nur wollen will er nicht (mehr).

Um die Mittagszeit haben wir den Brandenburger Dom im Blick und umkurven das Innenstadtpflaster auf einem Bogen über einen Wanderweg an der Havel entlang. Der wird irgendwann sandig und schottrig. Auch kein echter Gewinn. Zu früh ist es für eine Pause in der Altstadt. Weiter nach Norden in die fetten Wiesen und Felder zieht es uns.fullsizeoutput_3e54

Am Stadtrand passieren wir diesen Obst-Verkaufsschuppen. Hoffentlich sind Äpfel und Erdbeeren von besser Qualität, als die Fassade vermuten macht.

In Brielow-Ausbau sichten wir im hoch stehenden Gras eine lange Reihe verrosteter Bahnanhänger. Stahl tonnenweise auf einem Abstellgleis inmitten der schönen Landschaft. Quer über die Landstraße führen immer noch die schon lange nicht mehr genutzten Gleise. Seit mehr als 20 Jahren rosten die Gefährte mittlerweile still vor sich hin. Wir fragen uns, was sich die Deutsche Bahn dabei denkt. Dieselbe Bahn, die sich noch vor wenigen Tagen stolz wegen ihrer Verdienste um unsere Umwelt auf die Brust geschlagen hat.

„2017 haben wir rund 207.000 recycelte Schwellen wieder eingesetzt und so insgesamt rund 10.000 Tonnen CO2 eingespart.  Die Schwellen, die nicht mehr im Gleisnetz der Deutschen Bahn verwendet werden können, werden zu Baustoffen aufgearbeitet, um so wertvolle Rohstoffe einzusparen.“ P1090779

Toll, welche Verdienste für die Umwelt die DB für sich reklamiert. Mein Vorschlag: Verwertet doch endlich die zig Tonnen Altstahl, die ungenutzt und die Umwelt verschandelnd in der Landschaft stehen. Verkauft die alten Bahnhöfe nicht an Investoren, die nicht investieren, sondern nur abschreiben und vergammeln lassen. Reißt die alten Schienen aus der Straße, wenn die Strecke schon seit Jahrzehnten stillgelegt ist. Wieviele Radfahrer mögen sich schon an solchen Gefahrenstellen flachgelegt und verletzt haben?! P1090777

Zeit, dass wir uns wieder der schönen Natur, und die gibt es hier überreichlich, zuwenden. Wir trösten uns mit der stahlblau glitzernden Havel, dem üppig wachsenden Uferschilf, dem Gequake von Fröschen und Kröten, dem Konzert von gut gelaunten Vögeln und den langsam dahin paddelnden Gänsen und Enten.

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Die Kirschen sind reif und locken zum Genuss.

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In Pritzerbe setzen wir wieder einmal über die Havel hin nach Kützkow. Von einer älteren, resoluten, derb meckernden Frau werden wir unmissverständlich darauf hingewiesen, dass zuerst die Autos auf die Fähre fahren dürfen, erst danach die Radfahrer! Wir sollten doch erst einmal die Schilder lesen, bevor wir uns am Ende strafbar machen. Oha, wo ist diese Dame wohl sozialisiert worden? Ein Blickwechsel mit dem Fährmann genügt, ein Nicken, und wir rollen als Erste auf die Planken – ungestraft. So geht das auch.

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Durch duftende Kiefernwälder führt der wunderbar glatte Radweg in Bögen an der Havel entlang.

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Blumen-Räder-Kunst an der Havel
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Roggen satt

Wir schwingen uns hinein ins Milower Land, durchqueren Orte wie Jerchel und Marquede. Dann kommt Milow, das wir noch aus der Winterzeit in Erinnerung haben, als wir über vereiste Pfützen balancierten und uns auf heißen Glühwein freuten. Heute ist die Luft heiß, und wir lechzen nach kühlen Getränken.

Jetzt ein frisches Veltins, träume ich. Peter winkt mich alsbald auf den Hof eines kleinen Bistros mit drei großen Veltins-Sonnenschirmen davor. Gottseidank ist das keine Fata Morgana, sondern erfreuliche Realität. fullsizeoutput_3e4e

Wir lassen uns den kühlen, gezapften Gerstensaft aus dem Sauerland schmecken, nicht ohne die nette Wirtin darüber in Kenntnis gesetzt zu haben, dass wir quasi vor den Toren der Brauerei groß geworden sind. Sie staunt und bringt uns freudig ein zweites Pilsken. Der Eigner der Gehhilfe neben Peters De-Rosa-Carbon-Renner sagt mir, er wolle absolut nicht weg mehr aus dieser Gegend . Apotheke, Arzt, Netto-Markt, Natur pur rund herum und dann auch noch das Scheunen-Bistro mit so leckerem Bier. Das reicht doch zum zufriedenen Leben. Wir nicken bestätigend. Komm’se immer wieder rein, wenn’se in der Gegend sind, sagt der Wirt, als wir aufbrechen. Und der Wahlspruch des Gasthofs ist hier zu lesen:

                                    Hast Du Hunger oder Durst ,
ist Dir das Wetter draußen Wurst,
bist Du zu zweit oder allein
so schau in unsere „SCHEUNE“ rein !!!
Der Alltag ist bald vergessen bei unserem rustikalen Essen .
Der Wirt der zapft das Bier und alle rufen „hier“.
Es wird geschmaust ,getrunken und gelacht
bis hinein in die späte Nacht .
Zufrieden war der Gast ,der Wirt nun sagt „Gute Nacht“.

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Billard ist jedenfalls nicht in Milow angesagt. Nicht mehr!

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Dafür lockt der Verkaufsstand mit Erdbeeren und Spargel, das Kilo ab 3 Euro.

Das Straßendorf Milow hat neben der Kirchen-Sparkasse eine zweite Attraktion: die Jugendherberge Carl Bolle. Carl Bolle, der in Milow geboren wurde, war zunächst erfolgreicher Bauunternehmer in Berlin, dann wurde er als „Milchkönig von Berlin“ weltbekannt –  erbaute die Villa in Milow 1882 als Sommersitz für seine Familie.

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Foto von W. Ganzer auf der Seite Milower Land

Ab 1891 stellte er  sie als Erholungsheim für die Kinder seiner Angestellten, später als Jugend- und Ausbildungsheim zur Verfügung. Carl Bolle  bewies damit und  mit einer ganzen Reihe von Projekten beispielhafte soziale Kompetenz. In unseren Tagen können sich Jugendliche, Familien, Durchreisende, Radwanderer freuen, in solch einem Juwel Gast sein zu können.

Nördlich von Milow drehen wir wieder ein auf den Havel-Radweg, der allerdings ab hier von wechselhafter Qualität ist. Alte Plattenwege, Schotterpassagen, wir nehmen es gelassen. Die 28-mm-Pneus federn das ganz gut ab. Kurz vor Rathenow haben wir eine Begegnung mit einem Raben und einem Storch, die am Wege stehen, als würden sie sich gerade angeregt unterhalten. Ich bekomme die beiden stehend und dann startend auf die Platte.P1090811fullsizeoutput_3e51

Rabe nach links, Storch nach rechts im Alarm-Start. Entschuldigt bitte die Störung eurer Unterhaltung.

In Rathenow steigen wir in den RB nach Berlin und lassen einen herrlichen Ausflug Revue passieren. Wir werden hier noch oft die Räder durch Dörfer, Auen und Wälder rollen lassen. Es lohnt sich immer aufs Neue.

P.S Der Fotograf und Künstler Götz Lemberg hat die Havel in seinem Kunstband „Havelcuts“ intensiv und vielen Varianten eingefangen.

 

Quer durch die anhaltinischen Leben

Wir starten unsere kleine Etappentour nach Bad Driburg am Bahnhof in Kirchmöser, Brandenburg-Kirchmöser genau. Die ersten 50 Kilometer legen wir per Bahn zurück, weil wir bis zum Tagesziel Osterwieck auch dann noch 160 Kiometer zurücklegen müssen. Außerdem kennen wir die Gegend um Potsdam bis hin nach Brandenburg wie unsere Westentasche. Neue Eindrücke wollen wir sammeln, Bilder für das Innere. Als wir in Kirchmöser, was für ein Name, aussteigen, stehen wir wieder einmal vor einem verlotterten, halb verfallenen Bahnhofsgebäude.

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Du machst ein starkes Team zum stärksten Team

Fenster und Türen des Erdgeschosses sind mit Brettern zugenagelt. Als ob es hier noch etwas zu holen gäbe. Davor ein schief dastehender Bauzaun. Und die Personalabteilung der Deutschen Bahn hat sich nicht entblödet, vor dieser Kulisse per Plakat für neue Mitarbeiter zu werben: „Du machst ein starkes Team zum stärksten Team“, können wir amüsiert und leicht verwundert lesen.

Der „Radweg“ Berlin–Hameln führt uns über unendlich lange, langweilige Geraden der viel befahrenen Landstraße entlang. Sattelzüge, Baufahrzeuge, Busse. Alle haben heute beschlossen, unseren Track zu befahren. Nach zwei Stunden und 50 Kilometern melden sich unsere Körper und verlangen nach Kohlenhydraten und Koffein. Am besten zu bekommen bei einer netten Bäckersfrau. Nur wo finden wir die zugehörige Bäckerei? Kilometer um Kilometer radeln wir durch die Ortschaften – keine gastliche Stätte lockt. Nur ein fahrender Bäcker steht mit seinem Marktfahrzeug am Straßenrand. Kuchen gibt es hier, nur Kaffee hat der nette Mann nicht an Bord. Wenn der schon durch die Dörfer rollt, um Brot und Kuchen zu verkaufen, wird klar, dass der letzte ansässige Bäcker schon lange aufgegeben hat.

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Das Kulturhaus von Königsborn steht unter Denkmalschutz

Dann ziehen wir eben durch bis Magdeburg für unseren Milchkaffee, lechzt Peter leicht frustriert. So schlimm kommt es dann doch nicht. Nach Durchfahren von Ortschaften wie Zwölf Apostel und Jakobsberg, deren Namen aber keinen biblischen Ursprung haben – ursprünglich 12 Grundstücke des Fleckens führten 1946/47 zur biblisch anmutenden Bezeichnung –, treten wir weiter und weiter durch die anhaltinische Diaspora. Völlig unvermutet erspäht Peter dann in Königsborn kurz vor Magdeburg ein Stehcafé. IMG_2366Die überaus freundliche Verkäuferin preist ihre Kuchen an, schließt eigens für uns das Café auf und bringt uns riesige Milchkaffee zu Schnecken und Streusel. So gestärkt peilen wir zielsicher den Magdeburger Dom an und finden uns 20 Minuten später in der Altstadt wieder. IMG_2369Das Hundertwasser-Haus versprüht unkonventionellen Charme, Touristen werden über die Geschichte des Gebäudes aufgeklärt, wir hören zu und sind beeindruckt. Ein paar Meter weiter stehen wir vor dem riesigen Dom, dann staunen wir über die herrlich restaurierten Gebäude im Gründerstil, die südlich parallell zur Elbe die Altstadt schmücken. So schön hatten wir das nicht erwartet. Beim Verlassen der Stadt nach Südwesten ereilt uns wieder die graue Realität der Industriebauten, der Gewerbeansiedlungen mit Gebrauchtwagenhändlern und Tankstellen und …

Wir schwingen uns hinein in die Region der Orte, die fast alle ein „Leben“ im Namen tragen: Wanzleben, Hadmersleben, Kleinalsleben, Großalsleben, Badersleben. Mit unserem Begriff Leben hat der Namensanhang allerdings wenig zu tun: -leben bedeutet soviel wie Nachlass oder Erbe.OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Beim Neuausbau des Radweges Anderbeck-Badersleben, „Hier investiert Europa in die ländlichen Gebiete“ , finden wir diese Einfahrtregelung eines Feldweges. Für einige Traktoren pro Jahr, die diese Auffahrt nutzen, wurden diese Schilder aufgestellt! Schilda lässt grüßen!

Schließlich erreichen wir unser Tagesziel Osterwieck. Diesen Ortsnamen hatte ich eigentlich irgendwo an der Nordseeküste vermutet, aber nicht im Harzvorland. Und der Gasthof, in dem wir übernachten werden, heißt passenderweise auch noch Hafenbar. Osterwieck liegt in einer sanften Senke am Ufer der Ilse. Auf das Jahr 974 wird die Gründung des Ortes datiert, mehr als 400 Fachwerkhäuser verschiedener Stilarten sind hier zu bewundern. OLYMPUS DIGITAL CAMERAP5230042.jpgOLYMPUS DIGITAL CAMERAP5230056.jpgP5230058.jpgSo eindrucksvoll und vielfältig habe ich noch nirgendwo Fachwerkarchitektur erlebt. Die Menschen hier geben sich ganz offensichtlich große Mühe, diesen Schatz zu erhalten und wieder herzustellen. Respekt!

Wir finden die Hafenbar neben historischem Fachwerk in einem Zweckbau der Nachkriegszeit, dem die Eigentümer nur nachträglich etwas Fachwerkcharme eingehaucht haben. Macht nichts: Die Wirtsleute sind warmherzig und freundlich. Wir werden aufgenommen wie alte Freunde.

Im kleinen Innenhof genießen wir die ersten leckeren Biere, bevor wir eine kleine Stadtbesichtigung machen. Historisches, Kurioses, wunderbar restauriertes Fachwerk, und auch die Erkenntnis, dass es hier nicht leicht ist, im Gastgewerbe erfolgreich zu sein.

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Es gibt noch viel zu tun

Am nächsten Morgen erwartet uns entgegen der Vorhersage ein grauer Himmel. Wir genießen das gute Frühstück umso länger. Es nützt nichts: Eine Stunde später, nachdem wir die Altstadt von Goslar bestaunt haben, fängt es an, sanft, aber stetig zu regnen. Meine Füße werden nass, und ich ziehe meine Neopren-Fußspitzen über.

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Auf dem historischen Marktbrunnen von Goslar breitet der goldene Adler seine Schwingen aus

P5240080.jpgP5240081.jpgDann bleiben die Füße zumindest warm. Peter hat es versäumt, seine Schutzbleche zu montieren, schließlich war kein Regen angesagt. Das hilft ihm allerdings herzlich wenig. Auf der Suche nach einem geeigneten Ersatz werden wir in einem Hinterhof fündig: P5240089.jpgPeter bindet ein Fichtenbrett mit Kabelbindern auf dem Tubus-Gepäckträger fest, und fertig ist der perfekte Spritzwasserschutz.

In Einbeck trösten wir uns über den anhaltenden Regen mit einem Härke-Sommer-Ale und einem Einbecker Urbock hinweg. P5240096.jpgDie köstlich scharfe Senfsuppe im Brodhaus sorgt für neue Motivation. Beim Start hinaus aus der Einbecker Altstadt lässt der Regen nach, und wir genießen die lauen Lüfte. Endlich rollen wir auf einem gut geteerten Radweg in Richtung Wesertal hinunter. Immer ganz geradeaus. OLYMPUS DIGITAL CAMERAHolzminden mit einem rauchenden Fabrikschlot fest im Blick. Holzminden durchkurven wir ohne Aha-Erlebnisse. Irgendwie wirkt diese Stadt wie ein Ort ohne Anziehungskraft und Kultur. Vielleicht sehen wir auch einfach nicht richtig hin. Schließlich wollen wir nur rüber auf die Westseite der Weser und dann nach Corvey mit seiner Klosteranlage.

Für einen als Weltkulturerbe ausgezeichneten Ort wirkt die Gesamtanlage recht zwiespältig. Ein restaurierter Kernbereich mit der Klosterkirche ist sehr schön anzusehen, daneben als Kontrast die stark renovierungsbedürftigen, langgestreckten Speicher und scheunenähnlichen Gebäude. Am Abend, als wir in Höxter mit einem Betreiber einer guten Pizzeria ins Gespräch kommen, erfahren wir, dass es derzeit Zwist wegen der Verwendung von europäischen Fördergeldern gibt: Der Herzog von Ratibor, Eigner der Gesamtanlage, soll überproportional in seine eigenen Gemächer investiert haben. So die Vermutung des kundigen Bürgers.

Doch zurück in die Klostermauern. In einem Seitenflügel betreibt Kalle Krome seit mittlerweile 20 Jahren sein Familien-Aktiv-Hotel. Kanufahrten auf der Weser bietet er an, und Wasser- und auch Radwanderer finden hier eine treffliche Unterkunft. Einfach, sauber, unkonventionell. Peter und ich bekommen jeweils ein Zimmer mit vier Stockbetten. Ruhe pur hinter meterdicken Wänden. Und zum Abschluss des Abends genießen wir auf der kleinen Terrasse leckeres Corveyer Bier. Unser Schlummer ist tief und erholsam in dieser Klosternacht. OLYMPUS DIGITAL CAMERABeim Frühstück verwöhnt uns Rosi, die aus Brasilien stammt und „Mädchen für alles“ bei Kalle Krome ist. P5250115.jpgDas Frühstück ist genauso genussreich wie kurzweilig. Das Weser- Aktiv-Hotel ist DER Geheimtipp für alle Weserradler.

Die letzte Teiletappe unserer Tour führt uns durch herrliche Natur und über bestens ausgebaute Radwege nach Bad Driburg. Hier hole ich um 11 Uhr meinen neuen Benz ab.

Das war ein schöner Anlass für eine kleine Etappentour ins Weserbergland, auf der wir mindestens neun verschiedene –leben durchfahren haben.

Am 25. Juni wird es wieder ernst. Das 600er-Brevet in Warberg-Ostfalen steht an. Dann wird es weniger komfortabel.