Landpartie

Mein linkes Handgelenk kann ich endlich wieder belasten und bewegen wie vor dem Umfaller. Ein schönes Gefühl, sich wieder auf eine Ausfahrt freuen zu können. Radfahren ist für meinen Körper und meine Seele immer noch die beste Bewegung. Also starte ich an diesem frischen Morgen gen Westen. Einfach los rollen ohne festes Ziel. Der Nordostwind schiebt mich kräfteschonend aus dem Speckgürtel der großen Stadt, hinaus nach Nauen. Die alte Funkstadt zieht mich auch heute nicht in ihre Gassen hinein. Obwohl ich einige Schlenker durch das „historische Zentrum“ mache. Irgendwie ist der Mix aus alt und neu, aus bunt und grau, für mich nicht attraktiv. Wahrscheinlich tue ich den Einwohnern, Städtebauern und Geschichtsschreibern Unrecht. Nur zwei Fotos mache ich: Vom Barbershop, wo der Barber die Haare schon für 13,50 € in Form bringt und von einer altmodisch ramschigen Uhrenauslage eines Uhrmachermeisters, dessen Präsentation aus der Zeit gefallen scheint.

Diese Regeln gefallen mir gut. Besonders den Wind fühle ich heute. Nauen lasse ich hinter mir und vor mir erstrecken sich die sanften Wellen des Havellands, die auf der Nauener Platte gespickt sind mit Windkraftanlagen. Verspargelung der Landschaft. Wer Ökostrom haben will, muss die riesigen Propeller wohl tolerieren. Nauen ist der Fläche nach knapp so groß wie München und größer als Frankfurt. Mehr als 30 Kilometer misst die Gemeinde in der Diagonale. Groß Behnitz visiere ich als nächsten Ort an. Hier kenne ich das Landgut Stober, ehemals der Landsitz der Familie Borsig, heute ein mit viel Aufwand, aber mit Augenmaß restauriertes Kleinod im Havelland. Das Gut und den Park will ich mir heute genauer ansehen, keiner treibt mich, ich habe Zeit und Muße zum Schauen. Als ich näher an die Hofeinfahrt heranrolle, höre ich Musik, genauer Frauenstimmen. Noch ein Anreiz mehr, in das Innere des Geländes zu gehen. Ich steige vom Granfondo ab und staune über aufgebaute Bühnen, Soundausrüstung, umherwuselnde Techniker und einen Kameramann bei der Arbeit. Darf ich rein, frage ich mich – meine Neugier und die „Sirenengesänge“ im hinteren Bereich des Hofes locken mich hinein. Die Akteure sind so beschäftigt, dass sie mich gar nicht als Fremdkörper wahrnehmen.

The Voice of Germany im Landgut Stober

Jetzt dämmert mir, dass hier das Auswahlverfahren für „The Voice of Germany“ stattfindet. Sarah Connor und Nico Santos coachen eine Woche lang 70 Talente für die nächste Staffel der beliebten Sendung. Ich gestehe: auch ich gehöre zu den Fans. Die jungen Leute, die absolut live und ohne Bühnenerfahrung mit ihren Stimmen alten und neuen Hits von Rock und Pop Leben einhauchen, beeindrucken mich. Und hier im Park vom Landgut Stober haben sie Gelegenheit, bei bestem Wetter mit um die Wette zu singen. Das ursprüngliche Haus ließ sich der Landrat Alexander von Itzenplitz um das Jahr 1800 als Herrensitz errichten. 66 Jahre später übernahm der Eisenbahnfabrikant Albert Borsig die Liegenschaft und baute das Gut zu einem landwirtschaftlichen Mustergut mit 2700 ha aus. Aber das ist eine Geschichte für sich. Hier nachzulesen in einem ausführlichen Artikel des Berliner Kuriers.

Hinter der ersten Bühne von „The Voice“ setze ich mich auf eine Mauer und lausche in den Park hinein. Mindestens drei Gruppen üben an verschiedenen Orten. Unten am Seeufer sitzen sechs junge Damen und singen live vom Feinsten.

Ich schiebe mein Granfondo in gebührendem Abstand durch den Park und finde auf der Bank unter einer alten Platane einen wunderbaren Platz zum Hören und zum Schauen.

Hier könnte ich den ganzen Nachmittag verbringen. Natur, Kultur, nette Menschen, das Leben ist schön! Im Gutspark, den ursprünglich der alte Itzenplitz anlegen ließ, steht die mächtige, allerdings nicht mehr ganz gesunde Platane, an der eine Schaukel hängt. Sie hat einen Stammumfang von über sieben Metern. Also ist sie mit ca. 300 Jahren im Spätherbst ihres Lebens angekommen. Der Parkweg macht einen Bogen und führt wieder hinauf zur Dorfstraße. Dort steht das alte Eingangsportal zum Landgut etwas verloren da und irgendwie nicht so recht zum übrigen Ensemble passend. Kein Wunder, denn die Figuren auf den Backsteinpfeilern erwarb Albert Borsig kurz nachdem in Berlin eine ganze Reihe von historischen Toren der neuen Stadtplanung zum Opfer gefallen waren. Carl von Gontard baute das ursprüngliche Oranienburger Tor im Stil eines Römischen Triumphbogens. Und oben drauf thronten als Trophäe römische Krieger, die Albert Borsig im Jahre 1867 auf das Backsteinportal seines Landgutes setzen ließ.

Auf der gegenüberliegenden Seite will ich einen Blick auf die alte Kirche und den kleinen Friedhof werfen, wo die Familie Itzenplitz und auch die Borsigs ihre Grabstätte haben.

Hinter diesen Mauern liegt der Familienfriedhof der Borsigs. Lange Zeit dem Verfall preisgegeben, jetzt wieder in ansehbarem Zustand. Zum Verweilen lädt mich der Ort nicht ein. Friedhöfe sind ein Ort zum Nachdenken, aber eben auch zum Trauern. Und das will ich heute nicht. Nach zehn Minuten stehe ich wieder auf der Hauptstraße von Groß Behnitz und wende mich südwärts. Bald bin ich in Klein Behnitz, wo eine ganz besondere Straße aus dem Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts zu bestaunen und zu befahren ist. Eine „Zweihüftige Ziegelstraße“, die vor mehr als 100 Jahren, klassifiziert als „Nichtstaatschaussee“, hier gebaut wurde. Sicher aus Ziegeln der vielen umliegenden Ziegeleibetriebe. Ganz Berlin wurde in dieser Zeit aus Klinkern, die in Brandenburg gebrannt wurden, gebaut. Aber eine Straße? Ganz genau so, wie in den Niederlanden viele zu finden sind. In dem Blogbeitrag https://einfachraus.eu/klinker-klaenge-im-havelland-eine-strasse-aus-ziegeln/ ist das sehr gut recherchiert und beschrieben. LESEN! Ich beschränke mich auf das Fotografieren und Balancieren.

Die Klinkeroberfläche sieht aus wie ein Abschnitt von Paris-Roubaix, nur eben aus Ziegeln, nicht aus Granitpflaster geformt. Und erstaunlich gut zu befahren. Nach der kleinen Rumpelpartie komme ich bei Bagow wieder auf glatte, geteerte Oberfläche. Bei meinem Lieblingsbäcker, dem Backwahn in Päwesin, gönne ich mir einen großen Milchkaffee und ein noch größeres Stück Mohnkuchen. Wie steht doch so schön geschrieben dort: „Kuchenstücke leichter als 300 Gramm sind nur Kekse“. Nach einer erholsamen pause rolle ich gemütlich über Nauen wieder heim.

Und zum Schluß noch ein paar Impressionen vom Heimweg

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