Himmel, Wolken, Farben
Die Luft ist klar, die Luft ist kalt, die Luft duftet nach Erde, feuchtem Gras und Holz. Wir rollen durch die Barnimer Feldmark nach Osten.

Am Ende der herrlichen Lindenallee ist der Kirchturm von Freudenberg zu erkennen. Ein Türmchen wächst schmal aus dem neugotischen Turm in den Herbsthimmel.


Am Giebel einer Feldsteinscheune zwei Davidsterne, dazwischen im Fenster eine halb herabhängende Flagge mit der Aufschrift “ Schwerter zu Pflugscharen“. Gab es hier einmal eine jüdische Gemeinde, eine Synagoge gar? Ich kann nirgendwo eine Information dazu finden… Es ist Mittag geworden, als wir uns die kleine Welle nach Haselberg hinaufarbeiten. Von hier reicht der Blick bis weit in das Oderbruch. Hinunter geht es nach Vevais, einer kleinen Ansiedlung mit hoch interessanter hugenottischer Historie. Nach wenigen Minuten stehen wir vor der kleinen Figurengruppe aus Keramik, die zur Erinnerung an die Kolonistenfamilien, die aus der Gegend von Vevey am Genfer See mit allem Hab und Gut vor mehr als 250 Jahren ins Oderbruch gewandert waren. Die Geschichte dazu habe ich unter dem blau unterstrichenen Link beschrieben.


Eine Viertelstunde später stehen wir wieder vor einem Kunstwerk mit historischem Bezug. Vor der Kirche in Wriezen umkurven wir den Lebensbrunnen des Bildhauers Horst Engelhardt. Offiziell ist es der Marktbrunnen, im Volksmund der Teufelsbrunnen. Je nach Perspektive ein teuflisch-frivoles Kunstwerk. Oben auf dem Granit tanzt ein Fabelwesen. Unten liegt eine Nixe, daneben ein Spielmann und ein Fischer.



Die beiden Titan-Granfondi lehnen an der Bronzefigur mit Helm und Brett vorm Kopf mit der Inschrift „Jeder kann es sich selbst herunter reissen“ . Dem stimme ich einfach mal vorbehaltlos zu.
Nach einer stärkenden Kaffeepause suchen und finden wir den Einstieg auf den Bahnradweg hinüber zur Europabrücke. 10 Kilometer ohne Menschen, ohne Autos. Herrlich!

Herbstfassade in Alt Mädewitz
Die Oder empfängt uns mit einem traumhaften Cumulushimmel über dem noch flutverbreiterten Flussbett. Stehen und staunen.







Auf dem Oderradweg wählen wir die obere Spur auf dem Deich und werden mit den schönsten Ausblicken belohnt, die ein Herbsttag im Bruch bieten kann. Wir rollen und schauen und rollen und staunen. Ein riesiger Cumulus hat sich wie ein Fächer am Himmel ausgebreitet und trägt zur Zierde eine wirbelige, weiße Vorderkante.

In Groß Neuendorf sind die Bahnwaggons des Cafés wieder aus der Flut der vergangenen Tage aufgestiegen und sehen unversehrt aus. An der Wegbiegung leuchtet an der alten Drogeriefassade rot das Herbstlaub.



In Kienitz machen wir halt am Panzerdenkmal, das seit 1970 hier steht. Als Erinnerung und Mahnmal für die Sowjetsoldaten, die hier am 31. Januar 1945 die Oder überschritten und den ersten Brückenkopf auf der Westseite errichteten. Bis zum Ende des Krieges starben danach in der Schlacht um die Seelower Höhen zehntausende Soldaten.

Das Titan-Granfondo freut sich über bald 80 Jahre Frieden. Hier jedenfalls.
16 Uhr ist es mittlerweile, 110 Genusskilometer liegen hinter uns. Die Sonne beleuchtet die Oderlandschaft besser, als es die Profis am Filmset vermögen. Der Abschnitt bis Küstrin kommt uns vor wie eine großartige Naturinszenierung. Hier die Stimmungsfotos dazu:







Nach dem zurückgegangenen Hochwasser der vergangenen Woche haben die Bäume immer noch nasse Füße. Ende September, zwei Wochen vor unserer Tour, war der Pegelstand noch zwei Meter höher in Kienitz . Die Kraniche, die Graugänse und die Stare untermalen die beeindruckende Vorstellung mit einem vielfältigen Konzert.
In Neubleyen gelangen wir wieder in die schnöde Realität der Zivilisation. Eine Übernachtung wird hier ab 25 € pro Person geboten. Die Lokalität lockt uns allerdings absolut nicht. Zudem ist der Gasthof geschlossen. Also heißt es weiterfahren, obwohl der Magen knurrt. Aber wir haben ja unsere wohlgefüllten Trinkflaschen dabei. Und Wolfgang stärkt sich mit einer Banane, ich bevorzuge meinen Eiweißriegel. So erreichen wir in lockerer Stimmung den Bahnhof Küstrin-Kietz, wobei wir wissen, dass seit Jahren hier außer dem Bahnanschluss absolut nichts geboten wird. Nur die Luft ist rein und riecht nach Herbst. Ich befrage meine Bahn-App nach der Abfahrtszeit für den Zug nach Berlin. Die erste Zeit leuchtet rot und ist durchgestrichen! Aha! Der Zug fällt aus. Und genau das bestätigen uns zwei nette Mitarbeiter der NEG, die genauso warten wie wir. Nur scheint das für die beiden absolut normal zu sein. Total entspannt unterhalten sie sich weiter. Der nächste Zug geht in 90 Minuten. Eineinhalb Stunden hier herumstehen?! Nein! Also rollen wir hinüber nach Polen, nach Küstrin, dorthin, wo es Bier gibt und auch einen Bahnhof.

Wir haben Glück. Nach zwei Polen, die Schnaps und Bier und noch mehr Schnaps wollen, kaufen wir zwei Flaschen TYSK Bier für den Sparpreis von 3,60 €. Genuss pur. Fast sind wir versucht, noch einen Sixpack für die Bahnfahrt zu ordern. Dann fährt der Zug nach Berlin. Pünktlich. Um 22 Uhr bin ich zu Hause. Ein wunderbarer Tag war das. Natur, Natur, Natur.

Danke Dietmar für den schönen Artikel! Eine Einladung, eure Tour nachzufahren.
sportliche Grüße