Lost Places in Brandenburg – Bogensee

Mein Basso-Crosser wird bald 35 Jahre alt. Als ich das Rad bei Radsport Holczer in Herrenberg in Empfang nahm, fiel die Mauer in Berlin. Seine Räder rollten zuerst nur in Schwaben, Bayern und auch in der Provence. Erst nach dem Umzug aus dem Ländle ins Brandenburger Land um die Jahrtausendwende durfte es die hiesigen Wälder und Feldfluren erkunden. An uralte Eichen, Ulmen und Linden wurde es angelehnt. Verfallene Bunkeranlagen aus Weltkriegs- und auch DDR-Zeiten durchkurvte es. Alte Flugzeughallen, in denen die Bomber standen, Lungenheilanstalten, in denen schon lange keine Patienten mehr atmen, bestaunte es.

Und vor mehr als zehn Jahren war ich zum ersten Mal mit ihm in Bogensee. Heute, an einem Herbsttag mit klarem Himmel und frischen Lüften, habe ich Lust, wieder durch die bunten Wälder nach Norden zu fahren. In Wandlitz treffe ich an der Anlegestelle am See einen Ex-Rennkajakfahrer, der sein neues Kevlarboot aus dem Wasser zieht. Zufrieden sieht er aus, und er ist es auch. Das Boot ist leicht und nicht so kippelig wie ein Renngerät. Das sei sehr entspannt zu fahren und genussvoll zugleich. Schließlich ist der Sportler gerade in Rente gegangen, wie er mir erzählt. Wir konstatieren, dass die Rentnerzeit geradezu dazu verpflichtet, körperlich und auch geistig aktiv zu bleiben, und wünschen uns in diesem Sinne einen erlebnisreichen Tag. Von Wandlitz bis Bogensee ist es nicht weit. So um die sieben Kilometer. Wenn also die DDR-Granden den FDJ- Schülern in der Kaderschmiede Bogensee einen Besuch abstatten wollten, hatten sie es nicht weit.

Nördlich von Wandlitz führt die Straße hin nach Prenden. Nach drei Kilometern folge ich dem Schild „Bogensee“.

Um halb eins stehe ich vor dem überwucherten Torhäuschen, an dem einst der Zugang zum Gelände kontrolliert wurde. Daneben, offensichtlich jüngst abgefackelt, eine Garage mit undefinierbarem Inhalt. Ein paar Meter weiter begrüßen mich die Hinweistafeln zum längst verlassenen Internationalen Bildungs-Centrum IBC. Seit 1999 wird hier niemand mehr gebildet. Stillstand herrscht, die Natur holt sich die Anlage zurück.

„Herzlich willkommen“ … heute wirkt das wie ein Hohn. Willkommen sind hier bestenfalls Füchse und Wildschweine.

Im einzigen Gebäude, das heute noch genutzt wird, dem ursprünglichen Wirtschaftstrakt der Villa, residiert die „INU“ Waldschule.

Ein paar Meter weiter dann erblicke ich die einstige Göbbels-Villa, die er romantisch seinen „Waldhof“ genannt hat. Schon 1936 schenkte die Stadt Berlin dem Propagandaminister das Nießbrauchrecht für 496 Hektar Land zum 39. Geburtstag. Wahrscheinlich auf Weisung des Führers Adolf H. Dann ließ er das bescheidene Gebäude mit 1600 qm Grundfläche, 30 Privaträumen, 40 Dienstzimmern, einem 100 Quadratmeter großen Filmsaal und 60 Telefonen errichten. Dazu kamen noch Dienst-und Wirtschaftsgebäude für die Versorgung und das Wachpersonal. In den letzten Jahren ist das Gebäude immer mehr von Büschen und Bäumen zugewuchert. Vom bogenförmigen Schriftzug überm Eingang bröselt der Lack, der Putz löst sich in großen Placken.

Die Liebespaar-Skulptur, die erst im Jahre 1986 hier aufgestellt wurde, stammt aus einem Kunstprojekt der DDR. Ute Appelt-Lillack kann ich als die Bildhauerin dieses und auch anderer Werke auf dem Gelände ergooglen. Das Paar ist seit vier Jahren kopflos. Nur ein dicker Stahldraht ragt noch oben aus der Betonskulptur heraus.

Wenn ich mir vorstelle, wie Joseph Göbbels hier seine Rede mit dem Kernsatz: „Wollt ihr den totalen Krieg“ vorbereitet hat, gruselt es mich. Am 18. Februar 1943 wurden die allerletzten Menschenreserven für die Endphase des Krieges mobilisiert,

Alle Männer zwischen 16 und 65 sowie Frauen zwischen 17 und 45 Jahren konnten zur Reichsverteidigung herangezogen werden. Mit der Erweiterung der Wehrpflicht ab August 1943 wurden Hitlerjungen unter 18 Jahren direkt aus Wehrertüchtigungslagern in die Wehrmacht eingezogen . 

Göbbels hat hier zu Kriegszeiten heile Welt samt Familie gespielt und inszeniert.

Heute gibt es auf dem Gelände keinen einzigen Hinweis auf die Historie des Ortes. Keine Informationen, einfach NICHTS! So viel offensichtliche Geschichtsvergessenheit macht mich geradezu zornig.

Auch zur Historie der riesigen Anlage, die Anfang der 50er Jahre als FDJ-Jugendhochschule errichtet wurde, ist nirgendwo eine Information zu finden. Das Ende der DDR bedeutete auch das Ende der FDJ. In den 90er Jahren wurden das Lektionsgebäude, die Wohnhäuser, das Kulturhaus und auch die Ex-Göbbels-Villa von ehemaligen Mitarbeitern der Hochschule als Internationales Bildungs-Centrum bis 1999 weiter genutzt und erhalten. Bis die Kosten zu hoch wurden und die notwendigen Restaurierungsarbeiten das Budget der Organisation weit überstiegen. Die Pleite war die Folge. Ein Nachnutzungskonzept gab und gibt es immer noch nicht. Viele Anläufe, kein Fortschritt. Das Land Berlin als Eigentümer erwägt aktuell den Abriss der Bauten. Der würde aber mindestens 40 Mio. Euro kosten.

Und die hat natürlich Berlin nicht. Stattdessen wird wohl bald eine aktuelle Studie zur möglichen zukünftigen Nutzung erscheinen. Der Einzige, dem das Nutzen bringt, ist wahrscheinlich das beauftragte Planungsbüro. So wird wahrscheinlich Bogensee irgendwann komplett zugewuchert sein. Die nächsten Generationen können dann hier archäologische Abenteuerwanderungen machen.

Mein Basso sieht die Geschichte und die Zukunft von Bogensee mit dem gelassenen Blick eines gereiften Oldies. So wie ich auch. Darauf einen Schluck heißen Ingwertee aus der Thermosflasche.

Nachklapp:

Die bunte Herbstnatur macht dann doch wieder gute Laune.

Lobetal und Langer Trödel

Saatengrün, Veilchenduft, Lerchenwirbel, Amselschlag, Sonnenregen, linde Luft! Wenn ich solche Worte singe, braucht es dann noch große Dinge, Dich zu preisen, Frühlingstag!

Ludwig Uhland, Lob des Frühlings
Der Pfuhl bei Ladeburg mit seiner riesigen Silberweide – drumherum schnattern reichlich Graugänse

Montag, 7. März. Heute zieht es mich hinaus in den blauen Morgen, Waldluft tanken, die ersten Blumen entdecken, den kommenden Frühling riechen. Zuerst nach Osten über Schönwalde nach Bernau, dann nach Lobetal.

Eine meiner Lieblingsstrecken. Vor über 100 Jahren gründete der Bielefelder Pastor Bodelschwingh im Geiste der Bethel- Stiftung den Verein „Hoffnungsthal e.V. , der dann die Arbeiterkolonien „Hoffnungstal“ und „Lobetal“ errichtete. In der Ansiedlung ist die Stiftung allgegenwärtig. In historischen Gebäuden und auch neu entstandenen Wohnkomplexen für Benachteiligte und behinderte Menschen. Höchst beeindruckend. Schon im Jahr 2000 entstand im Rahmen der Stiftung die „Ukraine Hilfe Lobetal“. Heute fahre ich hier vorbei, um zu erfahren, welche Spenden noch benötigt werden.

Große und kleine Unternehmen stellen für den Transport ihre Fahrzeuge samt Fahrer zur Verfügung. Hier zu sehen ein riesiger Sattelschlepper, der in normalen Zeiten Lautsprecher, Bühnen und Equipment für Großveranstaltungen transportiert. Helfen macht gute Laune. Alle Menschen, die ich sehe, sind guten Mutes und packen an. Schön und anspornend, das zu erleben.

Durch Lobetal führt der Radweg Berlin-Usedom nach Norden, hin nach Biesenthal mit seiner „Jubiläumseiche“ auf dem kleinen Marktplatz vor dem Rathaus. Im Jahr 1886 wurde der heute 25 Meter hohe Baum zu Ehren des späteren Kaisers Wilhelm I. gepflanzt. Gewürdigt werde der 25. Jahrestag des Regierungsantritts des hier noch ungekrönten Prinzen von Preußen mit dem Namen Wilhelm Friedrich Ludwig (1797-1888) am 2. Januar 1861 – es ist der spätere deutsche Kaiser Wilhelm I. Zu lesen auf der Infotafel am Stamm.

Jubiläumseiche in Biesenthal

Nach ein paar Metern auf der Hauptstraße biegt der Weg nach rechts ab, hinunter zum Kaiser-Friedrich-Turm auf dem Schlossberg. Wo ist hier denn ein Schloss? Es gibt keins zu sehen, es gab hier nie ein Schloss. In Zeiten des Mittelalters soll hier einmal eine Burg der Askanier gestanden haben. Die Reste angeblicher Grundmauern wittern vor sich hin.

Der Weg führt hin zur alten Wehrmühle, die der Gründer und Unternehmer Michael Hecken, der nicht nur Fahrräder baut, zu einem Kreativort gestaltet hat. Die alte Mühle wurde von dem Flüsschen Finow, das ganz nah von hier aus einem kleinen Waldsee entspringt, angetrieben. Das alte Mühlrad dreht sich wieder. “ Eine holprige Idylle in der Talrinne des Finow-Flusses“, viel mehr schreibt Fontane nicht über Biesenthal. Etwas ungerecht, wie ich meine. Aber auch irgendwie treffend.

Der Radweg umkurvt die künstlerisch restaurierte Villa und führt einen Hügel hinauf. Runterschalten und raus aus dem Sattel. Doch, Stop! Raus aus dem Pedal – am Hang winken frisch erblühte Schneeglöckchen und bitten mich um ein Foto. Aber gerne doch.

Der noch feuchte Boden strömt Frühlingsdüfte aus. Genießend verweile ich einige Minuten, ehe ich wieder aufsteige und kurz danach auf die Wiesen der Barnim-Hochfläche schaue. Wo der Radweg wieder im Wald verschwindet, steht ein knallroter Rettungshubschrauber auf der Weide, zwei Polizeiautos, dahinter ein Notarztwagen. Ich steige ab, schaue gar nicht hin und werde an einem am Boden liegenden Rad vorbeigeführt. Offensichtlich war hier auf leicht feuchtem Untergrund und abschüssiger Straße ein Radler gestürzt. Die Tatsache, dass der Hubschrauber doch nicht zum Einsatz kam, lässt mich hoffen, dass es bei weniger kritischen Verletzungen geblieben ist.

Kiefern, Buchen, Eichen – der Weg führt nach Norden durch einen herrlichen Wald. Spechte klopfen, Kranichrufe schallen aus den Finowwiesen herauf. Die immer häufiger werdenden Wurzelaufbrüche rütteln mich ordentlich durch und mahnen zu vorsichtigem Fahren. Beim Schleusengraf, wo gerade Tische und Stühle herausgestellt werden, biege ich nach Westen ab und folge dem Finowkanal. Einigen der alten Schwarzpappeln haben die Stürme der vergangenen Tage den Garaus gemacht. Der Weg ist freigeräumt. Als ich an der Schleuse Leesenbrück ankomme, lockt mich der Rastplatz zu einer kleinen Pause. Heute ist schließlich gemütliches, schauendes Fahren mein Motto.

Die Schleuse, wie sie heute zu sehen ist, wurde im Jahre 1878 gebaut, im Finowmaß, Schleusenkammer 41,25 m lang; 9,50 m breit, Ober- und Untertor: jeweils 5,25 m breit. Hub: 2,50 m. Und das Ganze wird von jeher handbetrieben. Kurbeln ist beim Schleusen die Devise.

In Ruhlsdorf, kurz vor Zerpenschleuse kreuzt der Finowkanal den neueren Oder-Havel-Kanal. Passend zu dieser Erkenntnis tuckert der Lastkahn „Island“ am samt Marina neu entstandenen Hafendorf vorbei. Ich fühle mich weit nach Norden versetzt.

Westlich von der Zerpenschleuse beginnt der „Lange Trödel“. Die Bezeichnung Trödel ist vom Begriff Treideln – ziehen, abgeleitet. Über Jahrhunderte wurden die Lastkähne von Treidelpferden auf den Treidelpfaden gezogen. Heute tummeln sich hier Wanderer und Radler. Der 10 Kilometer lange Kanalabschnitt von Zerpenschleuse bis Liebenwalde ist reserviert für die langsamen Wassergefährte wie Tretboote, Ruderboote und kleine Motorboote. Der lange Trödel wirkt wie ein verwunschenes Erbe aus vergangener Zeit. Zerpenschleuse hat seine Ursprünge in einer Glashütte und einer Spinnerei. Kolonisten wurden hier schon vor Inbetriebnahme des Kanals angesiedelt. Am langen Trödel stehen aufgereiht die alten, meist sorgfältig restaurierten, Jahrhunderte alten Häuser. Es gibt einen Kanuverleih, das Eiscafé „Eisschleuse“, und am westlichen Ende der Ansiedlung das Antiquitäten-Café „Emma Emmelie“ von Ines Schweighöfer als Highlight. Ab 30.3. wieder geöffnet.

In wenigen Wochen werden sich hier Ausflugsgäste tummeln und wohlfühlen. Ich fahre weiter durch den Wald nach Liebenwalde. Dort, im Hafen-Bistro können sich Genussradler wieder stärken. Ich bleibe auf meinem Domane und setze Kurs nach Süden, Richtung Berlin.

Diese Halle wartet seit 10 Jahren auf Mieter

Zwei Kilometer weiter kreuze ich abermals den Oder-Havel-Kanal, wo der Lastkahn Franada gerade unter der alten Bahnbrücke durchgleitet.

Lastkahn Franada

Nachdem mich der Radweg Berlin-Usedom von Bernau aus nach Norden geführt hatte, rolle ich jetzt auf der Trasse Berlin-Kopenhagen in die Havelniederung, vorbei am Örtchen Bernöwe, hin zum Grabowsee mit seiner verfallenen ehemaligen Lungenheilstätte, die seit Jahren auf eine neue Nutzung durch „Kids-Globe“ wartet. Ein potenter Investfor fehlt dem Menschen mit der so sozial klingenden Idee. Und nachdem jetzt der Eigentümer der Liegenschaft statt bisher 10 Millionen jetzt gar 20 Millionen Euro für die Ruinen haben möchte, wird eine Realisierung des Projekts immer unwahrscheinlicher. Bis heute weist nur ein durchscheinendes Transparent und eine Infotafel mit einem zitierten Brief an Bill Gates als gewünschtem großzügigen Spender hin.

Nocheinmal 40 bis 50 Millionen Euro würden allein für den Aufbau der Gebäude fällig. Ob da der gute Bill zuschlägt? Respekt jedenfalls gebührt dem Ideengeber Bernhard Hanke. Sicher wird mich mein Weg noch öfter hier vorbeiführen in den nächsten Monaten. Kids Globe oder doch irgendwann Wohnanlage für Wohlhabende Städter?

Um 17 Uhr bin ich wieder daheim. Sonnensatt. Zufrieden

Und hier die 100 km Runde zur Orientierung

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