Zur Derfflinger Eiche – Sonne für die Seele

Die Sonne sorgt für die Ausschüttung von Serotonin, Dopamin und Noradrenalin. Das sind die sogenannten Glückshormone. Im Umkehrschluss fördert graues Winterwetter mit wenig Licht miese Stimmung und macht müde. Wenn „wetteronline“ also nach einer grauen Woche einen Tag mit acht Stunden Sonne vorhersagt, wäre es geradezu sträflich, drinnen zu bleiben.

Körper und Seele mit Nahrung versorgen, das wollen Wolfgang und ich an diesem Sonnenfreitag. Start halb elf praktisch vor seiner Haustür in Pankow, um dann möglichst schnell aus der Stadt hinaus in die Felder und Wälder zu kommen. Die Äste der Eiche, die vor unserem Haus steht, schwingen im aufkommenden Westwind. Die Luftströmung sollte nicht nur die letzen Wolken vom Himmel verscheuchen, sondern uns auch auf dem Weg nach Osten ordentlich Schub geben. Ich packe mich gut in meine Winterjacke ein, drunter ein Merino Trikot und an den Beinen die treffliche Winterhose von La Passione. Eine Thermosflasche habe ich mit Ingwertee gefüllt, die Apfelsaftmischung in der zweiten darf ruhig kalt werden. Mit meinem Granfondo rolle ich um 9.30 Uhr los, dann werde ich pünktlich eine Stunde später nahe beim Schloss Schönhausen, dem vereinbarten Startpunkt, ankommen. Ich bin viel zu früh dort, so mache ich noch eine kleine Extrarunde durch den Majakowskiring. Hier wohnten einst Hans Fallada und Arnold Zweig, dann nach dem Krieg Ulbricht, Honecker und Grotewohl. Das ehemalige Polit-Bonzenviertel mit seinen Gründerzeitvillen erstrahlt in frischem Glanze. Die heutigen Bewohner dürften nicht zu den Ärmsten der Stadt zählen. Nahe dran der Amalienpark mit seinen Mietervillen im Landhausstil. Über 100 Jahre stehen sie schon hier. Bei der Einfahrt entdecke ich die Skulptur eines sitzenden Paares. Friedlich und irgendwie Sanftheit ausstrahlend. Die Berliner Bildhauerin Carin Kreuzberg hat sie 1976 geschaffen. Und viele andere im gleichen Stil, die allesamt im Osten des Landes zu finden sind. Genau wie die Skulpturen ihres Lehrers Drake. Mutig, gar modern ist der Stil nicht, aber schön anzusehen allemal.

Carin Kreuzberg, Liebespaar 1976

Wolfgang führt uns nach Osten über Malchow in die Barnimer Feldflur. Auf dem Weg nach Osten wundern wir uns über in Bau befindliche Riesengaragen. Offensichtlich Winterparkplätze für die Wohnmobile der Großstädter. Trappenfelde, ein Garagenort. Die Großtrappe, den namensgebenden Riesenvogel, bekommen wir leider nicht zu Gesicht.

In Altlandsberg gibt es nicht nur einen schönen Altstadtkern mit Mauer und Türmen zu sehen, nein, die wahre Attraktion ist der Fahrradhof! Seit über 20 Jahren baut hier Peter Horstmann sein damals noch kleines Radlädchen immer weiter aus. Professionell, originell, außergewöhnlich. Einen Ausflug wert für alle, die an Rädern und am Radfahren interessiert sind.

Hunderte von alten Rädern sind an der Fassade aufgehängt und werden im Sommer grün umrankt. Im Innenhof warten Gravelbikes, E-Bikes, Bikes aller Arten und Qualitäten auf Menschen, die Lust auf eine Probefahrt haben. Ein junger, radbegeisterter Monteur erzählt uns die Geschichte des Fahrradhofs und dass „der Laden brummt“. Möge es so weiterlaufen. Engagement und Auftritt passen!

Wir reißen uns los, damit wir wieder warm werden. Der Wind zieht die Wärme aus dem Körper, wenn man sich nicht bewegt. Strausberg kennen wir recht gut, deshalb lassen wir das Städtchen heute einfach links liegen und rollen weiter über Rehfelde hin nach Garzau, wo ich Wolfgang unbedingt die Schmettau´sche Pyramide zeigen will. Vor Jahren hat Wolfgang im Frankfurter Palmengarten eine Ausstellung über das Thema Pyramiden gestaltet, er erinnert sich auch an die Feldsteinpyramide von Garzau. Aber in Natura gesehen hat er sie eben bislang noch nicht. Holen wir es also nach! Um halb zwei stehen wir in Garzau auf dem Pflasterweg, der am ehemaligen Gutshaus ( Schloss) und der Brennerei vorbei zur Pyramide führt.

 Friedrich Wilhelm Carl Graf von Schmettau ließ in den Jahren 1780 bis 1784 das Herrenhaus Garzau samt Landschaftspark und Pyramide errichten. Bis zum Jahr 1804 ließ er sich es hier gut gehen, wenn er nicht gerade irgendwo in irgendwelchen Schlachten für seinen König unterwegs war. Wenn man die Historie liest, könnte man meinen, sein Leben hätte nur in Kriegen stattgefunden. Wenn er nicht dazwischen das erstaunliche Kartenwerk für die preußischen Lande gezeichnet hätte. Wen das interessiert: hier der Link zu meinem Beitrag aus 2020.

Im Jahr 1804, zwei Jahre vor seinem Tod in der Schlacht von Auerstädt, verkaufte Schmettau Garzau samt Pyramide, um in das Schloss Köpenick umzuziehen, das zum Verkauf stand. Geldnot scheint der gute Mann jedenfalls nicht gekannt zu haben. Die Taler flossen zuverlässig. Aufgaben und Verdienste als Offizier für verschiedene Kriegsherren zahlten sich in barer Münze aus.

Auf der Mauer vor dem Eingangsportal schlürfen wir heißen Tee aus unseren Thermosflaschen und räsonieren über die alte Zeit und wie die Menschen hier gelebt haben mögen. Dann peilen wir das eigentliche Ziel des Tages an: Die Derfflinger-Eiche in Gusow. Noch 40 Kilometer im Zickzack der Radwege, immer wieder hinüber und herüber über die Ostbahntrasse. In Trebnitz leuchtet der Ziegelturm einer ehemaligen Kalkbrennerei im späten Licht.

Kalkbrennerei Trebnitz

Dann erreichen wir Neuhardenberg, werfen einen Blick hinüber zum Schlosspark und bleiben auf den Rädern. Wir wollen die alte Eiche noch im Abendlicht erblicken. Platkow, Gusow-Platkow, Gusow. Hier zweigt der Weg ab nach Werbig. Nur noch ein Kilometer bis zum Baum-Monument.

I 1646 heiratete Georg Derfflinger Margarete Tugendreich von Schapelow. So kam er in den Besitz der Rittergüter Gusow, Platkow und Wulkow. Eine wahrhaft lukrative Beziehung. Die Beziehung zur „Derfflinger Eiche“ ist eine ganz besondere: Der Sage nach pflanzte der General-Feldmarschall im Jahre 1650 genau auf der Grenze zum Nachbarort Werbig eine junge Eiche.

 „Als Derfflinger sie an der Grenze zwischen den beiden Dörfern Gusow und Werbig gepflanzt hatte, soll er 13 Jungen aus der Gusower Schule an den Baum geführt und ihnen 13 Schläge verabreicht haben, mit der Bemerkung: ‘Nun werdet ihr behalten, wo die Grenze steht. Verrückt sie nie wieder! Unter der Eiche hat der Alte oft gesessen. Wer um Mitternacht an ihr vorüberfährt, dem bleiben die Pferde wie festgebannt stehen. Sie zittern und tun keinen Schritt vorwärts, soviel man sie auch schlagen mag. Um ein Uhr ist der Bann zu Ende. Der Alte will nicht dulden, dass man um Mitternacht über die Grenze fahre.

Würde man diese Geschichte in unserer Zeit berichten, würde der alte Derfflinger ziemlich sicher eine Anklage wegen Misshandlung Jugendlicher und Missbrauch zu erwarten haben. Nicht so im Jahre 1650.

Wir legen die Hand auf die fast 400 Jahre alte Baumrinde und fragen, was damals wirklich geschah. Sie hat es uns erzählt, die wunderbare Eiche. Aber nur unter der Bedingung, dass wir die Kunde nicht weitertragen. So bleibt das Derfflinger-Geheimnis auch unser Geheimnis. Als wir die Eiche verlassen, leuchten die Wolken am Abendhimmel in malerischem Rot, wie in einem Film.

Am Bahnhof in Seelow-Gusow zeigt die alte Uhr 17.22, 63 Kilometer bis Berlin, Abfahrt nach Lichtenberg 17.36

Das war ein Tag mit viel Nahrung für Körper und Seele, so wir es uns am Morgen erhofft hatten.

Berlin – Anblicke und Einblicke

Der Januar ist grau und bleibt grau. Der Körper lechzt nach Sonne und Vitamin D. Die Nachbarn sind schon nach Mallorca geflüchtet. Was bleibt in dieser trüben Zeit: Viel bewegen! Laufen, Radfahren, Körper und Geist fordern und anregen. Ich weiß, bei einer Radrunde, und sei sie noch so klein, hellt sich meine Stimmungslage auf. Eine Art Mentalmedizin scheint Bewegung an der frischen Luft zu sein. Also setze ich mich wieder auf eines meiner Zweiräder. Heute ist das Cannondale Taurine dran.

Der Wirkstoff Taurin(e) stärkt die Aufmerksamkeit und schützt die Nervenzellen vor „freien Radikalen“. Sind hier auch Rechtsradikale gemeint? Dann scheint der Wirkstoff sehr nützlich zu sein. Aber Vorsicht, ich will schließlich kein Taurin schlucken, sondern mich nur auf ein Rad namens Taurine setzen und damit fahren. Vielleicht ist die Wirkung ähnlich, vielleicht haben die Designer von Cannondale irgendwo im Carbonrahmen eine Art Wirkstoffdepot eingebaut.

Cannondale Taurine in der Version von randonneurdidier

So sieht jedenfalls mein stimmungsaufhellendes Doping-Gerät aus. Heute werde ich mich nochmals hineinarbeiten in die Bezirke der großen Stadt, um Neues zu entdecken und Altes wieder zu erwecken.

Die Crossreifen warten auf Bewegung auf Gravel und Sand und Lehm. Die sollen sie heute auf dem Weg durch das Naturschutzgebiet Eichwerderwiesen bekommen.

Der Barnimer-Dörfer-Weg schlängelt sich durch das Tegeler Fließ hin nach Hermsdorf und Tegel. Ich erblicke Schwäne, Stockenten und Mandarin-Enten mit einem Gefieder, das wie aufgemalt erscheint. Wer bei solchen Aussichten keine gute Laune bekommt, der möge zu Hause bleiben. In Tegel tauche ich ein in das städtische Getriebe. Aber es gibt erfreulicherweise auch hier wenig befahrene Nebenstraßen und radtaugliche Pfade.

Zwischen Stadtautobahn und umgebenden Industriebetrieben liegt versteckt der einzige Russisch Orthodoxe Friedhof Berlins. Mit einer Kapelle aus dem Jahre 1894, die ein wenig so aussieht wie eine Kleinversion der Basiliuskathedrale am Moskauer Roten Platz. 4000 Tonnen russische Erde wurde anlässlich der Friedhofsgestaltung herantransportiert. So habe ich an diesem Tag in Tegel russischen Boden betreten. Eigenartiges Gefühl. Die Zwiebeltürme mit den Andreaskreuzen recken sich als blaue Farbkleckse in den nebelgrauen Himmel. Ich bin neugierig und steige die Treppe zur geöffneten Kirchentür hoch. Innen ist es wohlig warm, das Licht von vielen Kerzen tauchen den mit Ikonen und Verzierungen reichlich ausgestatteten kleinen Raum in goldenes Licht. Vor mir steht ein aufgebahrter Sarg . Ich atme tief durch und ziehe mich ehrfurchtsvoll zurück.

Ein wahres Kleinod ist hier in Tegel versteckt. Eine kleine Spazierrunde über den Friedhof gibt einen Einblick auf die russisch-orthodoxe Tradition in Berlin.

Hinter dem verlassen traurig daliegenden Ex-Flughafen rolle ich auf der Trasse des Radweges Berlin – Kopenhagen in Richtung Stadtmitte. Die Gebäude von Westhafen und des Kraftwerk sind regelrecht eingenebelt und erscheinen in einer Schwarz-Weiß-Version.

Als ich am Gelände des ehemaligen Lehrter Bahnhofs ankomme, staune ich über die in den letzten Jahren entstandenen neuen Wohnbauten. Auf dem Weg ins Büro war ich 15 Jahre lang über die Heidestraße an trist daliegenden alten Gleisen und Lagerschuppen entlang gefahren. Heute steht hier reichlich Beton. Mehr oder weniger schön anzuschauen. Ganz sicher aber teuer ist es, hier zu wohnen, in der „Europacity“

Ich frage mich, warum man ausgerechnet in der Stadt des Mauerbaus in einem modern gestalteten Wohngebiet wieder braune Betonmauern errichtet? Beton gibt es doch ohnehin reichlich. Keine Bäume, keine Pflanzen, nur Beton, Eisen und Glas. Da trösten mich auch die von der Baugesellschaft in Auftrag gegebenen Wandgemälde wenig.

Über eine neu gebaute Fußgängerbrücke wechsele ich auf die nördliche Seite vom Spandauer Schiffahrtskanal, der so lange die Ost-West-Grenze markierte, und fahre über den Invalidenfriedhof, dann am Hauptbahnhof und den alte Charité-Gebäuden vorbei. Der Komplex von Kanzleramt und Elisabeth-Lüders-Haus wird nach Osten verlängert. Die Abgeordneten brauchen mehr Platz, und es sind mehr geworden nach dieser Wahl.

Vor dem gläsernen Futurium parkt der InnoTruck.

Das Brandenburger Tor steht heute einsam da. Wenige Menschen sind auf Entdeckungsgang. Nur die Fahrradboten und ein paar schwarze Regierungslimousinen kurven über das feuchte Pflaster vom Pariser Platz.

Ich visiere das neue Humboldt-Forum an. Fast ohne Baustellen, Kräne und Bauzäune präsentiert sich der Boulevard Unter den Linden. Das tröstet mich über Kälte und Nebel hinweg. Endlich freie Sicht auf die neuen und alten Gebäude. Ein markierter Radstreifen macht endlich eine sichere Fahrt möglich.

Die wichtigsten historischen Gebäude Berlins sind hier in Mitte versammelt. Man muss nur lange genug warten, bis in dieser Stadt das Neue endlich fertig ist und Altes, wie der Palast der Republik, abgerissen ist, und das neue Schloss samt Humboldtforum auch Schinkel, Thaer und Beuth friedlich blicken lässt. Ich sauge die neuen Eindrücke auf und fahre einige Schleifen über die Plätze, bevor ich wieder auf die Seite der Alten Staatsgalerie und zur Museumsinsel wechsle. Es hat zwar einen besonderen Charme, die Touristenattraktionen ohne Touristen zu erleben – gefüllt mit gut gelaunten Menschen aus aller Welt gefällt mir die Stadt aber doch am besten. Restaurants, Cafés, Dönerbuden, Currywurststände – alles verwaist. In Warteposition für bessere Zeiten.

„Drei Mädchen und ein Knabe“ von Wilfried Fitzenreiter

Der Berliner Bildhauer Wilfried Fitzenreiter hatte ein Faible für Menschen-Skulpturen und -Büsten. Knaben, Mädchen, Liebespaare, Spielende sind im Osten des Landes einige zu sehen. In Wandlitz, Chemnitz, Rostock, Eisenhüttenstadt…

Plastiken, wie sie typisch waren für die in der DDR geförderte Kunst. Schön anzusehen.

Als Kontrast dazu fotografiere ich den Hektor von Markus Lüpertz auf der Monbijoubrücke vor dem Bode-Museum. Eine Brutalplastik, die mich mit ihrer Kraft und Grobheit immer wieder beeindruckt. Nicht schön, aber stark.

Hektor von Markus Lüpertz

Neben der Brücke steht das traurig aussehende Kassenhäuschen des Monbijou-Theaters, das immer erst zum Sommer hin dort aufgebaut wird.“Das Monbijou Theater ist ein Open-Air-Theater im gleichnamigen Monbijoupark in Berlin-Mitte. Das hölzerne Amphitheater wird jeden Sommer auf dem Dach eines ehemaligen Weltkriegsbunkers errichtet und bildet die Kulisse für sommerliches Theaterspektaktel.“ Auf dem darunter an der Spree gelegenen Platz konnte man das Tanzen lernen und in der Bar Cocktails schlürfen. Und, oh Wunder, auf dem nassen Platz tanzt sich ein Paar nach der Musik „Every breath you take“ von Sting warm. Berührend schön und tröstlich.

einfach nur schön

Für meinen Heimweg habe ich die Panke als Wegweiser auserkoren. Das kleine Flüsschen, eigentlich ein Bach, der sich über 29 Kilometer vom alten Bernau ins junge Berlin hineinschlängelt. Der Bach, der dem Ortsteil Pankow seinen Namen gegeben hat. Ein Bach, der über viele Jahre abgedeckt war, in den die Fäkalien geleitet wurden und der entsprechend stank: „Stinke-Panke“.

Hier ein paar Sätze von meinem regionalen Lieblingsdichter Fontane dazu – im Gedicht „Afrikareisender“ zu lesen.

Meine Herren, was soll dieser ganze Zwist,
Ob der Kongo gesund oder ungesund ist?
Ich habe drei Jahre, von Krankheit verschont,
Am grünen und schwarzen Graben gewohnt,
Ich habe das Prachtstück unsrer Gossen,
Die Panke, dicht an der Mündung genossen
Und wohne nun schon im fünften Quartal
Noch immer lebendig am Kanal.
Hier oder da, nah oder fern
Macht keinen Unterschied, meine Herrn,
Und ob Sie’s lassen oder tun,
Ich gehe morgen nach Kamerun.

Sei für Rothschild statt für Ranke,
Nimm den Main und laß die Panke,
Nimm den Butt und laß die Flunder,
Geld ist Glück, und Kunst ist Plunder

Heute fließt die Panke wieder im Wesentlichen frei und ohne Betonabdeckung. Fäkalien wurden schon in der Zeit von James Hobrecht auf den nördlich gelegenen Rieselfeldern ausgebracht. Wer nun meint, es flösse hier trinkbares Wasser, der schaue nur auf Plastikmüll, Kippen und anderen Unrat, der hier auch zu finden ist.

An dieser Panke entlang arbeite ich mich wieder nach Norden, nach Pankow, Hermsdorf und dann wieder nach Glienicke-Nordbahn. Erstaunlich, in wie viele alte Ziegelbauten, die noch vor zehn Jahren kurz vorm endgültigen Verfall standen, jetzt Ateliers, Theater, Läden eingezogen sind. Von außen bunt und schräg, drinnen ausgerüstet mit schnellem Internet und funktionierenden Heizungen. Zu besichtigen in der Ecke zwischen Kolberger- und Gerichtsstraße.

Zum Ende meiner heutigen Runde rolle ich durch die Uferstraße, nahe dem Bahnhof Gesundbrunnen, wo im Pianosalon von Christoph Schreiber in einer ehemaligen Motorenbauhalle Konzerte von höchster Klasse zu erleben sind. Allein darüber könnte ich jetzt einen langen, begeisterten Beitrag schreiben. Heute treffe ich ihn vor der Halle, als er gemeinsam mit seinem Sohn Weinkartons, Toilettenpapier, und Sprudelkisten aus seinem dazu recht wenig geeigneten Porsche Carrera auslädt. Er ist guten Mutes und bereitet die nächsten Konzerte vor.

Kaum zu glauben, aber wunderbare Realität: In dieser alten Motorhalle spielen Weltklasse-Solisten Konzerte alter und neuer Meister auf meisterhaft restaurierten Konzertflügeln.

Zum guten Schluss noch ein architektonisches Schmankerl, zu finden in der Klemkestraße im Wedding. Die Siedlung Paddenpuhl aus den 20er und 30er Jahren.

Siedlung Paddenpuhl in Reinickendorf

Nur knapp über 50 Kilometer bin ich heute gefahren. Mit gefühlten 100 Fotostopps. Mit der Ausbeute bin ich zufrieden, und gute Laune habe ich auch bekommen.

Dit is Berlin – Kunst an jeder Ecke

Schon vor einem Jahr lagen zwei schöne Bücher von Norbert und Melanie Martins auf meinem Gabentisch. Nur kurz habe ich reingeschaut, war beeindruckt, und trotzdem landeten die beiden Bände „Street Art Galerie“ und „Hauswände statt Leinwände“ in der unteren Reihe des wohl gefüllten Bücherregals. Einfach vergessen hatte ich sie. Bis mich meine bessere Hälfte an diesen Weihnachtstagen sanft, aber deutlich an die Preziosen erinnerte. Kurzum: Ich habe die herrlichen Fotos samt Beschreibungen unverzüglich aus ihrem Schlummer geweckt, und genauso unverzüglich weckten die Bilder bei mir den Wunsch, die Druckversionen in der Berliner Realität zu entdecken. Heute war es so weit, ein halbwegs trockener Tag mit etwas Sonnenschein ist vorhergesagt. Mein Basso bekommt eine frische Kettenschmierung und Öl auf Schaltgelenke und -röllchen.

Um 10 Uhr sitze ich gut gelaunt auf dem alten Stahlgerät und rolle Richtung Charlottenburg, wo laut Bildbeschreibung in der Sömmeringstraße ein ganzes Hotel bemalt sein soll. Vorsorglich habe ich einen Wegpunkt für das Garmin gesetzt, um zumindest das erste Wandgemälde ohne langes Suchen zu finden. Es funktioniert:

Künstlergruppe GRACO, Jahr 2000

Als das Econtel Hotel die Arbeit im Jahre 1999 in Auftrag gab, sollten Touristen dargestellt werden, die das Brandenburger Tor fotografieren und dann am besten im Superior *** für 60 € übernachten. Dann mit dem roten Motorroller von emmy ab in die Stadt. „Urban mobility.“

Ein paar Meter weiter, in der Quedlinburger Straße, wird derzeit das alte Tanklager abgerissen. Die Baustelle bietet Perspektiven, die einem großen Wandgemälde nicht nachstehen. Und das Ganze kommt dreidimensional daher. Auf dem 28000 qm großen Gelände sollen in den nächsten zwei Jahren 1100 Wohnungen entstehen. Berlin wächst!

Ich komme ins Gespräch mit den beiden Enkeln des Abbruchunternehmers aus Ratzeburg, der hier alles abräumt und die Vorbereitungen für eine Wohnbebauung erledigt. Er hat die beiden Jungen mitgenommen nach Berlin, und die finden es sehr spannend hier. Sogar einen Fuchs, der in einer Abbruchhalle nächtigt, haben sie entdeckt. Abenteuer Großstadt!

Der Uferweg an der Spree ist gut befahrbar, nur wenige, dafür freundliche Spaziergänger sind unterwegs. Gegenüber leuchtet in Weiß das imposante Gebäude von TU und Fraunhofer-Gesellschaft. Hier wird gedacht, hier wird erfunden für die Zukunft.

Ich fahre am Südrand des Tiergartens durch den Park und staune über eine große Filmcrew, die dabei ist, Scheinwerfer und Kameras in Position zu bringen. Am heute irgendwie trist wirkenden Glaspalast der CDU biege ich nach Süden ab, um kurz danach am Nollendorfplatz das zweite Wandgemälde des Tages zu erspähen.

In den 70er Jahren soll die Vorführung pornografischer Filme die Spezialität des Metropol-Theaters gewesen sein. Schauspielhaus, Bühne, Tanzclub. Alle Aktivitäten in diesem Haus waren mal erfolgreich, mal stürzten sie nach wenigen Monaten in die Insolvenz. Das Haus mit Baujahr 1905 hat sicher so manche interessante Geschichte zu erzählen. Um den Nollendorfplatz herum wohnten berühmte Persönlichkeiten: Max Beckmann, Wilhelm Furtwängler, Frank Wedekind. Und Altkanzler Helmut Schmidt soll seiner Loki gar im Jahre 1942 auf einer Bank am Nollendorfplatz einen Heiratsantrag gemacht haben. Ein Platz mit Geschichte und Geschichten also.

Der Häftling mit dem rosa Winkel. Es ist ein ganz besonderes, eindringliches großformatiges Wandbild, das einem an einer Wand in der Bülowstraße begegnet. Mit ernstem Blick schaut einen Walter Degen an, der in der Nazizeit im Alter von 32 Jahren wegen seiner Homosexualität und als deutscher politischer Gefangener deportiert und am 29. August 1941 im Konzentrationslager Auschwitz registriert wurde. Im Mai 1942 wurde Degen in das Konzentrationslager Mauthausen überführt. Es ist nicht bekannt, ob er überlebt hat. Homosexuelle wurden im KZ mit dem rosa Winkel gekennzeichnet.

Auf meiner Streetart-Erkundungsrunde fahre ich so manche Schleife und sehe dann im Westen über den Häusergiebeln das Gerippe des alten Gasometers. Es zieht mich einfach an, jetzt muss ich dorthin, weil ich dort noch nie war. Die restlichen 700 plus x Wandgemälde können erst einmal warten. Ich nehme also Direktkurs auf den Gasometer, am Bahnhof Südkreuz vorbei, dann auf dem Alfred-Lion-Steg über die Gleise nach Schöneberg. Am Aufstieg zur Brücke fängt ein großes Backsteingebäude meinen Blick:

Wo heute eine der Abteilungen des Robert-Koch-Instituts residiert, befand sich 1933 ein berüchtigtes SA-Gefängnis, in dem mehr als 2000 Menschen inhaftiert und zum Teil brutal gefoltert wurden. Eine Ausstellung im Gebäude zeugt von den vergangenen Gräueltaten.

Erst der Blick über die Gleise, dann der Gasometer über dem Haus in Rosa. Noch einen Bogen um die nächste Hausecke, dann wächst vor mir der riesige Komplex des EUREF-Campus in die Höhe, daneben der Gasometer in Vollformat. Noch schöner und für Berliner Verhältnisse eine echte Überraschung: ein zweispuriger Radweg, geradezu eine Autobahn, daneben eine breite Spur für Fußgänger. Chapeau! Dass ich das noch erleben darf in dieser Stadt!

Eine breite Einfahrt mit Schranke führt in den EUREF-Innenbereich. Freundlich, Daumen hoch, wird für mich geöffnet. Die Architektur der neuen Bauten beeindruckt mich, nicht nur der riesige Gasometer. Allerdings wird der gerade saniert und umgestaltet in einen „Büroturm“. Die Büros werden sich aber in der alt aussehenden Schale verstecken.

Die Fotos lasse ich einfach mal für sich sprechen. Nur so viel: Der Komplex atmet Innovation! Schön zu erleben in Berlin. EUREF

Nur 100 Meter weiter tauche ich in die andere Realität der Stadt ein, mit rostigen Eisenbahnbrücken, mit Obdachlosenmatratzen an den Mauerseiten.

 „Adanzé“ nennt Christian Awe sein Werk, ein Wort in westafrikanischen Sprachen, das „Herzliches Willkommen“ bedeutet. Kennengelernt habe er die Grußformel in Burkina Faso, erzählt der 37-jährige Schüler von Georg Baselitz.

„Das sieht doch richtig schön aus!“, ruft mir eine vorbeigehende Frau zu, als ich mit der Kamera in der Hand vor der Wand stehe. Recht hat sie!

Langsam wird es dämmrig an diesem grauen Januartag, und ich rolle wieder heimwärts auf dem Radweg Berlin–Kopenhagen, der am Kanal entlangführt, am Rand des verlassenen Flughafens Tegel vorbei, vorbei an Mauerfragmenten, an denen sich seit vielen Jahren Graffiti-Sprayer austoben. „Free Julian Assange“ lese ich beim Durchblick zum Kanal hin. Und wahre Berge aus Spraydosen und Müll liegen fast wie zur Deko hier herum.

Kunst und Ordnungsliebe vertragen sich, zumindest hier, ganz und gar nicht.

Neue Aspekte, neue Eindrücke sammle ich heute : Erstaunliches, Hässliches, Zukunftweisendes, Modernes, Dreckiges, Abstoßendes, Anregendes.

All das ist Berlin.

Nebel, Niesel, Weite – ins Oderbruch zum Jahresende

Wolfgang will unbedingt Kilometer machen für Rapha 500. Im Gegensatz zu ihm bin ich an diesem Jahresende wenig motiviert zum Fahren bei Regen, Kälte und Schnee. Aber gemeinsam mit ihm, Matthias und Peter war das auch immer freudvoll, egal wie das Wetter auch war. So verabreden wir uns für eine Tour ins Oderbruch. Bedeckt soll es sein, trocken soll es bleiben, und die Temperaturen immer über Null. Treffen um 11 Uhr an der Bank bei Hobrechtsfelde. Das bedeutet für mich, losrollen von zu Hause um 10.15 Uhr. Zeit für ein genüssliches Frühstück und Zeit genug zum Luftdruck prüfen, Trinkflasche füllen, diesmal mit Ingwertee und Honig in der Thermosflasche. Etwas Öl auf die Kette, Fett auf die Klick-Pedale. Dann das Garmin Vista Touch mit frischen Akkus bestücken. Zur Sicherheit noch meine Lezyne 300 Rückleuchte an der Satteltasche festmachen. Nach hinten kann man gar nicht auffallend genug sein bei Sauwetter im Winter. Und dann noch zwei Eiweißriegel von Seitenbacher einpacken. In der gastronomischen Diaspora von Barnim und Oderbruch immer zu empfehlen.

Das Langarmtrikot von Rapha und drüber die Winterjacke von Gore werden mich warm halten. Dazu eine lange Winter Bib. Heute mit meiner Neuerwerbung von La Passione. Sitzt perfekt und ist auch noch schön warm und schützt vor Wind und Nässe. Mavic Winterschuhe, auch wasserdicht. Und dann noch zur Sicherheit die Shakedry-Jacke ins Gepäck. Dann kann kommen, was wolle. Pünktlich viertel nach zehn starte ich.

Mein Basso-Crosser aus dem Jahre 1996 hat Übung mit winterlichen Bedingungen, ist ausgerüstet mit Schutzblechen, SON-Nabendynamo und unkaputtbaren Leuchten von Supernova. 32er Conti 4seasons rollen leicht und vertragen den Splitt auf den Wegen klaglos. Drei Grad plus sagt wetteronline voraus. Das trifft zwar zu, der Frost der letzten Tage sitzt aber noch im Boden und sorgt immer noch für Eisflächen. Vorsicht ist also angesagt.

Eine weitere Besonderheit der Wetterlage ist der wabernde Nebel über den Restschneeflächen. Es will gar nicht so richtig hell werden. Ein Grund mehr, an schöne Dinge, schönes Wetter zu denken und die Natur, so wie sie ist, zu genießen. Als ich auf dem Weg nach Hobrechtsfelde den Gorinsee passiere, blicke ich auf eine Eisfläche.

Gorinsee

Auf der Liegewiese liegt niemand, und Hunde wollen auch nicht baden. Die Wildpferde und Hirsche haben sich in die Schönower Heide zurückgezogen und liegen wahrscheinlich im Kiefernwald.

Schönower Heide

Auf dem Radweg mahnt das Resteis zum sensiblen Fahren. Wolfgang kommt von Süden heran, von Buch aus nach Hobrechtsfelde. Nach Osten rollen wir gen Bernau und dann hinein in den Barnim. Die Drehorte des Films „Unterleuten“ liegen verschlafen im nassen Nebel. Für den Bau der dringend notwendigen Stromtrassen liegen schon die Holzbohlen für die LKW auf den Feldern und glänzen nassbraun im fahlen Licht. Der Nebel ist auch nichts anderes als eine auf dem Boden liegende Wolke. Und wenn die Sonne sich zurückzieht und die Bodenkälte wirksam wird, fällt auch noch Nieselregen aus dieser Mischsuppe.

Trassenbau

Wolfgang schleudert mit seinem ungeschützten Hinterrad die dreckigen Tropfen massenweise auf seine neue Shakedry von Gore. Ein echter Härtetest für die feine Regenjacke. Mein Rücken bleibt dank der angeschraubten langen Schutzbleche trocken. Nur meine Schuhe werden zunehmend eingesaut. Macht aber nichts, die Füße bleiben trocken, und das ist die Hauptsache. Beim Reden über unsere Räder, unsere Touren, über die Dinge, die wir in der Natur sehen, machen wir Kilometer und erleben die Barnimwellen als zähe Tempobremser. Warum geht das alles im Sommer so leicht und warum so langsam jetzt im Winter?

In Freudenberg ist die Dorfdurchfahrt auf dem glänzend-glatten Pflaster alles andere als lustig. Wolfgang nimmt es trotzdem mit Humor. Der markante Kirchturm der neogotischen Kirche stochert mit seiner spitzen Spitze im Nebel herum. Wir testen unser Balancevermögen in der vereisten Rinne am Fahrbahnrand.

Wolfgang mit Freude in Freudenberg

Die Gemeinde, deren Gebiet wir queren, trägt den Namen Höhenland. Im Vergleich mit dem Oderbruch liegen die Orte Wollenberg, Leuenberg und Steinbeck tatsächlich auf den Höhen, mit Schwindel erregenden 120 Metern über N.N. Mit der Aussicht auf eine lange wellige Walddurchfahrt nehmen Wolfgang und ich erst einmal vorsorglich einen Schluck aus der Thermosflasche. Der Ingwertee mit Honig schmeichelt meinem Gaumen.

Tee in Steinbeck

Aus dem Barnim arbeiten wir uns hinein in die Wälder der Oderbruchkante. 20 Zentimeter Schnee liegen am Fahrbahnrand. Das sanfte, aber fordernde Auf und Ab sorgt gemeinsam mit dem eingeflößten Tee für eine angenehme Körpertemperatur. Wohlbefinden stellt sich ein trotz Nebelnässe. Bei Schulzendorf schwingen wir uns hinab nach Vevais, dem kleinen Kolonistendörfchen, dessen Name wahrscheinlich von den Siedlern aus Vevey am Genfer See herrührt. Im Jahre 1752 zogen auf Anwerbung vom Alten Fritz 14 Familien hierher, um bei der Urbarmachung des trocken gelegten Oderbruchs ihren Beitrag zu leisten. Das tönerne kleine Denkmal mit Siedlern und Wagen ist eingehaust in Wellblech, um es vor Frost und Wetterunbill zu schützen. Wir genießen die guten, aber immer noch nassen Straßen, die hin zur Oder führen.

Traubeneiche

Eine Traubeneiche, zu Recht auch „Wintereiche“ genannt, beeindruckt uns mit ihrer üppigen, braunen Winterbelaubung. Langsam kommen wir der Oder näher, aber eben nicht ganz an sie heran. Heute bleiben wir auf Abstand zum Deich. Wahrscheinlich ist der Weg dort auch noch vereist, mahnt Wolfgang. Am Ortseingang von Letschin kehren wir im Netto Markt ein und gönnen uns Milchkaffee und Kuchen. Sicher ist sicher. Wer weiß, wo wir sonst noch eine Möglichkeit haben, uns zu stärken. In diesem Ort führte Fontanes Vater einige Jahre lang eine Apotheke , bis seine Spielsucht in der Pleite und dem fluchtartigen Verlassen der Gegend endete. Wir rollen durch den beschaulichen Ort und sichten am südlichen Ende das Denkmal für den Alten Fritz und gegenüber den gleichnamigen Gasthof.

Im Gasthof und der Umgebung spielt Fontanes Kriminal-Novelle „Unterm Birnbaum“, die er aber erst 40 Jahre nach seiner Letschiner Zeit bei einem Rügen-Aufenthalt verfasst hat. So kann man zumindest hinterfragen, ob das finstere Romangeschehen wirklich hier den gedanklichen Ursprung hat. Wir richten unseren Blick auf das Denkmal aus dem Jahr 1905 zu Ehren des Alten Fritz, der vor über 260 Jahren das Oderbruch trockenlegen ließ.
Seitdem ist das 515 Kilogramm schwere Denkmal schon mehrfach umgezogen, so dass die Letschiner bereits scherzhaft von ihrem „Stehaufmännchen“ sprechen. 2008 erst hat der Alte Fritz seinen Bestimmungsort vor dem gleichnamigen Gasthof gefunden. Über Zechin und Golzow führt uns der Weg nach Gorgast, wo wir am Bahnhof von einem freundlichen Einwohner erfahren, dass der nächste Zug nach Berlin hier nicht hält. Aber die Strecke an der B1 entlang nach Küstrin-Kietz, einem der ungastlichsten Bahnhöfe, die ich kenne, ist nur vier Kilometer weit. Um 16.30 Uhr erklimmen wir die Brücke hin zu den Bahnsteigen.

Mit den in Paris-Roubaix-Manier eingeschlämmten Rädern besteigen wir den Regio nach Berlin, wärmen uns auf und lassen die Nebeltour Revue passieren. Schön war es trotzdem nach dem Motto: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.