Über Gibraltar nach Kettwig

Teil 2 von Ruhr, Lenne, Rahmede, Volme .

Warum ich über Gibraltar fahre? Das Rätsel löse ich später.

Die ersten Kilometer von Lüdenscheid nach Brügge kann ich einfach locker rollen lassen, immer bergab. Einzig der Schwerlastverkehr und der fehlende Radstreifen ärgern mich ein wenig. Ein Radweg existiert an der Volme trotz langjähriger Planung und vieler Versprechen immer noch nicht. Ich lese über Planfeststellungsverfahren etc. Und vor allem soll geprüft werden, ob die B 54 nicht jetzt schon für den Radverkehr geeignet sei. Uff! So ist das in unserem Lande mit der Realisierungsgeschwindigkeit. Zumindest komme ich schnell voran auf der glatt geteerten Bundesstraße. Schon bin ich in Schalksmühle, wo ich ursprünglich meine Cousine besuchen wollte, aber einfach keinen Kontakt bekam. Schade drum. So rolle ich weiter durch das dritte Industrietal mit reichlich noch nicht umgenutzten Bauten aus den letzten 100 Jahren. Bei Dahlerbrück entdecke ich einen EDEKA-Markt mit meinem Namen.

Ich brauche nichts, ich habe noch keinen Hunger, weiter geht’s nach Hagen.

In Hagen und durch Hagen fährt es sich recht entspannt. In der Innenstadt ist die Beschilderung zur Ruhr hin gut. Hagen hat sich besser entwickelt als ich vermutet hatte.

Bunkermuseum

Am Bunkermuseum halte ich kurz an, Erinnerungen an die Erzählungen meiner Eltern werden wach. Hagens Innenstadt war am Ende des 2. WK zu annähernd 100% zerstört. Trümmerfrauen gab es nicht nur in Berlin. Als Region mit vielen Rüstungsbetrieben war Hagen bevorzugtes Ziel der Bombenangriffe.

In Herdecke erreiche ich die Ruhrauen. Schön saftig grün, endlich keine Autos mehr, wie in einer anderen Welt.

Stausee um Stausee ist in die Ruhr eingebaut. Hengsteysee, Harkortsee, dann der Kemnader See. Er ist der jüngste der sechs Ruhrtalseen. Als ich noch an der Ruhruni studierte, konnte ich hier noch trockenen Fußes durch die Auen laufen. Seit 1979 ist die Gegend ein Eldorado für Wassersportler und alle Menschen, die eine kleine Auszeit suchen. Ich gönne mir eine Riesenportion Pommes und einen Milchkaffee. Die Menschen flanieren und lassen es sich gut gehen. Die Gänse fühlen sich auch sichtlich wohl. Nun zur Auflösung des Gibraltar-Rätsels: Am heutigen Westrand des Sees wurde auf der Zeche Gibraltar von 1830 bis 1925 Steinkohle und Erz gefördert. „Die Zeche Gibraltar Erbstollen ging 1786 in Betrieb, wurde aber kurz darauf wieder stillgelegt. Benannt wurde die Zeche nach der Festung Gibraltar (Belagerung von 1779 bis 1783)“ . Hier weitere Info zur Historie

Ehemaliges „Mundloch“ der Zeche – Foto von Oliver Pelczer

Heute ist das Zechengebäude restauriert und wird vom Ruderverein der Ruhruni als Boots haus genutzt.

Auf dem Ruhrtalweg lässt es sich herrlich rollen, Landschaft und Industriekultur genießen. Ich habe es nicht eilig und sauge die Eindrücke gierig auf.

Ich folge den Mäandern der Ruhr, erblicke auf der Nordseite des Flusses die Villa Hügel. Der Prunkbau in Essen war von 1873 bis 1945 das Wohnhaus der Unternehmerfamilie Krupp. Mit ihren 269 Räumen inmitten eines 28 Hektar großen Parks über dem Baldeneysee gelegen, ist sie weit mehr als der Wohnsitz einer bekannten Unternehmerfamilie – sie ist ein Symbol des Zeitalters der Industrialisierung Deutschlands. Noch ein paar entspannte Kilometer und ich erreiche die Altstadt von Kettwig, erst seit 1975 Stadtteil von Essen. Ich lese, dass die Bürger sich seinerzeit heftig gegen die Eingemeindung gewehrt haben. Bis zum heutigen tage fremdeln die Ur-Kettwiger mit der Großstadt Essen. Auch für mein Empfinden hat die kleine, wunderbar restaurierte Stadt so gar nichts mit den anderen Stadtteilen Essens gemein.

Zum Hotel, zwei Kilometer entfernt an der Schmachtenberger Straße, darf ich endlich ein paar Höhenmeter drücken. Schwitzen, duschen und dann zu Fuß hinunter in die Altstadt. Fachwerkhäuser, schmale Gassen, sauber, gepflegt… dann stehe ich vor dem Weincafé Cuvée, wo ich einen hauchdünnen Flammekuchen esse. Köstlich! Dazu einen kühlen Rosé. Das Café residiert im wahrscheinlich ältesten Steinhaus Kettwigs, das ursprünglich mal eine Schmiede war. Restauriert und bewirtschaftet von einer Wissenschaftlerin im „Nebenberuf“. Die promovierte Chemikerin Özgül Agbaba steht an vier Tagen in der Woche hinter der Theke und wirkt so, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätte. Hauptberuflich ist sie im Max Planck Institut für Kohleforschung tätig. Eine wahrhaft seltene Verbindung.

Ich schlummere gut in Kettwig. Am nächsten morgen genieße ich die kurze Abfahrt hinunter an die Ruhr und schwinge mich durch die Auen nach Mülheim.

Von hier soll mich mein 49-Euro-Ticket wieder nach Berlin zurückbringen. In 7 h 24 min und mit 5 Umstiegen. Wäre doch gelacht! Doch auch heute kommt es wieder anders als geplant. Verspätungen, verpasste Anschlusszüge, Umwege … Am Nachmittag strande ich in Bremen, weil ich versuche, auf einem Nordbogen näher an die Hauptstadt zu kommen. Dann entscheide ich mich, statt umzusteigen, die alte Hansestadt endlich näher in Augenschein zu nehmen. Es lohnt sich. Roland, Dom, Rathaus, Schnoorviertel, Milchkaffee, Apfelkuchen … Ich vergesse die Misslichkeiten der Bahnfahrt und entscheide mich, noch einen Tag an meine Tour dranzuhängen. Letztes Ziel des Tages: Verden an der Aller. Dieses mal anstelle Ruhrauen Weserauen. Und eine Übernachtung mehr. Am Samstag dann nach einer Kurzetappe nach Rotenburg/ Wümme im Regen endlich über Hamburg Harburg ohne Zugausfälle heim.

Streckenbilanz: 1100 Kilometer Bahnfahrt – knapp 400 Kilometer per Rad. Demnächst besser wieder umgekehrt in der Gewichtung. .

Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen. “ Matthias Claudius (1740-1815)

Ruhr, Lenne, Rahmede, Volme – Flüsse meiner Jugendzeit

Teil 1

Wenn man alt wird, wird es Zeit, die Stätten der Jugend wieder aufzusuchen, zu schauen, wie es jetzt dort aussieht, wie sich Menschen und Kultur und Natur entwickelt haben. Mit dem wunderbaren 49 € Ticket ausgestattet, sollte es doch ein Leichtes sein, in die alten Heimatgefilde zu reisen. Gedacht, geplant, getan. Vier bis fünf Tage will ich unterwegs sein und dem Granfondo zeigen, wo ich geboren und aufgewachsen bin.

Abfahrt pünktlich vom Bahnhof Spandau.

Das Granfondo-Titan wiegt samt Minimalgepäck 16 kg

Erster Umstieg pünktlich in Rathenow. Dort treffe ich völlig unerwartet und überraschend einen alten Daimler – Kollegen. Michael begrüßt mich nach 20 Jahren so, als hätten wir uns noch am Vortage im Büro gesehen. Was sind schon 20 Jahre. Michael ist auf dem Weg nach Wolfsburg zu seinem Arbeitgeber Volkswagen – Training. Nach Stationen bei Fiat und Chrysler ist er bei seiner voraussichtlichen letzten beruflichen Station vor dem Ruhestand angekommen. Wir unterhalten uns angeregt. Die Zeit fliegt. Schon sind wir in Stendal. Wir warten auf den RE nach Wolfsburg und Hannover. „Zug fällt aus“, so schallt es nach einer halben Stunde ohne weiteren Kommentar aus den Bahnsteiglautsprechern. Mütter mit Kinderwagen, Reisende mit dick gepackten Koffern, und auch wir beide stehen mit einem Fragezeichen auf der Stirn am Gleis. Schließlich steigen wir in den Zug nach Magdeburg. Das ist ja schon ein paar Kilometer näher am Tagesziel. In Magdeburg trennen sich unsere Wege. Michael will in den RE nach Hannover, ich entscheide mich für den Weg über Braunschweig. 30 Minuten später sitze ich gut gelaunt im nur spärlich besetzten Abteil. “ Wir haben Schwierigkeiten auf der Strecke, die Oberleitung ist defekt“, kommt die Info nach 20 Minuten . Der Zug endet in Helmstedt. Ja, er endet dort! Weiter geht es nur für Menschen, die ohne Rad unterwegs sind, nämlich mit einem Bahnersatzverkehr. Nur eben kein Ersatz für mich! Der Busfahrer ist zwar nett, aber deshalb kann er mich trotzdem nicht mitnehmen. Die Luft ist frisch, der Weststurm bläst mir heftig ins Gesicht auf dem Weg über die Hügel nach Braunschweig. Was hilft es, sage ich mir, getreu dem Sprichwort: „Freu dich, wenn es regnet. Wenn du dich nicht freust, regnet es auch“.

Ich freue mich nicht über den heftigen Gegenwind, der meine Kräfte arg strapaziert. Nach zwei Stunden und 40 Kilometern Kurbelei stehe ich vor dem Bahnhof der Stadt, die einen Löwen im Wappen trägt. Wunderbarerweise fahren auch Züge von hier weiter in Richtung Westen, wo schließlich mein Tagesziel liegt. Allein, bis Hamm, wo ich eigentlich am Nachmittag ankommen wollte, werde ich es nicht mehr schaffen. Heute ist für mich Hameln Endstation.

Die Altstadt, das Hotel „Zur Börse“ und die netten Menschen versöhnen mich mit den Misslichkeiten der Bahnfahrt. Pasta und leckerer Rotwein beim Italiener schaffen eine gute Voraussetzung für wohlige Gedanken und tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen stehe ich um halb neun Uhr wieder auf dem Bahnsteig, hoffend, dass der Zug nach Paderborn, Soest und Schwerte durchhalten möge. Das Unerwartete passiert: Die Züge sind pünktlich! Um die Mittagszeit arbeite ich mich an den Ruhrradweg heran. Welche Wohltat. Grüne Auen, weidende Rinder, nur ein paar Industrieschlote stören den Ausblick. Dann biege ich ab an die Lenne, die mich die Orte meiner Geburt, meiner Schulzeit führen wird.

Bei Hohenlimburg staune ich beim Überqueren der Lenne über eine Kanu-Slalomstrecke, auf der drei Wasserratten trainieren. Der Lenneradweg ist nur mäßig beschildert, genauso mäßig, wie die Wegführung und die Beschaffenheit der Fahrbahn. Auf der Homepage wird auch folgerichtig Familien mit Kindern die Fahrt per Bahn von Letmathe bis Werdohl empfohlen. Kleine Abschnitte führen am Fluss entlang, meistens finde ich mich auf der B 236 wieder, wo die LKW in Kolonnen unterwegs sind. Für ungeübte Radler absolut nicht zu empfehlen! „Gegen Ende der Route geht es vermehrt durch Städte und der Radfahrer bekommt einen Eindruck vom pulsierenden Leben des Ruhrgebietes. “ So ist die Strecke auf der Internetseite https://www.radeln-nach-zahlen.de/de/outdooractive-touren/lenneroute beschrieben. Ja, stimmt! Durch die Stätten der ehemaligen Metallindustrie. Hammerwerke, Metallverarbeitung, Drahtziehereien, Schmieden. Im 19. und 20. Jhd. erblühte hier der Wohlstand. Die Industrialisierung begann. Die Menschen erlebten Aufstieg und Wohlstand. Jedenfalls relativ zur Situation davor. Das gesamte untere Lennetal ist geprägt durch diese Geschichte. Das Ende der Hoch-Zeit habe ich selber erlebt. Jahrelang konnte ich in den Semesterferien gutes Geld für harte Arbeit im Federnwerk Brüninghaus in Werdohl verdienen. 10 Tonnen Stahl habe ich damals pro 12-Stundenschicht bewegt. Ich hatte eine Garantiebeschäftigung in diesen Jahren. Mein erstes Auto habe ich so finanzieren können.

Heute stehen noch die Mauerhüllen der alten Betriebe, manchmal wiederbelebt mit Industrie und Handel der Neuzeit. Aber das ist offensichtlich die Ausnahme. Die Stadt Altena hatte 1970 noch 32000 Einwohner, heute sind es noch gerade die Hälfte. Bei Werdohl mit ehemals 24000, heute noch 17000 Einwohnern, sieht die Entwicklung ähnlich aus.

In Altena quere ich die Lenne hinüber zur Altstadtseite unter der Burg. Tristesse, so kann ich nur mein Gefühl beschreiben, das mich beim Betrachten der vielen leeren Schaufenster in der Lennestraße erfasst. Trotz dieser misslichen Lage erlebe ich viele Menschen gut gelaunt und freundlich. Von oben schaut die mittelalterliche Burg souverän auf das Zeitgeschehen herab. Hier gründete im Jahr 1912 der Lehrer Richard Schirrmann die erste Jugendherberge der Welt. Und es gibt sie auch heute noch. In der Burg residiert auch ein Drahtziehermuseum. Draht, Eisen, Stahl… damit wurde diese Gegend wirtschaftlich groß. Der ehemalige Wohlstand ist nur noch zu erahnen. Mein Uropa hat hier 40 Jahre lang als Drahtzieher gearbeitet.

In Altena biege ich ab in das Rahmedetal, wo ich meine ersten Kinderjahre verbracht habe, wo mein Geburtshaus steht. Minutenlang muss ich warten, um von der einen auf die andere Straßenseite zu kommen, so extrem ist der Verkehr, der nach dem Abriß der Autobahnbrücke durch dieses Nadelöhr strömt. Draht wird hier immer noch gezogen, ist unschwer an den gestapelten Rollen zu erkennen.

Bei Trurnit stellen noch 20 Mitarbeiter Kunststoffteile für die Bauindustrie her…

Auf dem Gebiet der Kaltwalztechnik ist die Region führend. Nur eben mit wesentlich weniger Beschäftigten als früher.

Dann erreiche ich Oberrahmede, das am 7. Mai 2023 Berühmtheit durch die Sprengung der Autobahnbrücke erlangte. Die Anwohner werden auf Jahre brutal durch den kompletten Autobahnverkehr, der über die ansonsten wenig befahrenen Nebenstraßen geführt wird, belastet. Ich habe in den Jahren 1965 bis 1968 erlebt, wie die Brücke gebaut wurde. Heute nur noch Betonschrott. Nachhaltig geht anders.

Da stand sie einmal, die Rahmedetalbrücke

Auch in lang vergangenen Zeiten war nicht alles besser! Ich erinnere mich an meinen Schulweg, der am Rahmedebach entlang führte. Dicke, graubraune Würste hatten sich an den hineinragenden Zweigen abgelagert. Chemie und Gift pur. Die Abwässer der Industriebetriebe wurden ungefiltert in das Gewässer geleitet. Kein Fisch, kein Frosch, nichts konnte hier über Jahrzehnte leben. Heute leben in der Lenne wieder Forellen, Hechte und Karpfen.

In Dünnebrett arbeite ich mich zu meinem Geburtshaus hoch. Das alte Siedlungshaus aus den 30er Jahren ist hübsch renoviert, die Mieterin lässt mich bereitwillig hinein. Ich bekomme feuchte Augen. Das alte Treppengeländer erkenne ich noch genau. Auf vielleicht 55 Quadratmetern habe ich damals mit meinen Eltern und Großeltern gewohnt. Kochecke, Waschecke, keine Dusche… Nach einer Stunde Eintauchen in die alte Zeit mache ich mich auf den Weg nach Lüdenscheid. Hier habe 1970 am Zeppelin-Gymnasium mein Abi gemacht.

Die Innenstadt lebt, wenn auch die ehemaligen großen Kaufhäuser nur noch als Hülle existieren.

In der Altstadt trage ich mein Granfondo über diverse Treppen und rumpele über altes Pflaster. Die kleinen Hotels sind verschwunden oder zumindest geschlossen. Schließlich buche ich im Mercury am Stadtpark, wie das Hotel aktuell heißt. Vormals Queens, Hollstein, Crest und Ramada. Elf Stockwerke hoch steht der Gebäudeklotz seit 1974 hier. Ich bekomme ein Zimmer im sechsten Stock mit Fernblick ins Bergische Land. Dass ich hier mal übernachten würde.

Ich genieße den Sonnenuntergang und den Übergang in den Nachthimmel bei einem guten Glas Weißwein. Dann schlummere ich tief und freue mich auf die nächste Etappe hin zur Volme und dann die Ruhr hinab. Pro Tag etwa 100 Kilometer. Mehr müssen es auch nicht sein bei soviel Gedenkpausen.

An Kocher und Jagst

Lange schon wollten wir einmal ein paar gemütliche Tage gemeinsam radeln. Peter war immer viel unterwegs, aber mit dem Reisebus, Touristen durch halb Europa schaukeln. Ich habe ihn beneidet für seine Fahrten ans Nordkap, nach Rom und ins Baltikum. Sogar ein Marathon Team hat er vor Jahren kutschiert. Samt Masseuren, Ärzten und Trainern. Jetzt hat er sich entschlossen, aufzuhören. Mit 70 ist das nur vernünftig. Ein klein wenig hadert er noch mit seiner Entscheidung. Da kommt eine schöne Radtour für Körper und Seele gerade recht.

Das Granfondo im Zug nach Crailsheim

Geplant – getan! Am 19. Juni sitze ich mit meinem minimal bepackten Granfondo in Hennigsdorf im Regio und arbeite mich in Etappen vor in südliche Gefilde. Das 49 Euro Ticket will schließlich ausgenutzt werden. Von Potsdam nach Dessau, von Dessau nach Leipzig, dann nach Nürnberg und schon sitze ich im gelben Nahverkehrszug, der mich nach Crailsheim bringen wird. Heute sind alle Züge pünktlich. Ich fasse es kaum, dass ich das noch erleben darf. Ankunft Crailsheim 17.38 Uhr. Nach neun Stunden Bahnfahrt genieße ich die fränkische Luft und rolle mich auf dem Jagstradweg ein. Jagstheim, Jagstzell, Kalkhöfe. Hier will mich Peter samt Rad in sein Campingmobil einladen. Nach kurzweiligen, zum Ende mit einigen Rampen garnierten 16 Kilometern stehen wir voreinander, umarmen uns und freuen uns. Mein Granfondo passt sehr gut auf den Radträger neben Peters Mtb. Mit seinem Mercedes Marco Polo chauffiert uns Peter gekonnt nach Aalen. Ich bin gespannt, wie die Herberge, die ich mit Booking.com gebucht habe, aussieht.

Als wir auf den Innenhof zwischen Handwerksbetrieben und Autowerkstätten rollen, sind wir erst sehr skeptisch. Das sieht sehr nach einer Monteursunterkunft aus. Allerdings empfängt uns der Besitzer sehr freundlich, erzählt uns sogleich seine Unternehmensgeschichte und seine zukünftigen Projekte. Als ob wir seine Berater wären… Hört sich alles gut an. Und der Schwabe war zu alledem auch vor seiner Karriere als Hotelmanager beim Daimler im Motorenbau beschäftigt. Wie auch immer, wir fühlen uns herzlich willkommen und das Apartment sieht richtig gut aus.

Guter Dinge rollen wir mit unseren Rädern hinein in die Altstadt von Aalen, wo wir zünftige Speis und Trank genießen und intensiv über alte und neue Zeiten reden. Irgendwann fahren wir zurück zum Hotel und fallen müde in die Betten.

Peters Marco Polo darf die nächsten Tage hinter dem Boarding House parken, wir bepacken unsere Räder und starten zur 1. Etappe, die uns nach Schwäbisch Hall führen soll. Doch halt, bevor wir an den Kocher rollen, wollen wir noch ordentlich frühstücken, am besten wieder im Zentrum der Altstadt, das uns schon am Vorabend gut gefallen hat. Bei einem Bäcker bekommen wir duftenden Kaffee, dazu belegte Brötchen. Was braucht der Radler mehr. Wie am Vorabend auch, fallen uns der Begriff „Spion“ auf. Spion-Metzgerei, Spion Café und noch einige Male öfter taucht der Spion in Bezeichnungen auf. Als wir losrollen, fragt Peter kurzerhand einen Herrn in unserem Alter, der mit seinem E-Bike an der Ecke steht. Volltreffer! Der Mensch ist nicht nur freundlich, er kennt sich auch bestens aus, weil er in einem Haus direkt am Markt geboren ist. Und dann erzählt er uns die Geschichte vom Spion: hier für die Neugierigen nachzulesen.

Ganz kurz: Wer in der ehemaligen Reichsstadt Aalen zum Rathausturm hochschaut, der sieht dort den Kopf eines bärtigen Mannes mit einer Pfeife im Mund mit verschmitztem Blick herunterlächeln und sich hin- und herdrehen. Das ist der Aalener Spion, dem die Bürger ein Denkmal gesetzt haben. Denn ihm verdanken sie es, dass die Stadt vom Heer des Kaisers einst verschont wurde.

Nun kennen wir die wahre Geschichte vom Spion und können uns wissend und kundig auf den Kocher-Radweg begeben. Der Spion-Erzähler lässt es sich nicht nehmen, uns den besten Weg zum Kocher zu zeigen und verabschiedet sich mit den besten Wünschen.

Einige Male queren wir den Kocher über die typischen Holzbrücken mit Dach. Wer nun meint, die Überdachung wäre als Regenschutz für Wanderer und Radfahrer gebaut, der irrt. Bei „gedeckten“ Holzbrücken schützt das Dach die tragende Konstruktion und sorgt für ein Jahrhunderte währendes Leben. Bei Wöllstein passieren wir einen Wegweiser, der uns fast auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela gelockt hätte. Allein die Entfernung von 2180 Kilometern hält uns von dem Vorhaben ab. Also arbeiten wir uns entlang des Kocher weiter vor in Richtung Schwäbisch Hall. Einige rampenartige Anstiege haben die Planer mit eingebaut. Peter muss so richtig schuften auf seinem Mountainbike.

In Gaildorf schließlich überqueren wir den 49. Breitengrad. Auch er wird uns heute nicht bremsen.

Gerade rechtzeitig entdecken wir an der Stadbefestigung von Gaildorf einen lauschigen Biergarten, der zwar noch nicht geöffnet hat, aber die nette Dame zeigt sich flexibel und zapft für uns Radler zwei große Radler. Die bringen verbrauchte Energie im Nu zurück.

Und bevor ich das vergesse: In Untergröningen staunen wir über einen gut sortierten GIANT-Radladen, noch mehr allerdings über die feinen Colnagos, Eddy Merckx, Basso- Oldies in einem angestaubten Laden namens FEUCHT. Hier ist der Inhalt wesentlich wertvoller als die Hülle.

Zurück auf die Strecke: Noch einige Rampen warten, bis wir endlich am Stadtrand von Schwäbisch Hall ankommen. Die Kulisse der alten Stadt ist beeindruckend, Peter hat schon vor einer Woche eine Unterkunft namens City Living mitten in der Altstadt gebucht. Nur müssen wir das Etablissement erst einmal finden. Unter der Adresse ist nicht einmal ein Türschild auszumachen. Schließlich hilft uns der Wirt der benachbarten Kneipe aus der Bredouille. Er weiß, der Schlüssel ist per Code in einem versteckten Kästchen zu finden. Als wir erleichtert vor der Eingangstreppe stehen, kommt auch schon Franz um die Ecke. Franz, ein alter guter Kollege aus Daimler-Zeiten, der nah von hier wohnt und ein wahrhafter Kenner der Region ist. Wir umarmen uns, freuen uns, bringen unsere Räder unter, ziehen uns um, und schon sind wir wir auf einem Stadtspaziergang mit kundiger Führung unterwegs.

Franz führt uns um die schönsten Ecken, erklärt uns die Historie, wohlwissend, dass uns der Hunger und der Durst baldig in einen Gasthof treiben wird. Direkt am Kocher kehren wir in die Brauereigaststätte Zum Löwen ein. Zünftig! Das Bier schmeckt, Ich esse als Flexitarier ausnahmsweise eine Riesenportion Wurstsalat. Wir reden und reden und essen und trinken und und… Herrlich ist es hier in dieser alten Stadt. Schließlich verabschieden wir uns von Franz, der noch nach Hause fahren muss. Peter und ich gönnen uns noch einen Absacker im Alt Hall. Wir schlummern wohlig und tief und wachen am nächsten Morgen tatendurstig auf. Erst ein Frühstück beim Bäcker, dann hinüber zum Bahnhof Hessental, wo wir für ein paar wenige Kilometer in den Nahverkehrszug nach Crailsheim einsteigen. Hätten wir auch locker ohne Bahn gemacht. Von Crailsheim aus wollen wir Etappe 2 nach Aalen zurück entlang der Jagst in Angriff nehmen. Peter hat sich langsam eingewöhnt auf seinem Mtb. Er macht das für einen „Radanfänger“ richtig gut. Er kann beißen, wenn es bergan geht und sich freuen, wenn es den Berg runter geht. Die ersten Kilometer von Crailsheim in Richtung Aalen kenne ich von Tag 1. Die kleinen Rampen ackert der Peter tapfer hoch. Derweil braut sich vor uns auf Kurs ein heftiges Gewitter zusammen. Es wird immer dunkler, Wind kommt auf, es wird Zeit für eine Pause mit festem Dach überm Kopf. Wir haben unverschämtes Glück. In Schimpfach schlüpfen wir bei beginnendem Regen unter das Vordach eines – noch geschlossenen- Gasthofs. Egal, Hauptsache trocken. Ein paar Minuten später kommt der Gastwirt in Handwerkerklamotten an unseren Tisch, und wir können ihn überzeugen, uns zwei gekühlte Biere zu kredenzen. So überstehen wir den heftigen Schauer mit Donnergrollen locker.

„Da sitzen die, die immer dort sitzen“ – frei übersetzt aus dem Schwäbischen ins Hochdeutsche.

Eine Stunde später ist der Gewitterspuk vorbeigezogen. Die Sonne lacht spöttisch, wir rollen gut gelaunt weiter. Kultur und Historie in Form der Limes-Gedenkstätten warten auf uns. Davor kurven wir durch die Altstadt von Ellwangen und kehren ein im Café Omnibus, genießen Kaffee und Kuchen – wir können uns kaum lösen von diesem gemütlichen Ort. Aber der Limes wartet schon auf uns! Schließlich ist der römische Kaiser Caracalla auf seinem Germanenfeldzug weit in den Norden vorgedrungen und hat einen Grenzwall – den Limes – errichten lassen. Mit Toren, mit Kastellen und anderen Bauwerken. Fast 2000 Jahre liegt das zurück! Weit danach fielen Kultur und Errungenschaften wie Toiletten, Bäder, Kanalisation… in den Schlund des frühen Mittelalters. Umso bewundernswerter ist es, zu sehen, wie kultiviert und fortschrittlich die Römer waren. Wir kurbeln hoch zur Limes-Gedenkstätte. Auf halbem Wege zwischen Schwabsberg und Dalkingen. Aufwändig gemacht, viel Glas, viel Information. Chapeau! Und die Dame im Innern des Glashauses informiert uns professionell und engagiert. Vollkommen unerwartet für uns, so weit ganz draußen auf dem Lande!

Wir saugen eine Stunde lang Geschichte und Kultur in uns hinein, bis wir wieder Lust verspüren, weiterzufahren. Unser Boarding-House-Chef ruft uns an, um zu verkünden, dass soeben ein Gast frühzeitig abgereist ist und wir doch noch ein Zimmer bekommen. Beruhigend. Wir müssen nicht mehr weitersuchen und können uns ganz entspannt auf ein genüssliches Abendessen freuen.

Sonnenuntergang und köstlicher Rotwein, dazu lassen wir unsere Kocher-Jagst-Tour Revue passieren. Bis zur nächsten Radrunde warten wir nicht wieder solange, sind wir uns einig.

Fläming, Elbe, Elster

Drei Tage Traumwetter, drei Tage ohne irgendwelche Termine, drei Tage auf dem Rad.

Am besten der Nase nach, am besten los mit dem Wind im Rücken, „easy-riding for an old man“. So sollte es gehen, denke ich mir am Mittwochabend und packe meine Sachen zusammen.

Ich werde auch die neue Ortlieb-Trunkbag-Tasche testen. 12 Liter Inhalt, wasserdicht, schmal bauend, 800 g leicht. Mein vorerst letzter Schritt zur Gepäckminimierung für kleine Etappentouren im Frühjahr und Sommer. Als ich die Tasche bestellte, hatte ich nicht berücksichtigt, dass mein Tubus-Airy-Titan-Gepäckträger nur 60 mm schmal ist. Da hängen die beiden Gravelpacks seitlich wunderbar dran, aber 6 cm Stegabstand ist zu wenig für die Befestigungsklauen derTasche. Die Lösung des Problems ist die Verbreiterung mittels zweier Alustäbe rechts und links am Träger. Verdrehfest mit Kabelbindern und zwei vorgebohrten Aluprofilen befestigt. Kosten 10 Euro. Zeitaufwand 90 Minuten. Der Trunkbag sitzt nun bombenfest auf dem Airy.

Am Donnerstagmorgen gegen 10 Uhr mache ich mich auf den Weg. Noch sind es frische 13 Grad, Brevet-Jersey, dünne Armlinge, Windweste drüber und an den Beinen die schön wärmenden X-Bionic-Beinlinge. So rolle ich mich ein und wähle einen Track, der an Berlin westlich vorbeiführt, hin nach Falkensee, über Seedorf nach Potsdam, nach Caputh am Schwielowseee und dann hinein in den Fläming.

Ich verlasse die geteerten Wege und tauche ein in die Wiesen und Auen. Zwei Störche überfliegen mich in wenigen Metern Höhe. Ein erhabener Anblick. Einfach innehalten, wahrnehmen und genießen.

Die Sandpassagen auf den nächsten Kilometern bremsen mich zwar, die gute Laune können sie aber nicht trüben. Barockkirchen in Rosa, ein Ortsname wie im Voralpenland: Salzbrunn.

Hier wurde schon im 16 Jhd. nach Salz gebohrt. Eine Saline sollte entstehen. Alle Mühe war vergebens, der Salzgehalt war viel zu gering. Allein der Ortsname erinnert an das frühe Projekt der Kurfürsten. Im Fläming muss man nur die Hauptrouten verlassen, um immer wieder Erstaunliches zu entdecken.

Barockkirche in Reesdorf

In Treuenbrietzen erkenne ich die Dahlbeck-Bäckerei wieder, bei der Peter, Matthias und ich die erste Pause auf der Etappentour 2016 nach Tschechien und Bayern eingelegt hatten. Heute teste ich die Qualität des Milchkaffees erneut. Bestanden. Lecker. Nur doppelt so teuer wie vor sieben Jahren.

Noch 30 Kilometer bis zu meinem Tagesziel Wittenberg. In einem kleinen Bogen nach Südosten arbeite ich mich über Zahna an die Stadt heran. Die Lutherstadt strahlt seit den mit großem Aufwand betriebenen Restaurationsarbeiten zum 500-jährigen Jubiläum der Reformation im Jahre 2017 in neuem Glanz. Eine vorzeigbare Innenstadtzone ist entstanden. An diesem herrlichen Donnerstagabend flanieren nur wenige Menschen in der Stadt. Nur im Bereich vom Marktplatz mit Luther-und Melanchthondenkmal tummeln sich einige Touristen.

Hinter der Schlosskirche schießt ein Mann mit einem langen Blasrohr auf einen kleinen Luftballon. Aus sicher mehr als 50 Metern Entfernung. Als ich respektvoll näher zu ihm gehe, zeigt er mir mit einigen präzisen Schüssen seine Pustekunst. Irgendwie passend zum den mächtigen Turm umgreifenden Spruchband: “ Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“.

Noch mehr Kunst gibt es in Form der Skulptur “ Die unerträgliche Leichtigkeit“ des Bildhauers Frank Seidel zu bestaunen. Sie balanciert auf einem rostrot in der Sonne leuchtenden Sockel. Es ist 19 Uhr geworden und ich sollte bald eine Bleibe für die Nacht finden. Booking.com lotst mich in Richtung Bahnhof und zum Hotel Acron. Die Dame an der Rezeption kann ich davon überzeugen, dass mein Granfondo besser im Zimmer als im Radschuppen auf dem Hof untergebracht ist. Duschen, umziehen, Stadt erkunden. Nach 15 Minuten bin ich unterwegs und laufe durch die Gassen.

Dreimal hin und wieder zurück, Luther, Melanchthon, Thesentür, dann endlich ein Italiener, kein historischer, nein, einfach ein guter Gastgeber mit einem guten Koch. Satt und zufrieden wandere ich zurück zum Hotel und gönne mir noch ein Absacker-Bier. Danach falle ich in einen erholsamen Tiefschlaf.

Am nächsten Morgen lacht die Sonne aus einem klarblauen Himmel herab. Das Grün der Elbauen bildet einen filmreifen Kontrast dazu. Genuss pur für Körper und Seele! Es rollt wunderbar. Querab von Torgau enden die Ortschaften fast alle auf – witz. Kein Witz! Triestewitz, Kathewitz, Adelwitz, Ammelgoßwitz… Besonders in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen ist diese Endung häufig anzutreffen und weist meistens wohl auf den Gründer oder Erbherren des Ortes hin. Also: Kathewitz – die zu Kathe Gehörigen.

In Prettin rolle ich am Schloss Lichtenburg vorbei. Das teilrestaurierte, riesige Gebäude hat eine ziemlich illustre Geschichte: Erbaut im 16. Jahrhundert als Wittwensitz der sächsischen Kurfürstinnen, wurde das Anwesen im Jahr 1812 umfunktioniert zum kursächsischen Gefängnis und danach zur Strafanstalt für über 500 Insassen. Im dritten Reich begann das finstere Kapitel als Konzentrationslager. Man mag kaum glauben, was hinter den Mauern der Schlossfassade alles geschehen ist über die Jahrhunderte. Heute residiert hier ein Museum zum Gedenken an die KZ-Opfer.

In Triestewitz wird das ehemalige Rittergut als Hotel genutzt, direkt daneben verfallene Gutsanlagen und rostendes Landwirtschaftsgerät. Die Zeit steht still.

In Großtreben backt der Bäcker Schröder in großem Stil und betreibt auch noch einen netten Bäckerladen samt Café. Der Milchkaffee mundet und das Hefeteilchen bringt verbrauchte Energie im Nu zurück. „Heimat, Handwerk, Herzlichkeit“, lese ich hinter der Sitzecke. Kann ich so bestätigen!

In Belgern setze ich mit der Seilfähre über auf die Westseite der Elbe. Der Elbe-Radweg führt im Zickzack-Kurs durch die Auen und Hügel. Genau richtig für Menschen, die keine Eile haben und gerne viel sehen wollen. Also ideal für mich in diesen Tagen. Blumenwiesen, zufrieden wiederkäuende Rinder, eine prächtige Kastanie in voller Blüte. Dann ein gelber Hochzeitstrabbi mit Blumenschmuck vorm Standesamt in Strehla und als vorläufiger Höhepunkt des Tages die Entdeckung des ganz besonderen Flugplatzes von Riesa.

Als ich auf der linken Seite die Fliegerhalle und den Tower entdecke, wundere ich mich darüber, dass die Startbahn auf der gegenüberliegenden Straßenseite anfängt. Obacht! Flugzeuge queren die Fahrbahn. Alles gut geregelt, denn der Flugleiter schaltet die Ampel auf Rot, der Sportflieger rollt quer über die Straße, mein Granfondo staunt.

Neugierig, wie ich bin, rolle ich danach noch zur Halle, vor der gerade ein Doppeldecker startbereit gemacht wird. Sieht alt aus, ist aber ein gänzlich neues Ultraleicht-Fluggerät, wie mir später der Erbauer und Besitzer stolz erzählt. Wir ratschen über alte und neue Zeiten – schließlich habe ich auch in grauer Vorzeit solche Flugzeuge geflogen. Eine halbe Stunde später verlasse ich den Verkehrslandeplatz Riesa Göhlis und nehme den letzten Teil meiner Tagesetappe ins Visier: Meißen. Auf den nächsten Kilometern könnten die Gegensätze nicht größer sein: Auf der Ostseite der Elbe die riesigen Anlagen von Wacker Chemie, auf meiner Seite blühende Landschaften.

An der Wäscheleine am Ufer trocknen Büstenhalter und Unterhosen. Daneben grasen friedlich wunderbar braune, gescheckte und gelbweiße Rinder. Dann kommt die mächtige Albrechtsburg in mein Blickfeld und wird immer größer. In der Altstadt von Meißen herrscht rege Betriebsamkeit, die Stadt ist heute Abend im sportlichen Ausnahmezustand. Aufgeblasene Zielbögen, Getränkestände, Streckenabgrenzungen… Ich staune und schiebe mich und mein Granfondo durch die Menschenmassen. Als ich im Zielbereich ankomme, biegen gerade die Schnellsten der vierten Klassen um die letzte Kurve. Beifall brandet auf.

Bei der Suche nach einer Unterkunft habe ich Glück. Ich bekomme ein Zimmer im Hotel Am Markt. Mein Granfondo residiert selbstverständlich wieder einmal gemeinsam mit mir. Jetzt beginnt der sportkulturelle Genussteil des Tages. Erst duschen, umziehen, dann wieder hinein in den Trubel. Fast wie beim Sechstagerennen ist es hier, man kann inmitten der Sportveranstaltung essen und trinken und es sich gut gehen lassen. Drumherum schwitzen die Läuferinnen und Läufer. Ich genieße derweil ein Glas Wackerbarth Rosé.

Fast 22 Uhr ist es , als die Letzten ambitionierten Amateure nach ihrer Marathonstrecke ins Ziel kommen. Der Mond leuchtet herunter auf die Altstadt. Eine friedliche Stimmung. Ich bin zufrieden mit diesem Tag, mit den Menschen um mich herum und der atmenden alten Kultur dieser Stadt.

Am nächsten Morgen starte ich gut gelaunt und nehme wieder Kurs auf Berliner Gefilde. Zurück auf der Ostseite der Elbe, entlang an den Weinbergen hin bis Riesa und dann das Elstertal hinauf. Mit der Bahn will ich das letzte Stück fahren. Allein die Bahn hat ein Problem. Ein Stellwerk ist ausgefallen, der Zug kann nicht weiter, ich setze mich wieder aufs Rad und ziehe noch einmal 50 km durch bis Jüterbog, dann bekomme ich eine Verbindung nach B. Als es dunkelt, rolle ich wieder vor der Haustür aus. Eine echte Kultur- Genusstour war es. Wittenberg, Meißen, die Elbauen. Herrlich! Verlangt nach baldiger Wiederholung, weil es immer wieder Neues zu entdecken gibt.

Gerade, kreuz und quer – eine Buchbesprechung

Für mich ist das Buch von Rahel Straubel und Dirk Reuber ein ganz Besonderes. Schon allein deshalb, weil ich die beiden gut kenne und weil sie meine Leidenschaften teilen. Radfahren und wandern; dabei Kultur, Natur, Land und Leute kennenlernen.

Als Dirk mir vor gut zwei Jahren von dem Buchprojekt erzählte, hatte ich sofort einige schöne Bilder und Geschichten aus der Region vorm geistigen Auge. Wie schön, dass die beiden mich freundlicherweise auch noch baten, eine Story zum Inhalt beizutragen. Sie kannten mein Blog und meinen Stil. So fing das Ganze für mich an. Und für Dirk und Rahel stand ein ordentliches Paket Arbeit ins Haus.

Vorige Woche hielt ich das 240-seitige Ergebnis ihres Schaffens freudig und erwartungsvoll in Händen. Es ist gut gelungen, das sage ich schon einmal vorab.

Rahel und Dirk haben sich nicht die üblichen Ziele und Wege vorgenommen, die schon vor ihnen viele Autoren beschrieben haben. Sie haben genau hingeschaut im westlichen Brandenburg.

“ Die Tage sind hell, kein Berg begrenzt die Sicht. Die Nächte sind oft so dunkel, dass man dem Sternenhimmel ganz nah zu sein scheint“

“ Uns interessiert Kultur besonders jenseits großer Namen oder wichtiger Stätten“

So haben die Autoren ganz besondere Orte mit interessanten Menschen entdeckt und beschrieben. Sie sind eingetaucht ins Land und ihre Begeisterung fürs Unspektakuläre wird greifbar. Ganz im Sinne des großen Fontane, der im Vorwort zu seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg schrieb: “ Der Reisende in der Mark muß sich mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben“.

Rahel und Dirk beschreiben in ihrem Buch eine Reihe von kreativen, engagierten und mutigen Menschen, die in kleinen Dörfern, oft weit abgeschieden, Initiativen entwickelt haben und für den Ort und die Region Positives bewegen. Sie machen all das im Text und mit den Fotos greifbar und erlebbar.

Gerade, kreuz und quer“ sind sie gewandert, mit dem Rad gefahren und mit dem Hausboot über die Seen geschippert. Wanderrouten und parallel etwas längere Radtouren in der jeweiligen Region führen an den schönen, an den einsamen, an den interessanten Orten vorbei. Beim Lesen habe ich spontan Lust bekommen, aufzubrechen und dorthin zu fahren, wo ich bisher noch nicht war, wo auch für mich „Kreuz und quer-Radler“ Neuland zu entdecken ist. Umso schöner, wenn das so greifbar beschrieben ist und auch noch zu jedem Ziel eine Karte hinzugefügt ist mit der besten Wander- oder auch Radroute.

Warum nicht einmal auf der Pilgerroute von Hennigsdorf nach Bad Wilsnack zur Wunderblutkirche laufen… Die Autorin Ute Gottesmann beschreibt ihre sechs Pilgertage und 130 Wanderkilometer kurzweilig und anschaulich.

Oder einmal bei Vehlefanz und Schwante um den Mühlensee laufen und anschließend ein Salonkonzert bei Monta Wegmann im ehemaligen Stall neben dem Wohnhaus erleben und dabei mit den Künstlern ins Gespräch kommen und ein Glas Wein trinken…

Gerade, kreuz und quer ist ein herrliches Buch zum Lesen, zum Nacherleben, zum Verschenken an jeden, der Land und Leute besser kennenlernen will.

Danke Rahel und Dirk!

LESEN!

Rahel Straubel/ Dirk Reuber, Gerade, kreuz und quer. Wandern & Radfahren durchs westliche Brandenburg

240 Seiten, Broschüre, 16×22 cm, ISBN 978-3-95894-240-0

18 Euro

Überall im Buchhandel oder unter http://www.omnino-verlag.de

Adonisröschen an den Pontischen Hängen

„Wo das Blut des schönen Jünglings ( Adonis) hintropft, sprießen die Blüten der Adonis aestivalis, der roten Verwandten unseres gelb blühenden Frühlings-Adonisröschens.“ So lese ich es nach in einem Beitrag des NABU über die Pontischen Hänge von Lebus an der Oder. Schon 1921 wurde hier ein kleines Naturschutzgebiet eingerichtet, um die seltene Pflanze zu schützen.

Es geht Adonis gut an den Pontischen Hängen. Die Blume stammt ursprünglich aus der Gegend des Kaukasus und Südsibiriens. Am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12000 Jahren hat sich die Pflanze in mehreren Schüben entlang der Flüsse Weichsel, Oder und Warthe schrittweise nach Westen vorgearbeitet. Das Adonisröschen hat also einen eindeutigen Migrationshintergrund. Es fühlt sich dennoch bei uns wohl, wird geschützt und geschätzt. Bei all meinen Fahrten „nad Odra“ hatte ich es bisher nicht in Blüte erlebt. Entweder war ich zu spät im Jahr auf Suche gegangen, oder ich war einfach zu bequem, die Feldwege zu fahren und zu schieben bis dorthin. Also wartete heute eine kleine Aufgabe auf mich. Endlich Adonisröschenblüten sehen und dann aufs Foto bannen.

Aber halt, bis zur Oder hin dauert es um die vier Stunden für den Kultur-Randonneur, denn er will ja auch auf der Anreise zum Tagesziel sehen und erleben. „Der Weg ist das Ziel.“ Frischer Westwind ist angesagt an diesem Aprilmittwoch und genauso frische 8 Grad, vielleicht noch ein Graupelschauer dazu… Ich packe sicherheitshalber meine Gore-Shakedry ein und streife mir für die ersten kalten Kilometer Langfingerhandschuhe über. Das Granfondo-Titan kommt zum Einsatz.

Die Grundschule ist schon seit 2003 geschlossen

Es freut sich genauso wie ich auf eine ordentliche Granfondo-Distanz. In eine kleine Thermosflasche, die gut in den Halter passt, fülle ich heißen Ingwertee, in die normale kommt 0,6 l Isogetränk. Dazu stecke ich noch einen dicken Eiweißriegel in die Trikottasche. So sollte ich ohne Hungerast notfalls über den Tag kommen. Nach einem Frühstück mit Kaffee, Vollkorntoast, Käse, Honig und Marmelade sitze ich um 9.30 Uhr auf dem Rad. Dann rolle ich mich über Bernau, Tempelfelde, Heckelberg ein. Durch den langen Wald nach Haselberg, und schon habe ich das Oderbruch formatfüllend vor Augen. Auf den ersten 60 Kilometern sind mir gerade mal zwei Rennradler begegnet. Meinem Radlerfreund Wolfgang schreibe ich hinter Schulzendorf eine WhatsApp mit diesem anhängenden Foto:

Ich bin fies, ich will ihn neidisch machen. Vor einem Jahr waren wir hier gemeinsam unterwegs, heute sitzt der Arme im Büro und arbeitet sich an einer Excel-Tabelle ab. Die Sonne lacht, der Wind schiebt mich mit 45 km/h hinunter nach Vevais, wo die Kolonisten, vom Alten Fritz angeworben, ihre neue Heimat im Jahr 1752 nach ihrer alten tauften. 17 Familien bauten sich ein neues Leben auf.

Keramik-Skulptur von Inge Müller

Eine Keramikskulptur erinnert an die ersten Siedler, die wahrscheinlich aus der französisch-sprachigen Schweiz am Genfer See stammten. Vevais – nach Vevey am Genfer See. Genau vor einem Jahr stand ich auch an dieser Stelle und fotografierte das Werk von allen Seiten.

Ich steige wieder auf mein Granfondo, sonst fange ich noch an zu frieren. Die dunklen Wolken, aus denen vereinzelt Graupel fällt, ziehen knapp nördlich an mir vorbei. Glück gehabt. Kurs Ost, nächster Halt Alt-Lewin, mit zwei Dutzend Häusern für 55 Einwohner. herumgruppiert um die Kirche, ein Angerdorf. Bei den Siedlungen für die Kolonisten, die immer mit „Neu“ anfangen, handelt es sich meistens um Straßendörfer.

Der heiße Ingwertee tut gut und wärmt. In Alt-Lewin lässt sich kein Mensch blicken, still liegt der Ort. Die lange Eichenallee, Ortwiger Kruschke genannt, führt mich nach Ortwig. Am Ortseingang biege ich ab in die Bauernstraße mit einem genauso dominanten wie hässlichen alten, grauen Mietshaus, das offensichtlich noch freie Wohnungen zu bieten hat.

„Selig sind, die Frieden stiften“, lese ich an der teilrestaurierten Dorfkirche, die in den letzten Tagen des Krieges in Trümmer gelegt wurde. Zwei Glocken haben in den Fensteröffnungen der Südwand einen neuen Platz gefunden. Die kleine evangelische Gemeinde hat in den vergangenen 30 Jahren mühevoll und in kleinen Schritten innerhalb der Grundmauern wieder einen Gedenkraum gestaltet.

Noch zwei Kilometer bis zur Oder, bis Groß Neuendorf – einem Ort, in dem wieder mehr als 350 Menschen wohnen, auch Zugezogene aus der Hauptstadt, die am Wochenende hier leben und in Berlin arbeiten. Sogar übernachten kann man in einer Ferienwohnung im alten Verladeturm und – sehr originell – in alten Zugwaggons, die einen freien Blick auf die Oder erlauben.

Am 26. April aber erlebe ich Groß Neuendorf ohne jede Gastlichkeit. Der Radlergarten samt Haus steht zum Verkauf, das Maschinenhaus sucht einen neuen Pächter, und auch das Landfrauencafé ist geschlossen. Möge die beginnende Saison reichlich Rad- und sonstige Touristen an die Oder locken, damit wieder Leben einkehrt und die Menschen lachen können. Landschaft und Leute haben es wahrlich verdient.

Auf meiner Suche nach heißem Kaffee werde ich auch in Kienitz und seinem Kirchen-Café nicht fündig. Es hat nur freitags bis sonntags geöffnet.

Also rolle ich um die nächste Dorfecke, am Panzer vorbei und dann südwärts. Und hier wartet dann eine echte Überraschung auf meinen nach Speis und Trank lechzenden Körper.

„Bitte sind Sie so nett und klingeln, ich bin in 1 Minute da – bis gleich, freue mich“

Ich klingele. Nach wenigen Augenblicken öffnet eine freundliche Frau die Türe und bittet mich herein. Auf einem Blech liegt ein frisch angeschnittener Apfelstreusel. In einer Kanne wartet heißer Kaffee. Als ich bezahle und die Gastfreundschaft mit drei Euro Trinkgeld belohne, werde ich meinerseits durch ein „da freu ick mir aber janz dolle“ wertgeschätzt.

Gut gelaunt biege ich wieder auf den Deichweg ein. Küstrin lasse ich heute „links liegen“, ich will schließlich mein Tagesziel, die Pontischen Hänge in Lebus, noch zeitig erreichen. Der Reitweiner Sporn, ein langgestreckter Hügel, erhebt sich aus der Bruchebene auf 80 Meter empor. Dann schließt sich das Lebuser Plateau südlich an. Die Adonishänge kommen näher. Der Radweg macht im unteren Teil von Lebus einen Bogen wieder auf die Hochfläche hinauf. Ich bleibe diesmal nahe an der Oder und folge einem Fußpfad und dem Hinweisschild zum Adonis.

Diesmal lachen die Röschen mich an, sie stehen in voller Blüte und leuchten in klarem Gelb. Harmlos sehen sie aus, sind aber überaus giftig und zum Verzehr nicht geeignet. Das wissen auch die Schafe und Ziegen, die hier weiden und die Hänge von Unkraut freihalten und eine Verbuschung verhindern. Sie knabbern alles weg, lassen aber die Adonis-Pflanzen stehen. Gut so.

20 Minuten verweile ich hier, sauge die Farben und die Düfte auf und genieße den Blick in die Oderauen. Dann stiefele ich den Feldweg durch das Buschwerk hoch, um wieder auf den Radweg zu gelangen. Von hier oben reicht der Blick bis hin zu den polnischen Oderhängen auf der Ostseite. Traumhaft.

Die Wildkirschen stehen in voller Blüte und leuchten in strahlendem Weiß. Ich muss mich geradezu losreißen von diesen An-und Ausblicken. Bis hinunter nach Frankfurt begleitet mich diese Frühlingsorgie noch. Da braucht es keine gemütsaufhellenden Drogen. Die Natur macht das alles noch besser und leistet einen wunderbaren Beitrag zur seelischen Gesundheit. Also, liebe Leser, macht euch auf an die Oder, es lohnt sich.

Nach 150 Kilometern in den Beinen und dem Kopf voller schöner Eindrücke steige ich in Frankfurt in den leeren RE und gleite entspannt gen Berlin.

Welche Träger, welche Taschen?

A never ending story! Auch nach mehr als 100000 Kilometern Touren mit mehr oder weniger Gepäck bin ich immer noch am Optimieren.

Dabei macht es natürlich einen Unterschied, ob ich eine lange, aber eher gemütliche Etappentour plane oder ob ich bei Paris-Brest-Paris unterwegs war. Es gibt immer eine besonders geeignete Konfiguration, die für das jeweilige Projekt gut passt. So war ich in den vergangenen Tagen auf der Suche nach meiner persönlichen Optimierung für eine Mehrtagestour im Frühling, bei der ich in Pensionen oder kleinen Hotels übernachten will und möglichst wenig mitschleppen möchte.

Beim jungen Randonneurkollegen Ole hatte ich den traumhaft leichten Träger samt Tasche von Tailfin gesehen. Top-Konstruktion, nur eben mit etwa 500 € auch leider ganz schön teuer. Also fing ich an, das Internet zu durchforsten nach ähnlichen Konstrukten.

Und stieß dabei auf das Blog von Torsten Frank, der so gründlich, so umfangreich, so detailliert getestet, verglichen, optimiert hat. Lange habe ich mich in seine Beiträge vertieft. Ja. Sehr lange! Weil er eben überaus genau vergleicht: Gewicht, Stabilität, Aerodynamik und und. Was soll ich sagen, so könnte ich das nicht. So habe ich die Möglichkeiten noch nie getestet.

Abschreiben wäre unfair. Also habe ich den Torsten gefragt, ob ich seine Seite mit der meinigen verlinken kann. Seine positive Antwort kam prompt.

Ganz herzlichen Dank dafür, Torsten. Mögen viele Langstreckler, Tourenradler, Randonneure den Nutzen haben, den auch ich sehe.

Hier der Link zum Blog

https://torstenfrank.wordpress.com/category/bikes-gear/

Also entweder hier klicken oder in meinem Seitenmenü wählen.

Viel Erkenntnisgewinn wünsche ich.

Berlin: Ansichten – Aussichten – Besonderes und Absonderliches

Die Sonne lacht endlich wieder, Ostern steht vor der Tür. Nach meinem letzten Ausflug zum Lieblingsstorch in Kraatz verspüre ich Lust auf Stadtluft. Das Taurine ist für ein solches Unterfangen ein ideales Gefährt. Wendig, mit dicken Reifen, die locker Randsteine und bröckeliges Pflaster überrollen. Ein Mountainbike für die City, den Großstadtdschungel eben.

Einfach losrollen, immer der Nase nach, grobe Richtung sonnenwärts, nach Süden. So durchkurve ich das Märkische Viertel, das mittlerweile in bunten Farben leuchtet. Die Menschen scheinen gut gelaunt, kein einziger raunzt mich an, als ich lange auf den Gehwegen rolle. Total untypisch für Berlin, geradezu befremdlich. Aus der Architektur der 70er bewege ich mich hinein in die „Weiße Stadt“, einer Siedlung der klassischen Moderne, Unesco Welterbe und in den späten 20er Jahren entstanden. Irgendwie mutet die Architektur hier viel langlebiger und schöner an als die neuen Betonklötze der sogenannten Europacity auf dem Gelände des ehemaligen Lehrter Bahnhofs. Südwärts rolle ich hinein in das nächste Kulturerbe, die Schiller-Siedlung, auch Englisches Viertel genannt. Bristol- , Edinburger- und Dubliner Straße umrahmen den riesigen Schillerpark, den ich mir genauer anschauen will. Eine Parkanlage mit einer Fläche von 29 ha. Und das mitten in einer Großstadt! Mehr als 29 Fußballfelder groß.

Friedrich Schiller und seine vier Musen ziehen mich in den Park hinein.

Schillerdenkmal im Schillerpark

Irgendwie kommt mir die Skulptur bekannt vor. Beim Sinnieren sehe ich den marmornen Schiller auf dem Gendarmenmarkt vor dem Konzerthaus vorm geistigen Auge. Es trügt mich nicht. Hier handelt es sich um einen bronzenen Abguss der Originalstatue. In der Parkanlage, die nach Plänen des Magdeburger Architekten Friedrich Bauer in den Jahren 1909 – 1913 entstand, war Schiller zunächst nur als namensgebender Geist vorhanden, erst im Jahre 1942, also mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde die riesige Bronzestatue hier aufgestellt. Das Gussmaterial stammt, wie ich nachlesen konnte, aus dem eingeschmolzenen Rathenaubrunnen. Im Jahr 1934, nachdem Walter Rathenau und sein jüdischer Vater Emil, AEG-Begründer, im Dritten Reich in Ungnade gefallen war, ließ man das moderne Bronzedenkmal im Volkspark Rehberge abreißen und kurzerhand einschmelzen. Hier die Geschichte dazu: https://weddingweiser.de/kuriose-geschichte-dreier-denkmaeler/

Die Story dazu würde allein locker für einen langen Beitrag ausreichen, nur treibt es mich an diesem Frühlings-Sonnentag weiter. Zunächst auf die andere Parkseite, von wo ich die gesamte Anlage samt „Bastion“ übersehen kann. Reichlich Platz zum Laufen, Spielen, Liegen… Getreu dem Motto des Architekten Bauer bei der Ausschreibung: „Freude schöner Götterfunken – zur körperlichen wie seelischen Erholung der Großstadtmenschen. Sport bei frischer Luft und im Licht der Sonne“.

Ich fahre weiter auf der Edinburger Straße und schaue leicht verwundert auf die leerstehenden Ex-Läden des „Schiller-Centers“. Riesige Front, viel Glas und nichts drin! Seit 2021 gibt es im Objekt des Immobilien-Investors Aroundtown keinen einzigen Mieter mehr. Wie wäre es mal mit einem großzügigen Zuschuss zur Neubelebung aus der leeren Kasse der großen Stadt!? War nicht ernst gemeint, es schüttelt mich nur innerlich durch beim Anblick von dergleichen Investitionsruinen.

Auf den nächsten Kilometern in Richtung Stadtmitte rolle ich am Virchow-Klinikum vorbei und dann heran an den Spandauer Schifffahrtskanal. Auf dem Radweg lässt es sich entspannt fahren. Am Nordhafen, wo eine neue Fußgängerbrücke auf die Seite der noch neueren „Europacity“ führt, wechsle ich die Kanalseite. Nicht, weil es hier so schön ist, nein, weil ich heute mal richtig rein will in den neuen Beton.

Auf den dicken Betonklötzen lese ich: “ Wann werdet ihr merken, dass man Beton nicht essen kann?“

Als ich ein paar Meter weiter nach rechts abbiege auf einen Fußweg, wird mir die Bedeutung schlagartig deutlich.

Bedrückende Realität: Obdachlosenzelte und Behausungen neben neuen Bürobauten beim Hauptbahnhof und hinter der sogenannten neu entstehenden Europacity, wo noch reichlich Wohnungen zum Kauf angeboten werden. 100 Quadratmeter für 750000 Euro. Geradezu ein Schnäppchenpreis für Mittellose.

Die Gegensätze können größer kaum sein: Eine Ecke weiter biege ich auf den Innenbereich des Geschichtsparks für das ehemaligen Zellengefängnis Moabit ein. Hierhin „verirrt“ sich kaum je ein Tourist. Auch ich bin heute hier das erste Mal seit 25 Jahren Berlin. Seit fast zwei Jahren hausen hier Menschen ohne festen Wohnsitz, ohne Arbeit, die meisten kommen wohl aus Rumänien. Aus einem EU-Land! Ist das nun besonders liberal und tolerant seitens des Bezirkes Mitte oder wird einfach hilf- und konzeptlos weggeschaut? Et läuft doch – irgendwie…

Im Innenbereich des Geschichtsparks Moabit ist nichts von dem Elend ein paar Meter weiter zu sehen und zu hören. Überhaupt scheint sich kaum jemand in das Innengelände zu verlaufen. Es gibt auch leider kaum Schilder und Hinweise. Die Eingangstore sind optisch durch Wände abgedeckt und schlecht erkennbar. So laufen denn die Menschen hier einfach vorbei. Nicht wissend, dass hinter den alten Gefängnismauern schon als 17-Jähriger der Schuster Wilhelm Voigt, später bekannt als „Der Hauptmann von Köpenick“, hier drei Jahre Haft absaß. Die Schriftsteller Wolfgang Borchert und Ernst Busch waren hier als „Wehrkraftzersetzer“ in den letzten Kriegsjahren weggesperrt. Nur 35 von 306 registrierten Gefangenen überlebten die NS-Herrschaft.

„Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt, ist unter Mauerwerk und Eisengittern ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern“ Dieses Zitat aus einem Gedicht von Albrecht Haushofer, einem Schriftsteller, der im April 1945 hier hingerichtet wurde, ist auf der ehemaligen Gefängnismauer in großen Lettern eindrücklich und nachdenklich stimmend zu lesen.

Ganz nah von hier pulst das Bahnhofsleben. Viele Menschen sind unterwegs – gerade in Berlin angekommen oder auf dem Weg in den Osterurlaub. Berlin wirkt südlich des Hauptbahnhofs modern, wach und attraktiv. Gegensätze. Berlin eben!

Das Cube-Bürohaus mit seinen abgeschrägten Glasflächen wetteifert mit den Laternenskulpturen auf der Moltkebrücke. Die gut gelaunten, flanierenden Menschen wissen nichts vom Elend der Obdachlosen hinterm Bahnhof. Mich bringen sie und der Anblick vom „neuen Berlin“ auf positive Gedanken. Reichstag und Kanzleramt strahlen im Sonnenlicht. Geradezu unschuldig.

Die Politiker und Entscheider sind ausgeflogen in Osterurlaub oder auf Dienstreise.

Weiter kurbele ich auf der Spur der Mauer, auf dem Mauerweg.

Mittendurch und dann nach Süden, Park Gleisdreieck: Wuselnde, Laufende, Spazierende, Spielende, Schauende, Trinkende … hier ist was los!

Neue Kunst, alte Kunst, Wandkunst, Skulpturen … reichlich Nahrung für alte und junge Augen und Köpfe. Man muss nur hinschauen. Friedrich der Große ließ für seine Generäle der Schlesischen Kriege Denkmäler errichten. Der Graf von Schwerin schwenkt seine Fahne dekorativ vor der Landesvertretung Thüringens am Zietenplatz. Die europäische, deutsche und die Thüringer Flagge flattern dekorativ im Gleichklang.

Auf den nächsten Kilometern in Richtung Südwest wird die Stadt ruhiger, fast beschaulich. An der Domäne Dahlem vorbei, zur Linken die Freie Universität, vor mir schon der Grunewald. Das Berlin der Vornehmen, der Wohlhabenden, der Alt- und der Neureichen. Dazwischen Botschaftsgebäude mit Polizeibewachung, neu gekaufter Protz und auch geerbter Wohlstand. Alles nebeneinander.

In der ehemaligen Villa Walther residiert jetzt die Botschaft des Kosovo. „Eklektizismus“ wird die Architekturrichtung genannt, bei der sich verschiedene Stile mischen, Hauptsache pompös und eindrucksvoll. Der Baurat, der sich mit der riesigen Villa finanziell in den Ruin stürzte, hat sich angeblich 1907 im Turmzimmer aus Kummer erhängt. So weit die Geschichte, auf die sicher reichlich andere in den Folgejahren folgten.

Alfred Kerr, der große Kritiker, hat über 20 Jahre in der Villenkolonie gelebt und manche der Abendgesellschaften beschrieben, an denen er teilgenommen hatte. Mit der ihm eigenen Boshaftigkeit hat er die Grunewalder charakterisiert: “Die Mehrzahl der Bewohner des Grunewaldes waren einfach schwere Kapitalisten. Gepflegte Bauern im Millionärskaff.”

Wer mehr über die Villenkolonie im Grunewald erfahren will, der lese hier nach: https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/artikel.181129.php

Am Halensee mache ich einen Bogen nach Norden und halte zielsicher auf den Funkturm an der Messe und das ICC zu. „Internationales Congress Centrum“ – Welch ein Name, was für ein Koloss von Bauwerk. Im Jahr 1979 eingeweiht und 2014 geschlossen. Das war es! Im „zarten Gebäudealter“ von 35 Jahren in den Ruhestand geschickt, seitdem steht es nur noch da. Verwittert, vergammelt, kostet Unsummen pro Jahr nur für die Erhaltung von Lüftung, Strom-und Wasserleitungen und dafür, dass es nicht durch das Dach regnet. Bauherr und auch heute noch Eigentümer: die Stadt Berlin.

2019 schließlich unter Denkmalschutz gestellt und vor dem Abriss bewahrt. Stillstand, keine Sanierung der Asbestbelastung, kein Konzept für eine zukünftige Nutzung. EIN SKANDAL! Nur es kümmert kaum jemanden hier. Dit is Berlin!

Ich rolle an der Längsseite entlang, ganze 300 Meter Beton und Alu. Zukunftsarchitektur wurde das noch 1979 genannt. Ohne Zukunft! Als ich mein Taurine Carbon MTB am ICC vorbeischiebe, denke ich an die Zeit, als ich das Bauwerk vital erlebt habe, mit vielen Menschen drin, mit großen Veranstaltungen und 5000 Besuchern in einem Saal. Am 16. Februar durfte ich als Mitorganisator der Mercedes-SL-Markteinführung die begeisterten Teilnehmer erleben. Begeistert von der Architektur und begeistert vom neuen Roadster. Schön war das. Und dann noch einmal 22 Jahre später, im Juni 2001, spielte Mark Knopfler im zarten Alter von 51 virtuos und stimmungsvoll mit seiner Band. Ein starkes Erlebnis. Wieder 5000 Zuschauer. Dann, im Jahr 2014, war die Daimler-Hauptversammlung die letzte große Veranstaltung, bevor der Riese in den Dauerschlaf geschickt wurde – aus dem er bekanntlich bis heute nicht geweckt worden ist

Nachdenklich, auch zornig über die unfähigen Politiker und Entscheider, setze ich mich wieder auf mein Taurine und fahre gen Norden. Nächste Station: Ex-Flughafen Tegel. Ich erinnere mich an einen Urlaubsflug nach Irland im Jahre 2012, nach dem wir dann nur eine Woche später, nach dem geplanten Schnellumzug des Flughafenbetriebs zum Willy-Brandt-Flughafen, voller Neugier auf die neuen Prachtterminals landen sollten. Es kam aber bekanntlich anders. Lächerliche neun Jahre später ging der BER dann wirklich in Betrieb.

Auf meiner Rückfahrt heimwärts arbeite ich mich am Rand des alten Flughafens Tegel am Begrenzungszaun entlang. „Militärischer Sicherheitsbereich“ ist alle paar Meter zu lesen. Der Zaun wittert vor sich hin, auf dem weiten Feld bewegt sich nichts. Füchse, Wanderfalken und Bussarde sind die neuen Bewohner des Geländes.

Die Anflugbefeuerung wird von der tief stehenden Sonne zum Leuchten gebracht. Fast ist mir, als hörte ich eine Boeing 737 anfliegen. Eine Illusion! Ich lese später, dass auf dem Riesengelände bald die Urban Tech Republic entstehen soll mit 20000 Beschäftigten und 2500 Studierenden, daneben das Schumacher-Viertel mit Wohnungen für 5000 Menschen. Aber halt: Das Projekt ist noch in der Vorplanung. Und das dauert bekanntlich in Berlin gaaanz lange. So ist auch die Vorfreude länger, schmunzle ich in mich hinein.

Nach meiner 75-Kilometer-Runde durch die Stadt ist wieder einmal deutlich: Berlin ist einfach alles: besonders, absonderlich, schön, modern, altmodisch, bürokratenhaft langsam, Startup-ultraschnell, nie langweilig.

Immer für neue Entdeckungstouren gut.