Berlin: Ansichten – Aussichten – Besonderes und Absonderliches

Die Sonne lacht endlich wieder, Ostern steht vor der Tür. Nach meinem letzten Ausflug zum Lieblingsstorch in Kraatz verspüre ich Lust auf Stadtluft. Das Taurine ist für ein solches Unterfangen ein ideales Gefährt. Wendig, mit dicken Reifen, die locker Randsteine und bröckeliges Pflaster überrollen. Ein Mountainbike für die City, den Großstadtdschungel eben.

Einfach losrollen, immer der Nase nach, grobe Richtung sonnenwärts, nach Süden. So durchkurve ich das Märkische Viertel, das mittlerweile in bunten Farben leuchtet. Die Menschen scheinen gut gelaunt, kein einziger raunzt mich an, als ich lange auf den Gehwegen rolle. Total untypisch für Berlin, geradezu befremdlich. Aus der Architektur der 70er bewege ich mich hinein in die „Weiße Stadt“, einer Siedlung der klassischen Moderne, Unesco Welterbe und in den späten 20er Jahren entstanden. Irgendwie mutet die Architektur hier viel langlebiger und schöner an als die neuen Betonklötze der sogenannten Europacity auf dem Gelände des ehemaligen Lehrter Bahnhofs. Südwärts rolle ich hinein in das nächste Kulturerbe, die Schiller-Siedlung, auch Englisches Viertel genannt. Bristol- , Edinburger- und Dubliner Straße umrahmen den riesigen Schillerpark, den ich mir genauer anschauen will. Eine Parkanlage mit einer Fläche von 29 ha. Und das mitten in einer Großstadt! Mehr als 29 Fußballfelder groß.

Friedrich Schiller und seine vier Musen ziehen mich in den Park hinein.

Schillerdenkmal im Schillerpark

Irgendwie kommt mir die Skulptur bekannt vor. Beim Sinnieren sehe ich den marmornen Schiller auf dem Gendarmenmarkt vor dem Konzerthaus vorm geistigen Auge. Es trügt mich nicht. Hier handelt es sich um einen bronzenen Abguss der Originalstatue. In der Parkanlage, die nach Plänen des Magdeburger Architekten Friedrich Bauer in den Jahren 1909 – 1913 entstand, war Schiller zunächst nur als namensgebender Geist vorhanden, erst im Jahre 1942, also mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde die riesige Bronzestatue hier aufgestellt. Das Gussmaterial stammt, wie ich nachlesen konnte, aus dem eingeschmolzenen Rathenaubrunnen. Im Jahr 1934, nachdem Walter Rathenau und sein jüdischer Vater Emil, AEG-Begründer, im Dritten Reich in Ungnade gefallen war, ließ man das moderne Bronzedenkmal im Volkspark Rehberge abreißen und kurzerhand einschmelzen. Hier die Geschichte dazu: https://weddingweiser.de/kuriose-geschichte-dreier-denkmaeler/

Die Story dazu würde allein locker für einen langen Beitrag ausreichen, nur treibt es mich an diesem Frühlings-Sonnentag weiter. Zunächst auf die andere Parkseite, von wo ich die gesamte Anlage samt „Bastion“ übersehen kann. Reichlich Platz zum Laufen, Spielen, Liegen… Getreu dem Motto des Architekten Bauer bei der Ausschreibung: „Freude schöner Götterfunken – zur körperlichen wie seelischen Erholung der Großstadtmenschen. Sport bei frischer Luft und im Licht der Sonne“.

Ich fahre weiter auf der Edinburger Straße und schaue leicht verwundert auf die leerstehenden Ex-Läden des „Schiller-Centers“. Riesige Front, viel Glas und nichts drin! Seit 2021 gibt es im Objekt des Immobilien-Investors Aroundtown keinen einzigen Mieter mehr. Wie wäre es mal mit einem großzügigen Zuschuss zur Neubelebung aus der leeren Kasse der großen Stadt!? War nicht ernst gemeint, es schüttelt mich nur innerlich durch beim Anblick von dergleichen Investitionsruinen.

Auf den nächsten Kilometern in Richtung Stadtmitte rolle ich am Virchow-Klinikum vorbei und dann heran an den Spandauer Schifffahrtskanal. Auf dem Radweg lässt es sich entspannt fahren. Am Nordhafen, wo eine neue Fußgängerbrücke auf die Seite der noch neueren „Europacity“ führt, wechsle ich die Kanalseite. Nicht, weil es hier so schön ist, nein, weil ich heute mal richtig rein will in den neuen Beton.

Auf den dicken Betonklötzen lese ich: “ Wann werdet ihr merken, dass man Beton nicht essen kann?“

Als ich ein paar Meter weiter nach rechts abbiege auf einen Fußweg, wird mir die Bedeutung schlagartig deutlich.

Bedrückende Realität: Obdachlosenzelte und Behausungen neben neuen Bürobauten beim Hauptbahnhof und hinter der sogenannten neu entstehenden Europacity, wo noch reichlich Wohnungen zum Kauf angeboten werden. 100 Quadratmeter für 750000 Euro. Geradezu ein Schnäppchenpreis für Mittellose.

Die Gegensätze können größer kaum sein: Eine Ecke weiter biege ich auf den Innenbereich des Geschichtsparks für das ehemaligen Zellengefängnis Moabit ein. Hierhin „verirrt“ sich kaum je ein Tourist. Auch ich bin heute hier das erste Mal seit 25 Jahren Berlin. Seit fast zwei Jahren hausen hier Menschen ohne festen Wohnsitz, ohne Arbeit, die meisten kommen wohl aus Rumänien. Aus einem EU-Land! Ist das nun besonders liberal und tolerant seitens des Bezirkes Mitte oder wird einfach hilf- und konzeptlos weggeschaut? Et läuft doch – irgendwie…

Im Innenbereich des Geschichtsparks Moabit ist nichts von dem Elend ein paar Meter weiter zu sehen und zu hören. Überhaupt scheint sich kaum jemand in das Innengelände zu verlaufen. Es gibt auch leider kaum Schilder und Hinweise. Die Eingangstore sind optisch durch Wände abgedeckt und schlecht erkennbar. So laufen denn die Menschen hier einfach vorbei. Nicht wissend, dass hinter den alten Gefängnismauern schon als 17-Jähriger der Schuster Wilhelm Voigt, später bekannt als „Der Hauptmann von Köpenick“, hier drei Jahre Haft absaß. Die Schriftsteller Wolfgang Borchert und Ernst Busch waren hier als „Wehrkraftzersetzer“ in den letzten Kriegsjahren weggesperrt. Nur 35 von 306 registrierten Gefangenen überlebten die NS-Herrschaft.

„Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt, ist unter Mauerwerk und Eisengittern ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern“ Dieses Zitat aus einem Gedicht von Albrecht Haushofer, einem Schriftsteller, der im April 1945 hier hingerichtet wurde, ist auf der ehemaligen Gefängnismauer in großen Lettern eindrücklich und nachdenklich stimmend zu lesen.

Ganz nah von hier pulst das Bahnhofsleben. Viele Menschen sind unterwegs – gerade in Berlin angekommen oder auf dem Weg in den Osterurlaub. Berlin wirkt südlich des Hauptbahnhofs modern, wach und attraktiv. Gegensätze. Berlin eben!

Das Cube-Bürohaus mit seinen abgeschrägten Glasflächen wetteifert mit den Laternenskulpturen auf der Moltkebrücke. Die gut gelaunten, flanierenden Menschen wissen nichts vom Elend der Obdachlosen hinterm Bahnhof. Mich bringen sie und der Anblick vom „neuen Berlin“ auf positive Gedanken. Reichstag und Kanzleramt strahlen im Sonnenlicht. Geradezu unschuldig.

Die Politiker und Entscheider sind ausgeflogen in Osterurlaub oder auf Dienstreise.

Weiter kurbele ich auf der Spur der Mauer, auf dem Mauerweg.

Mittendurch und dann nach Süden, Park Gleisdreieck: Wuselnde, Laufende, Spazierende, Spielende, Schauende, Trinkende … hier ist was los!

Neue Kunst, alte Kunst, Wandkunst, Skulpturen … reichlich Nahrung für alte und junge Augen und Köpfe. Man muss nur hinschauen. Friedrich der Große ließ für seine Generäle der Schlesischen Kriege Denkmäler errichten. Der Graf von Schwerin schwenkt seine Fahne dekorativ vor der Landesvertretung Thüringens am Zietenplatz. Die europäische, deutsche und die Thüringer Flagge flattern dekorativ im Gleichklang.

Auf den nächsten Kilometern in Richtung Südwest wird die Stadt ruhiger, fast beschaulich. An der Domäne Dahlem vorbei, zur Linken die Freie Universität, vor mir schon der Grunewald. Das Berlin der Vornehmen, der Wohlhabenden, der Alt- und der Neureichen. Dazwischen Botschaftsgebäude mit Polizeibewachung, neu gekaufter Protz und auch geerbter Wohlstand. Alles nebeneinander.

In der ehemaligen Villa Walther residiert jetzt die Botschaft des Kosovo. „Eklektizismus“ wird die Architekturrichtung genannt, bei der sich verschiedene Stile mischen, Hauptsache pompös und eindrucksvoll. Der Baurat, der sich mit der riesigen Villa finanziell in den Ruin stürzte, hat sich angeblich 1907 im Turmzimmer aus Kummer erhängt. So weit die Geschichte, auf die sicher reichlich andere in den Folgejahren folgten.

Alfred Kerr, der große Kritiker, hat über 20 Jahre in der Villenkolonie gelebt und manche der Abendgesellschaften beschrieben, an denen er teilgenommen hatte. Mit der ihm eigenen Boshaftigkeit hat er die Grunewalder charakterisiert: “Die Mehrzahl der Bewohner des Grunewaldes waren einfach schwere Kapitalisten. Gepflegte Bauern im Millionärskaff.”

Wer mehr über die Villenkolonie im Grunewald erfahren will, der lese hier nach: https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/artikel.181129.php

Am Halensee mache ich einen Bogen nach Norden und halte zielsicher auf den Funkturm an der Messe und das ICC zu. „Internationales Congress Centrum“ – Welch ein Name, was für ein Koloss von Bauwerk. Im Jahr 1979 eingeweiht und 2014 geschlossen. Das war es! Im „zarten Gebäudealter“ von 35 Jahren in den Ruhestand geschickt, seitdem steht es nur noch da. Verwittert, vergammelt, kostet Unsummen pro Jahr nur für die Erhaltung von Lüftung, Strom-und Wasserleitungen und dafür, dass es nicht durch das Dach regnet. Bauherr und auch heute noch Eigentümer: die Stadt Berlin.

2019 schließlich unter Denkmalschutz gestellt und vor dem Abriss bewahrt. Stillstand, keine Sanierung der Asbestbelastung, kein Konzept für eine zukünftige Nutzung. EIN SKANDAL! Nur es kümmert kaum jemanden hier. Dit is Berlin!

Ich rolle an der Längsseite entlang, ganze 300 Meter Beton und Alu. Zukunftsarchitektur wurde das noch 1979 genannt. Ohne Zukunft! Als ich mein Taurine Carbon MTB am ICC vorbeischiebe, denke ich an die Zeit, als ich das Bauwerk vital erlebt habe, mit vielen Menschen drin, mit großen Veranstaltungen und 5000 Besuchern in einem Saal. Am 16. Februar durfte ich als Mitorganisator der Mercedes-SL-Markteinführung die begeisterten Teilnehmer erleben. Begeistert von der Architektur und begeistert vom neuen Roadster. Schön war das. Und dann noch einmal 22 Jahre später, im Juni 2001, spielte Mark Knopfler im zarten Alter von 51 virtuos und stimmungsvoll mit seiner Band. Ein starkes Erlebnis. Wieder 5000 Zuschauer. Dann, im Jahr 2014, war die Daimler-Hauptversammlung die letzte große Veranstaltung, bevor der Riese in den Dauerschlaf geschickt wurde – aus dem er bekanntlich bis heute nicht geweckt worden ist

Nachdenklich, auch zornig über die unfähigen Politiker und Entscheider, setze ich mich wieder auf mein Taurine und fahre gen Norden. Nächste Station: Ex-Flughafen Tegel. Ich erinnere mich an einen Urlaubsflug nach Irland im Jahre 2012, nach dem wir dann nur eine Woche später, nach dem geplanten Schnellumzug des Flughafenbetriebs zum Willy-Brandt-Flughafen, voller Neugier auf die neuen Prachtterminals landen sollten. Es kam aber bekanntlich anders. Lächerliche neun Jahre später ging der BER dann wirklich in Betrieb.

Auf meiner Rückfahrt heimwärts arbeite ich mich am Rand des alten Flughafens Tegel am Begrenzungszaun entlang. „Militärischer Sicherheitsbereich“ ist alle paar Meter zu lesen. Der Zaun wittert vor sich hin, auf dem weiten Feld bewegt sich nichts. Füchse, Wanderfalken und Bussarde sind die neuen Bewohner des Geländes.

Die Anflugbefeuerung wird von der tief stehenden Sonne zum Leuchten gebracht. Fast ist mir, als hörte ich eine Boeing 737 anfliegen. Eine Illusion! Ich lese später, dass auf dem Riesengelände bald die Urban Tech Republic entstehen soll mit 20000 Beschäftigten und 2500 Studierenden, daneben das Schumacher-Viertel mit Wohnungen für 5000 Menschen. Aber halt: Das Projekt ist noch in der Vorplanung. Und das dauert bekanntlich in Berlin gaaanz lange. So ist auch die Vorfreude länger, schmunzle ich in mich hinein.

Nach meiner 75-Kilometer-Runde durch die Stadt ist wieder einmal deutlich: Berlin ist einfach alles: besonders, absonderlich, schön, modern, altmodisch, bürokratenhaft langsam, Startup-ultraschnell, nie langweilig.

Immer für neue Entdeckungstouren gut.

3 Antworten auf “Berlin: Ansichten – Aussichten – Besonderes und Absonderliches”

  1. Hallo Dietmar!
    Ich melde mich, wenn ich die Startzeit mitgeteilt bekomme. Würde mich freuen, wenn wir uns sehen!
    Liebe Grüsse, Rudi

  2. hallo Rudi, das ist eine sehr schöne Veranstaltung. Und die Strecke verläuft genau in meinem Lieblingsgebiet Barnim- Oder-Oderbruch. Du wirst sehen, es lohnt sich. Ich habe nicht gefunden, wann am 26.5. es losgeht. Da würde ich gerne bis zur Oder hin dabeisein. Die Strecke bin ich schon zig Male gefahren. Komm gut nach Berlin. Vielleicht sehen wir uns ja. beste grüße Dietmar

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