Oder-Neiße-Elbe, Teil 1

Wo liegt eigentlich Aurith?

Als ich nach dem Wanderurlaub im Chiemgau nach meinen Rädern im Keller schaue, blickt mich besonders das Granfondo vorwurfsvoll und auch ein wenig traurig an. Warum hast du mich so vernachlässigt, warum muss ich nutzlos am Haken hängen? Wann geht es endlich wieder los auf Strecke? Ich lege beruhigend und besänftigend meine Hand auf und beschließe, diesem unhaltbaren Zustand möglichst schnell ein Ende zu machen.

Wann soll es losgehen und wohin? Warme, um nicht zu sagen, heiße Tage sind vorausgesagt. Auf viele Höhenmeter und die damit verbundene Qual habe ich keine Lust. Aber hinein ins Oderbruch, dann nach Süden an der Neiße entlang bis nach Zittau und rüber zur Elbe, das wäre doch was! Mein Titanrad will geradezu vom Montageständer springen, als es meine Gedanken spürt. An dem kommenden Montag sind noch ein paar Regenschauer zu erwarten, dann sehe ich auf wetteronline vier Sonnentage mit um die 30 Grad Maximaltemperatur. Frischer Wind aus Nordwest am Dienstag, ideal für den Start hinein ins Oderbruch. Fix stelle ich mit basecamp einen provisorischen Track zusammen. Pro Tag etwa 150 Kilometer, das sollte zu schaffen sein. Mit genügend verbleibender Zeit für Kultur und Natur und Nahrungsaufnahme.

Jetzt bekommt mein Granfondo noch einen gründlichen Check: Ich montiere das Ritzelpaket 12-28 für zu erwartende kurze, knackige Anstiege; zur Sicherheit und für den geschmeidigen Lauf wird die Kette geölt und wieder sorgfältig abgewischt, Schaltung und Züge überprüft. Die Ortlieb-Gravelpacks und die Rahmentasche sollten für alles Notwendige Platz bieten. Nach den Erfahrungen des Vorjahres mit drei Plattfüßen hintereinander kommen für mein gutes Gefühl gleich drei Ersatzschläuche mit. Das Gesamtpaket Rad und Pack wiegt so immer noch unter 16 Kilogramm.

Am Dienstagvormittag geht es bei herrlich blauem Himmel los. Mein Granfondo lehnt samt Gepäck nach den ersten 40 Kilometern um 10.40 Uhr an der Kircheneiche von Grüntal. Der monumentale Baum und mein Lieblings-Reiserad kennen sich seit Jahren und zahlreichen Begegnungen sehr gut.

Kircheneiche in Grüntal/ Barnim

Es rollt gut , die Luft ist gut, der Barnim leuchtet in Sommerfarben. Hinunter nach Falkenberg zeigt sich bei 50 km/h mein Titangerät äußerst fahrstabil. In der Altstadt von Bad Freienwalde staune ich über die Inschrift “ Kaffeerösterei mit Kraftbetrieb“. Offensichtlich ist hier mit „Kraftbetrieb“ der Fortschritt ( elektrisch) gegenüber dem Handbetrieb gemeint. Das waren Zeiten.

Den Freienwaldern muss man heute zugute halten, dass sie ihre Stadt in einen sehr ansehnlichen Zustand versetzt haben in den vergangenen 30 Jahren. Mit nur wenigen Ausnahmen, die ich wieder einmal vor die Linse nehme.

Heute wähle ich nicht den Bahnradweg von Wriezen hinüber zur Oder, sondern kurve im Zickzack durch die Dörfer – einfach der Nase nach. In Beauregard lasse ich mich vom Ortsschild verleiten und finde mich auf einer Pflaster-Rumpelstraße wieder. Das Schönste an der Ansiedlung aus Kolonistenzeiten ist der Ortsname. Ansonsten entdecke ich nichts, was meinen Augen gut tut. Der Duft der umliegenden Hähnchen- und Schweinemastbetriebe treibt mich aus dem Ortsgebiet hinaus nach Osten.

Beauregard – schöner Blick. Da hat der Ort mit dem gleichnamigen Château am Genfer See, dessen Namen die Kolonisten um 1750 mitgebracht hatten , mehr Attraktives zu bieten.

Der blaue Oderbruchhimmel ist mit Cumuluswolken betupft. Das Wasser der Oder schimmert eher blauschwarz. Die erste Heuernte ist eingefahren, braun-beige liegen die Wiesen da. Einzelne Störche staksen auf der Futtersuche bedächtig umher. Rinderherden weiden diesseits und jenseits der Ufer. Wie schön, dass lange nicht alle dieser wunderbaren Tiere in riesigen Milchviehanlagen ihr trauriges Leben fristen müssen.

Bald erreiche ich Küstrin-Kiez. Vor mir erhebt sich der Reitweiner Sporn, bei Lebus rücken die Abbruchhänge nah heran an die Oder. Vor ein paar Wochen habe ich hier die letzten Adonisröschen bewundern können. Auf den Kilometern bis Frankfurt haben die Radwegebauer einige fiese Steigungen eingebaut. Wenige Höhenmeter, die aber auch in die Waden zwacken. In Frankfurt habe ich 160 Kilometer hinter mir, eigentlich ist es Zeit, eine Pension zu suchen und zu finden. Ich kurve an der Alten Oder entlang, bin flugs schon am Südrand der Stadt und wieder „in freier Wildbahn“. Kein Hotel will mir gefallen, auf Ziegenwerder sauge ich den letzten Schluck aus der Trinkflasche und lehne das Granfondo an eine knieende Frau an. Künstler unbekannt.

Ein paar Minuten später staune ich über ein verwahrlostes Gebäude – die ehemalige Stadthalle. Investor gesucht!

In Frankfurt sind erfreulicherweise viele sorgfältig restaurierte Schmuckstücke zu bewundern, mein Blick wird aber immer wieder von solchen „lost places“ gefangen. Mittlerweile ist es halb sechs geworden, ich habe bis auf einen Eiweißriegel und eine Banane noch nichts gegessen. Mit der Perspektive, in der nächsten Stunde ein lauschiges Hotel zu finden und dann ein leckeres Mahl zu mir nehmen, trete ich weiter in die Pedale. Ich träume vor mich hin und finde mich unversehens in einer Schleife nach Westen am Helenesee wieder. Kleine Ostsee wird der ehemalige Tagebau vollmundig genannt. Tagungszentrum, Campingplatz, Hostel, Pension. Aber: Rezeption geschlossen, Strand gesperrt. Eine „Maßnahme zur Abwehr von Gefahren früherer bergbaulicher Tätigkeit“ sorgt für Stillstand. Also rolle ich weiter durch den Wald.

Still ruht der See.

In Schlaubehammer tauche ich aus dem Wald auf und sehe wieder Zivilisation. Der Radweg an der Schlaube ist romantisch und verläuft in langen Bögen bis nach Weissenberg. Kein Hotel in Sicht, also befrage ich Google nach Unterkünften. In Aurith an der Oder werde ich fündig: Der Radlerhof ist Campingplatz, Imbiss, Pension und und. So die Beschreibung. Ich rufe an – der Chef wird sich auf den Weg machen und ein Zimmer richten. Ich muss also nicht am Oderstrand unter freiem Himmel nächtigen. Schöne Aussichten. 45 Minuten Kurbeln werden mir noch abverlangt, bevor ich Aurith erreiche. Der Radlerhof ist wirklich besonders: eine Mixtur von Imbissbude und vorgebautem Dach. Nebendran in einem renovierten, kleinen Haus ein paar Zimmer. Ich gönne mir an der Theke ein alkoholfreies Weizen zur Bekämpfung der beginnenden Dehydrierung. Es wirkt. Die Lebensgeister kommen wieder. Der Chef kommt auch und führt mich zum Abstellraum für mein Granfondo. Direkt neben der Tiefkühltruhe darf es sicher übernachten.Ein Dreibettzimmer steht mir zur Alleinnutzung mit Dusche und Toilette „überm Gang“zur Verfügung. Schnell ziehe ich mich um und bin fünf Minuten später wieder an der Imbisstheke. Jetzt bestelle ich ein Helles . Zwei Radler, die schwer bepackt auf dem Weg nach Norden sind, machen gerade eine Pause und berichten über ihre Pläne. Irgendwie ungläubig nehmen sie zur Kenntnis, dass ich heute knapp 200 Kilometer gefahren bin. Wir reden über Radfahren, Räder, Gott und die Welt. Als ich etwas zu essen bestellen will, beichtet der Chef, dass keine Speisen mehr verfügbar sind. KEINE! Also noch ein Bier und noch eins zum Mitnehmen aufs Zimmer. Um 21.30 Uhr liege ich flach. Hungrig, aber doch recht zufrieden mit dem Tag. Durst ist eben viel schlimmer als Hunger. Und Durst muss ich dank Neuzeller Klosterbräu nicht mehr leiden.

Mein Schlaf ist tief, und guter Laune sitze ich am nächsten Morgen um acht Uhr bei herrlichem Wetter erwartungsvoll am Plastetisch unterm Wellblechdach. Wie mag das Frühstücksgefühl hier bei 12 Grad, Wind und Regen sein? So what, denke ich, heute lacht aber die Sonne, und der Chef bringt gut gelaunt Kaffee, Brötchen, Wurst und Käse. Eine halbe Stunde später rolle ich schon südwärts auf dem Oderradweg gen Eisenhüttenstadt. Davon mehr im Bericht zur zweiten Etappe.

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