Diesmal steht der „Höhepunkt“ der Brevet-Saison auf dem Programm: rauf auf den Brocken mit langem Anlauf. Rauf auf den höchsten Berg Norddeutschlands. Rauf auf 1142 Meter überm Meer.
„Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine“, so hat sich angeblich schon Heinrich Heine im Jahr 1824 im Gipfelbuch verewigt.
Zurück zum Start: Berlin zeigt sich an diesem Samstagmorgen von seiner freundlichen Seite. Milde 10 Grad zeigt mein Außenthermometer zu Hause um 5 Uhr, sanfter Nordostwind ist angekündigt. Niederschlag ist keiner zu erwarten. So packe ich eher dünne Sachen ein, trotzdem aber auch eine Regenjacke und Regenüberschuhe. Der Brocken ist immer für eine Überraschung gut!
Im Amstelhouse schreiben sich um die 40 bis 45 Starter in die Liste ein. Distanz und Streckenprofil haben für eine gewisse Selektion gesorgt.
625 Kilometer und ca. 4800 Höhenmeter sorgen für Respekt. Ralf ( 1001 Miglia Finisher), freut sich wahrscheinlich schon wie Bolle auf die ersten Anstiege.
Um kurz vor sieben machen sich die ersten auf die Strecke. Matthias, Peter und ich starten in der zweiten Gruppe zehn Minuten später.
Rainer gibt besonders im Gegenlicht der frühen Sonne ein wunderbares Fotomotiv ab. Die ersten fahren schon in „kurz-kurz“ ab. Mir ist es noch zu kalt – die Bein- und Armlinge bleiben erstmal dran. Entblättern kann ich mich noch früh genug bei der ersten Kontrolle in Beelitz.
Durchtrainierte Körper, definierte Waden – Der Kollege mit dem Regione-Piemonte-Fausto Coppi-Trikot hat augenscheinlich einen exzellenten Trainingszustand.
Um 8.53 Uhr erreichen wir Beelitz: Erster Stempel heute. Kein Kaffee, kein Brötchen, weiterfahren! Nur Peter verkündet, dass er umkehren will. Sein geliebtes iPhone will und will keine Netzverbindung aufbauen, und er hat wohl das mögliche Szenario einer Panne nachts mitten im Harz, allein auf weiter Flur, im Kopf. Ohne Telefon. Wir können ihn nicht überreden, weiterzufahren.
Auf den nächsten 80 Kilometern bis nach Zerbst bleibe ich eine Weile bei den Schnellen, lasse aber dann doch abreißen. Ich will und ich darf nicht meine Kräfte schon vorm Harz verpulvern. In Zerbst fülle ich meine Trinkflaschen auf – ich habe brav bis hierher 1,5 Liter Traubenschorle in den Körper geschüttet. Und ein Salamibaguette lacht mich an. Da muss ich gar nicht meine Vorräte angreifen. Lange Kilometer bin ich allein auf weiter Flur. Bin ich bei einem Brevet unterwegs?? Dann kommt die Elbfähre in Tochheim in Sicht. Schlechtes Timing: Die schnelle Gruppe hat soeben abgelegt und grüßt über die Elbe herzlich ( natürlich kein bisschen schadenfroh) zurück. So komme ich zu einer wohlverdienten Pause, reiße ein Snickers auf und vertilge es genüsslich. Matthias und ein weiterer Randonneur rollen heran.
Auf der Fähre sind wir dann zu dritt und wieder ein kleines Team. Zig Kilometer bin ich schon hinter, neben und selten auch vor Matthias mit seinem schnellen Troytec-Lieger gefahren.
Ein paar Kilometer weiter stehen wir unvermittelt in einer Baustelle.
Wo bisher eine Brücke stand, klafft jetzt ein Wassergraben mit herausstehenden Brückenstümpfen. Unser Begleiter meint trocken: Nimm dir ein Brett und schwimm rüber! Wir entscheiden uns für den Rückzug aufs Trockene und fluchen über den Zwangsumweg.
Bei der Suche der kürzesten Strecke hin zum Ursprungstrack lotse ich Matthias über einige Kilometer Plattenweg mittlerer Qualität. Als wir wieder „auf der Spur“ sind, dann die nächste Überraschung: Die Straße nach Calbe ist auch gesperrt. Weil wir nicht nochmal vorm Wasser stehen wollen, entscheiden wir uns, über Nienburg nach Staßfurt zu fahren, und werden dafür mit einer knackigen Baustellen-Pflasterpassage belohnt. Macht nichts, das härtet nur ab. Auf der Suche nach einem „Pausen-Café“ fahren wir und fahren wir und fahren wir. In Quedlinburg gönnen wir uns leicht gefrustet von der Anhaltinischen Servicewüste in einer Tanke Kaffee und Brötchen. Obwohl, das muss gesagt werden, die Altstadt von Quedlinburg überaus sehenswert und gastlich ist. Davon konnte ich mich in einem Kurzurlaub im Jahr zuvor überzeugen. Heute haben wir es eilig und lassen das historische Kleinod links ( eigentlich doch rechts) liegen. Der nächste Kontrollpunkt ist Blankenburg am Fuße des Harzes. Kilometer 221. Um kurz vor fünf arbeiten wir uns bei Heimburg in die erste Rampe hinein. Matthias lässt mich langsam davonziehen. Schön, dass ich auf meinem „Upright“ auch mal einen Vorteil genießen darf. Den Berg hinauf muss Matthias hart arbeiten. Und aus dem Sattel gehen kann er auf seinem Lieger auch nicht. Was soll´s, sagt er sich und beißt sich in den Berg hinein.
Mein Freund Peter W. fährt dieses Mal nicht mit, hat aber für uns dafür eine besondere Überraschung bereit: Er hat auf dem Parkplatz in Schierke vor dem Brockenanstieg mit seinem Campingmobil Position bezogen. Heiße Bockwürste, Brötchen und kalte Getränke stehen für die Hinaufstrebenden bereit. DANKE!!! Peter, du hast uns einen großartigen Dienst erwiesen und bekommst den Titel „Super-Service-Randonneur“.
Meine Satteltasche, Gewicht 2,6 kg, kann ich bei Peter im Bus deponieren und mir so den Aufstieg erleichtern. Die „Bergziegen“ sind schon wieder unten, als wir unten losfahren. Dafür sind sie im Gegensatz zu uns in einem typischen Brocken-Schauer richtig nass geworden. Uns bleiben Pfützen und aufsteigender Dampf.
Auf den ersten Kilometern beginnt die Steigung sanft – trügerisch! Ab 800 Metern Höhe wird es steiler, drei ganz fiese Rampen mit deutlich über 10 % sind zu drücken. Hier bereue ich, dass ich mein 32er Ritzelpaket doch nicht montiert habe. Mit max. 27 Zähnen ist es schon ziemlich hart. Aber ich komme ohne abzusteigen hinauf. Nur ein Foto von der querenden Brocken-Bahn muss sein.
Schnaufend und dampfend arbeitet sich die historische Lok den Berg hinauf. Ganz so wie wir auch.
Mein Endurace ruht sich am Brocken-Museum aus. Ein Stempel im Kontrollheft, den ich im „Touristensaal“ holen will, wird mir wegen akuter Überfüllung und Überforderung des Personals verwehrt. Knurrig gehe ich wieder durch die Wandertouri-Schlange nach draußen. Eine nette Dame macht dann ein paar Beweisfotos von mir. 260 Kilometer.
Heinrich Heine war schon 1824 hier oben. Im Gegensatz zu ihm kann ich eine herrliche Fernsicht genießen.
Und runter geht es wieder in wärmere Regionen. 10 Minuten Abfahrt, kalte Finger, kalte Nase. Beim Passieren des Brocken-Bahnhofs kommt mir Matthias entgegen. Chapeau! Mit dem Lieger hier hinauf zu reiten! Wieder in Schierke angekommen, gönne ich mir noch eine leckere Wurst aus Peters heißem Topf, befestige wieder mein neues Ortlieb-Saddle-Pack und mache mich nachtfein. Nach 15 Minuten bin ich – ab jetzt allein – wieder auf der Strecke. In Sangerhausen gibt es den nächsten Stempel. 75 zähe Kilometer quer durch den Harz – immer rauf und runter … Die untergegangene Sonne wird vom fahlen, durchscheinenden Mond ersetzt. Richtig stockdunkel wird es nicht. Die Straßen sind trocken, die Luft recht mild. Also gibt es keine Ausrede, diese Etappe nicht mit Anstand zu fahren. Eine kurze Pause lege ich in einer komfortablen Blockhaus-Bushalte ein. Fünf, sechs Lichtfinger erhellen die Straße, dann ein Ruf: „Dietmar, alles o.k?“ Alles gut, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich meine Rainer erkannt zu haben. Immer fragt er mich zu den unmöglichsten Zeiten, an einsamen Orten nach meinem Wohlbefinden. „Es gibt keine Zufälle“, danke Rainer!
Nach Sangerhausen rausche ich aus den letzten Hügeln von 500 auf 150 Meter Höhe hinunter. Die Supernova E3 habe ich ein klein wenig höher eingestellt als sonst. Eine klasse Fernsicht habe ich so und kann mit gutem Gefühl Speed machen. Genau in dieser Abfahrt muss es Matthias erwischt haben. Er ist gestürzt und hat sich Vorderrad und Bremse ruiniert, schreibt er mir per sms. Gottlob ist er heil geblieben und kann mit dem Zug nach Hause fahren.
Kontrollpunkt Nr.4: Die Dame von der Aral-Tankstelle zeigt sich auch um 1.24 Uhr bestens gelaunt, öffnet per Knopfdruck für den Kollegen mit Mercedes-Beresa-Trikot und mich die Schiebetür, drückt uns den Stempel ins Heftchen und serviert dann heißen Kaffee und Baguette. Köstlich! 347 Kilometer.
Bis hierher bin ich ohne große Pausen gefahren, nach den 70 Harz-Hügelkilometern sagt mir aber mein Körper, dass er jetzt sofort Ruhe braucht. Also frage ich die nette Tankwartin, wo ich in Sangerhausen eine schöne Sparkasse finden kann. Geradeaus, bis zum Kreisverkehr und dann noch 200 Meter – genau! In einer alten Villa prunkt die Sparkasse mit einem Vorraum der Luxusklasse. Warm, sauber, groß, ruhig. Nur ein wenig hart ist der Granitboden. Ansonsten top und ideal für ein Stündchen Ruhe. Guten Mutes starte ich danach in die letzte Harzetappe nach Ballenstedt. Nochmal 45 Kilometer „Harz querdurch“. Mit zwei Kurzpausen in Bushaltestellen und gefühlten 50 Anstiegen rolle ich vor dem Hotel „Auf der Hohe“ in Ballenstedt aus. Und wieder einmal werde ich mit überragender Gastlichkeit überrascht. Durch einen Seiteneingang dürfen die müden Randonneure ins Hotel hinein. Und als Luxus wird der Tresenraum einfach umfunktioniert zur Radler-Herberge. Die Wirtin macht mir einen Teller Soljanka warm, dazu trinke ich eine große Apfelschorle. Wunderbar! 390 Kilometer.
Beim Kauen und Schlürfen begleitet mich das Schnarchen und tiefe Atmen von Ingo, Andy, Ralf und noch drei weiteren „Harzer Rollern“. Was tun? Auch Ausruhen oder einfach weiterfahren und so wieder Anschluss an die Schnellen haben? Weiterfahren, sagen mir Körper und Wille. Ab also, raus in den frühen Morgen! Gegen sechs Uhr bin ich wieder auf Kurs.
Die Luft ist angenehm, die Kräfte kommen zurück. Nur 35 Kilometer bis Staßfurt, zur Kontrolle Nr. 7. Nur ein Stempel, sofort bin ich wieder auf dem Rad. 426 Kilometer. Es rollt! Ich nähere mich wieder der Elbe, passiere Aken und arbeite mich vor nach Dessau. Am Elbufer lacht mich dann eine versteckte Bank zum Kurzschlummer an. 20 Minuten runterkommen, das tut gut. Weiter nach Dessau, über die Brücke hinein in die Stadt zur Aral-Tanke. Ankunft 11.02 Uhr.
Hier wartet wieder ein Déjà-vu auf mich – in Form der dort pausierenden schnellen Truppe. Andy, Ingo, Ralf… Alle sind wieder beisammen. Nur ich habe ein paar Stunden weniger Schlaf bekommen als die Schnelleren. Wie lautet doch die alte Randonneurs-Weisheit: In den Pausen werden die Brevets entschieden. Leider komme ich gänzlich ohne Pausen auch nicht zurecht. Andere dürfen schneller sein! Aber ja doch, es sei ihnen gegönnt. 481 Kilometer.
Ich lasse die Gruppe fahren, verweile noch 10 Minuten und rolle dann wieder hinein in meinen Rhythmus. 100 Kilometer bis Trebbin, in fünf Stunden sollte das zu schaffen sein, auch mit leicht angebrauchten Kräften.
Passt! Um kurz nach 16 Uhr kommt die Total-Tanke in Trebbin in Sicht. Und wer steht schon wartend davor: Ja, die schnelle Truppe um Ingo, Ralf und dann auch Andy. 582 Kilometer.
Noch 42 Kilometer bis zum Ziel. Netterweise laden mich die Kollegen ein, die letzte Etappe im Windschatten mitzurollen. „Randonneurs-Solidarität!“ ich nehme das Angebot an, und wir kurbeln mit knapp unter 30 km/h gen Hauptstadt. Selbst in der Stadt geben die Kollegen noch mächtig Gas. Ampelstarts, Ampelhalt und immer wieder. Echtes Kraft-Ausdauertraining, und das nach mehr als 600 Kilometern. Ganz zum Schluss ruft Ralf zur Mäßigung. Die letzten drei Kilometer lassen wir ausrollen. Danke fürs Mitnehmen. Sonst wäre ich hier 30 Minuten später eingerollt.
Ein Dank geht hier an Gerhard, dessen kleine Foto-Dokumentation der Zielankünfte ich nutzen darf.
Was war das für ein Brevet! Knackig, fordernd, vielfältig, …625 Kilometer.
Heiße Lasagne, kühles Weizenbier, spendiert von Ralf! Ein runder Abschluss des Brocken-Brevets. Ein harter Brocken eben!
Danke an Ralf, Ingo und Klaus. Ihr habt uns wieder einmal an die Grenzen gebracht – und wieder zurück.
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