Grauer Himmel an der Oder…

An diesem Februartag will ich meine mäßige Stimmungslage mit einer Fahrt an die Oder aufhellen. Das hat bislang immer noch funktioniert. Wobei heute der Himmel grauverhangen ist. Dafür schiebt der frische Westwind mich erst einmal kräfteschonend hinein in die Wellen des Barnim. Mein Basso-Crosser freut sich, dass ich ihn endlich wieder in die Landschaft führe. Die Straßen sind noch regennass, ich bin froh, dass ich die langen Schutzbleche von SKS montiert habe. Für ein Winterrad gehört sich das schließlich so. Bernau liegt bald hinter mir, die Windräder vor Tempelfelde empfangen mich mit vernehmbarem Rauschen. An einem Waldrand bei Heckelberg haben Anwohner ein Plakat mit „Keine Photovoltaikanlagen auf Ackerflächen“ am Zaun befestigt.

Dahinter ist eine eher barackenähnliche Unterkunft zu erkennen. Einnahmen aus solchen Anlagen wären sicher hilfreich für ein Sanierungsprojekt des Anwesens. Und den Anblick von Landschaft und der übrigen riesigen Ackerflächen würde das auch nicht beeinträchtigen. Meine ich. Offensichtlich sehen das ein paar Menschen hier anders. Ein paar Dörfer weiter prangt an einer Scheunenwand „Keine Windkraftanlagen in der Barnimer Heide“

Und wo soll zukünftig der Strom herkommen? Aus dem Kohlekraftwerk Jänschwalde und aus Northstream 2 jedenfalls nicht. Sollte sich das noch nicht bis in diese Gegend herumgesprochen haben?

Nachdenklich und auch mit Unbehagen im Bauch rolle ich weiter. Dann genieße ich die Abfahrt hinunter ins Oderbruch über Falkenberg und dann nach Freienwalde. Am Ortsrand kann man im Schlachthausgebäude aus 1899 immer noch Fleischwaren einkaufen.

Mein Magen knurrt zwar schon unangenehm, aber als Flexitarier rolle ich lieber weiter zur Bäckerei vom NETTO neben dem Freienwalder Bahnhof. Hier ist die Bedienung nett und Milchkaffee nebst Käsebrötchen sind von bester Qualität. An der Wand hängt das Informationsangebot des Tages in Form von BILD und MOZ. Ich erfahre, dass Tony Marschall kaum Vermögen, dafür aber mehr als 50 Perücken hinterlassen hat. Der Wetterdienst warnt vor Sturm mit Böen bis 80 km/h. Soll mir recht sein, solange die Windpower mich hin zur Oder und rauf nach Schwedt treibt. Es bleibt bei einigen, wenigen Regentropfen, die kaum die Nässefestigkeit meiner neuen Gore-Thermo-Trail auf die Probe stellen. In Schiffmühle biege ich in Richtung Oder ab, vorbei am Haus von Fontanes Vater.

In Hohensaaten bin ich endlich an der Oder. Der Ort ist eine Radlerhochburg, lese ich auf dem Schild im Rahmen eines angegammelten Zweirads aus vergangenen Zeiten. Dahinter steht schief und verwittert der Wegweiser zur Ostsee. Heute ist irgendwie alles grau.

Von den knapp 700 Hohensaatenern sind mehr als die Hälfte Senioren. Daraus leitet sich der Titel „Ältestes Dorf Brandenburgs“ ab. Als um 1900 die Schleusen zur Verbindung der Oder an die Oder-Havel-Wasserstraße gebaut wurden, lagen hier die Schiffe der Wohlhabenden vor Anker. Heute wandern immer mehr junge Menschen ab. Die Alten werden weniger. Seit der Eingemeindung nach Bad Freienwalde gibt es keine Bevölkerungsstatistik mehr. Keine Ärzte, keine Schulen, keine Geschäfte…

Erst ein paar Kilometer weiter, in Lunow, kann der hungrige und durstige Radler sich stärken. In der Gaststätte Quilitz gibt es Knacker vom Auerochsen, gegenüber beim Fleischer Künkel Eintopf, Kaffee oder auch Bier.

Und in Stolpe, unterhalb des dicken Turms, betreiben seit Sommer 2022 zwei junge Männer das Café „Milchbuben“– in der Nachfolge vom „Fuchs und Hase“. Angebot und Ambiente sind geblieben. Ich freue mich schon auf meine nächste Tour, die ich auf die Öffnungstage Do-So legen werde.

Es wird langsam dämmrig, so richtig hell ist es eh heute nicht geworden. Kalt und feucht und windig. Da heißt es weiter kurbeln, warm bleiben. Und vom fiesen Wetter nicht die Laune vermiesen lassen.

Die Kopfweiden, die in langen Reihen am Deich stehen, sind frisch beschnitten. Bald werden sie wieder austreiben und mit ihrer Wuchsgeschwindigkeit beeindrucken. In früheren Zeiten wurden aus Weidentrieben Körbe, Reusen und Geflechte für das Fachwerk der Häuser gefertigt. Alte Weidenbäume sind wahre Refugien für Insekten, Würmer und Vögel.

Bei Criewen, schon nahe bei Schwedt, sind die Oderauen überflutet. Die Natur kann Wasser tanken, speichern und sich von den Monaten der Trockenheit erholen. Der Radweg verläuft zwischen der Alten Oder oder Faulen Oder, dem Oder-Havel-Kanal und dem Hauptfluss. Dazwischen mäandern zig Kleinarme und bilden den Nationalpark Unteres Odertal.

Gegen 16.30 Uhr rolle ich ein in Schwedt, einer Stadt, die wie kaum eine andere von Krieg, Nachkriegszeit, Nachwendezeit und jetzt der Zeit der „Zeitenwende“ gebeutelt und geprägt ist. Am Ende des 2. Weltkrieges waren nach heftigsten Kämpfen 85 % der Gebäude und Infrastruktur zerstört. In den 50er und 60er Jahren erlebte die Stadt einen industriellen Aufschwung, der hauptsächlich der Raffinerie zu verdanken war, in der bis zu 8000 Menschen beschäftigt waren. Über die Ölpipeline „Druschba“ – Freundschaft, wurden mehr als 10 Mio. Tonnen russisches Erdöl pro Jahr angeliefert und zu Benzin, Diesel und Kerosin verarbeitet. In alter Zeit, im 18. Jhd. gab es hier Tabakfabriken und das größte Tabakanbaugebiet Deutschlands.

Nur ganz wenige alte Gebäude haben die Zeit überdauert. Einen historischen Stadtkern sucht man in Schwedt vergebens. Nur der Berlischky-Pavillon, eine ehemalige Kirche der Französisch-reformierten Kirche aus dem Jahre 1777 steht vereinsamt an der B 166, der Lindenallee, die ansonsten von Mietskasernen flankiert ist.

Artwork am Plattenbau – schöne Illusion
Berlischky-Pavillon
Liebespaar – Axel Schulz 1965

Und gegenüber, passenderweise vor dem Standesamt, steht diese kleine Skulptur des Bildhauers Axel Schulz.

… Und ich hatte gedacht, der Axel wäre ein Schwergewichtsboxer.

Neben dem Pavillon führt die Straße zum Bahnhof, den ich zum Tagesziel auserkoren habe. Wieder einmal, schon wieder. In den vergangenen Jahren bin ich geschätzt 20-mal allein oder mit Freunden hier angekommen. Von hier fährt der Regio jede Stunde nach Berlin. Und vor dem Bahnhof, der kein eigenes Gebäude besitzt, steht das Steakhouse Mendoza, in dem wir regelmäßig unsere Wartezeit verkürzt haben. Heute bleiben mir nur 20 Minuten – für ein großes, gezapftes Bier reicht die Zeit.

Mein Basso darf mit in den Zug. Für Pendler sind die Bikeboxen ideal, um die Räder sicher zu parken.

Um 20 Uhr komme ich bei Nieselwetter und grauem Himmel und eiskaltem Wind guter Laune wieder zu Hause an.

„Wenn du niedergeschlagen bist, wenn dir die Tage immer dunkler vorkommen, wenn dir die Arbeit nur noch monoton erscheint, wenn es dir fast sinnlos erscheint, überhaupt noch zu hoffen, dann setz dich einfach aufs Fahrrad, um die Straße herunterzujagen, ohne Gedanken an irgendetwas außer deinem wilden Ritt.“ – Arthur Conan Doyle

Artfahren und mehr in Berlin

Im Frühjahr 2016 kam der Blogger-Kollege „Kreuzbube“aus Dresden auf die Idee, einen kleinen Wettbewerb zu veranstalten, den er „Artfahren“ taufte. Es ging darum, mögliche viele zeitgenössische Skulpturen zu finden und dann samt eigenem Rad zu fotografieren. Bei mir hat es damals sofort „klick“ gemacht, und bei meiner nächsten Ausfahrt wurde ich zum Objektsucher. Bis zum Herbst entdeckte und identifizierte ich ingesamt 156 Kunstwerke in Berlin und Brandenburg. Auch nach dem Artfahren habe ich nicht aufgehört, mit suchenden Augen durch Stadt und Land zu fahren. Mein Blick war sensibilisiert und geschärft.

An diesem Februarmorgen lacht die Sonne aus einem stahlblauen Himmel. Klar, dass dann die Olympus tough in die Oberrohrtasche muss. Um 10.30 Uhr sitze ich auf meinem Basso und wähle als erstes Ziel Tegel, wo ich den Betonbogen an den Seeterrassen in bestem Licht erwische. Schon im Jahr 1954 hatte der Bildhauer Gerhard Schultze-Seehof im Rahmen des Berliner Wiederaufbauprogramms den Auftrag für einen Mosaikbogen erhalten, in dem er Fliesen und Keramik-Teile aus Trümmerschutt der Umgebung eingesetzt hat. 2015 wurde das marode gewordene Bauwerk sorgfältig restauriert und strahlt wie neu an diesem Morgen.

Mosaikbogen von Gerhard Schultze-Seehof am Tegeler See

Nach wenigen hundert Metern Fahrt auf dem Borsigdamm erreiche ich die Hochhäuser der riesigen Wohnsiedlung, wo 2015 das erste 42 Meter hohe „Mural“ – Wandbild entstand. Mittlerweile zieren acht riesige Kunstwerke die Fassaden der vier gewaltigen Blöcke zwischen Wasserwerk Tegel und Emstaler Platz.

https://www.visitberlin.de/de/artpark-tegel – Gute Infos zu den Objekten des Art-Parks Tegel.

Heute fotografiere ich die Murals von der Südseite, wo sie im Sonnenlicht strahlen und sich wunderbar vom blauen Himmel abheben. Tegel-Besuchern kann ich nur empfehlen, die vier Hausblöcke komplett zu umrunden. Es lohnt sich!

Von Borsigwalde aus nach Siemensstadt. Von Reinickendorf nach Spandau. Die Backsteinfabrikhallen und Arbeitersiedlungen künden von der vergangenen Industriekultur, der Blütezeit der Siemens- und der Borsigwerke. Siemens bot schon in den 1920er Jahren mehr als 30000 Menschen Arbeit, Brot und Wohnungen. Man stelle sich vor, dass heutzutage ein Großunternehmen für die Beschäftigten Wohnanlagen samt Schulen und Kindergärten zur Verfügung stellen würde. Ja, warum eigentlich nicht? Oder warum nicht mehr? Fortschritt ist immer relativ. Wenn ich über die Siedlungen in historisierendem Stil bis zur Bauhausarchitektur staune, tausende von Wohnungen, dann hören sich die nicht gehaltenen Versprechungen der Politik zur Schaffung von „neuem Wohnraum“ in unseren Tagen hohl an.

Torbogen zur Siemens Werkssiedlung am Schuckertdamm

Kurz vorm Überqueren der Nonnendammallee stehe ich auf dem Platz vor der Siemens-Verwaltung, auf dem seit 2017 die Alu-Skulptur „Wings“ von Daniel Libeskind prangt. Glänzend, glitzernd, spiegelnd. Beeindruckend besonders im Sonnenlicht. 10 Meter hoch und 15 Tonnen schwer soll sie Sinnbild für die digitale Zukunft des Unternehmens sein. Ich hoffe sehr, dass sie wirklich eine starke Zukunft symbolisiert.

Direkt an der Nonnendammallee thront ein riesiger Adler auf dem Denkmal für die im 1. Weltkrieg gefallenen Siemens-Arbeiter. Blick zurück und in die Zukunft nah beieinander.

Siemens-Denkmal für die Weltkriegsopfer

Den folgenden Text habe ich auf der Startseite Siemensstadt 2.0 gefunden:

Neue Arbeits- und Lebenswelten in der Siemensstadt Arbeiten, Forschen und Wohnen vereinen! Das wollte man bereits bei der Gründung der Siemensstadt vor mehr als einem Jahrhundert. Und das gilt auch für die Zukunft: In den kommenden Jahren sollen auf dem Siemens-Gelände in Berlin-Spandau neue Arbeits- und Lebenswelten entstehen. 
Das historische Verwaltungsgebäude und sein Umfeld werden der erste Baustein der Siemensstadt 2.0 sein. Im Frühjahr startet ein Hochbauwettbewerb, um für das Verwaltungsgebäude ein Nutzungskonzept zu erarbeiten und für die Neubauten im Umfeld im Wettstreit die besten architektonischen Lösungen zu finden. Dafür wird derzeit die Aufgabenstellung – die sogenannte Auslobung – erstellt.

Da bin ich gespannt, wie schnell oder wie langsam hier Siemensstadt 2.0 entstehen wird.

Auf dem Weg in den Kern der großen Stadt umrunde ich den Lietzensee mit seinen altherrschaftlichen Gebäuden, dann rolle ich entspannt auf dem breiten Radstreifen der Kantstraße bis hin zum Kranzler Eck. Für viele Wessies bis heute die Mitte von Berlin. Neue Hochhäuser, viel Glas und Beton und natürlich die unvermeidlichen Bären. Hier als prächtiges Gespann:

Ich genieße das Wetter und die gut gelaunten Menschen. Kein Berliner motzt mich an, Autofahrer lassen mich bereitwillig den Ku’damm queren. Schön hier heute. Nächster Halt Euref-Campus mit dem Gasometer. Ich will nachsehen, wie weit das Bauprojekt gediehen ist.

Immerhin, vor genau einem Jahr sah ich hier noch ein blankes Stahlgerippe, heute ist der Gasometer schon verglast. 2024 sollen 28000 Quadratmeter Büroflächen, Eventbereiche und eine Skylounge in 66 Metern Höhe eingeweiht werden. Die Deutsche Bahn will von hier aus mit 2000 Mitarbeitern!!! die Digitalisierung und die Zukunft der Bahn nach vorn treiben, lese ich. https://euref.de/entry/gasometerschoeneberg/

Zunächst bedeutet das Ganze über 200 Mio Euro Invest. Ich hoffe, dass noch genügend Geld für neue Schienen und Züge übrig bleibt. Skepsis scheint angebracht. Als ich 1997 auf dem neu errichteten Potsdamer Platz aus meinem Büro ehrfürchtig hinüber auf den „Bahntower“ schaute, in dem Hartmut Mehdorn die Zukunft ( oder war es doch eher die Abwicklung) der Bahn plante, gab es auch große Ziele. Wenig davon wurde umgesetzt. Ich frage mich gerade, warum die Mitarbeiter im Gasometer bessere Ideen und Pläne haben sollten als vor 20 Jahren im prächtigen Glastower.

Der Bahntower am Potsdamer Platz erscheint irgendwie verwandt mit dem neu entstehenden Tower im Gasometer. Er sieht aus Wie ein Halb-Gasometer, fällt mir auf. Wenn das kein Omen ist?! So lese ich parallel, dass über die nächsten zwei Jahre der Bahntower kernsaniert werden muss??? Dann erst können die zukünftig fast 2000 Zentral-Bahner wieder einziehen und denken und planen und verwalten. Moderne Bauwerke scheinen ungemein kurzlebig zu sein. Muss ich mich jetzt fürchten in unserem Holzhaus, das wir auch genau im Jahr 2000 gebaut haben? Ich kann als Laie noch keine Verfallserscheinungen erkennen. Offensichtlich gab es seinerzeit auch Bausubstanz, die für einen weit längeren Zeitraum wohntauglich bleibt.

Ohne zu wissen, dass ich eigentlich nur vom neuen DB-Turm zum alten DB-Turm geradelt war, schaue ich mir mit etwas nostalgischen Gefühlen die Berlinale-Vorbereitungen an. Der Rote Teppich wird ausgerollt, die Fans stehen Schlange, alles ist ganz so wie vor über 20 Jahren, als ich aus meinem Büro die Stars auf dem Teppich von oben ansehen konnte. Es war einmal.

Die Berlinale-Fans werden in diesen Tagen dem Areal wieder kurzzeitiges, frisches Leben einhauchen. Wobei man heute nicht mehr durch die Arkaden flaniert, sondern eher ein paar Meter zum Leipziger Platz mit der „Mall of Berlin“ weiterzieht. Moderne Vergänglichkeit.

Auf dem Heimweg kurve ich durch den Tiergarten und lasse mich vom Beethoven-Haydn-Mozart-Denkmal einfangen, das wunderbar im Licht der tief stehenden Sonne funkelt.

Mozart und Beethoven – auf der Rückseite steht Haydn

Mit den Klängen der Musik der großen Meister im Kopf fahre ich gut gelaunt nach Hause.

Diese Stadt hat einfach alles: Alte Geschichte, neuen Protz, alten Protz, Schönes, Hässliches, und auch Zukunft weisendes. Berlin eben.

Streetart – Checkpoint – Drinkpoint Berlin

„Jakarta meets Berlin“, so nennt sich das „Mural“ in der Heidestraße. Hier ist in den vergangenen Jahren die sogenannte Europacity hochgezogen worden. Ein teures Büro- und Wohnviertel auf dem ehemaligen Gelände des Verschiebebahnhofs, an dem ich 15 Jahre lang auf dem Weg ins Büro vorbeigefahren bin. Viel Beton, wenig Grün, viel Einfalt, wenig Vielfalt. Zumindest in der Architektur. Hier haben sich die Investoren so richtig austoben dürfen. Ein Städteplaner aus Kopenhagen, der das Gelände kürzlich besichtigte, zeigte sich bestürzt. Er hatte die blumigen Ankündigungen vor Baubeginn gelesen und stand nun ungläubig vor soviel Gleichförmigkeit. Wegfall Ideen.

Genauso wie auf den Dänen wirkt das neue Viertel auf mich. Schöne Lage, was hätte hier alles entstehen können. Bezahlbarer Wohnraum ist es jedenfalls nicht geworden. 2 Mio Euro für 113 Quadratmeter wunderbares Wohnen. Ein echtes Schnäppchen für junge Familien!

Zwischen Beton und Glas führt der Weg am Kanal entlang, an der Rückseite des Hamburger Bahnhofs – „Nationalgalerie der Gegenwart“ benannt. Hinter soviel neuen Mauern sieht das Museum viel kleiner aus als vorher . Am Hauptbahnhof vorbei, an der Charité vorbei, am Futurium vorbei, dann durch die „Schönste Shopping Mall“ Berlins mit Durchblick zum Bundesratsgebäude.

Jetzt nach links, schon stehe ich vor dem Bundesfinanzministerium am Platz des Volksaufstandes von 1953. Wieder einmal zieht mich das Wandgemälde „Aufbau der Republik“ von Max Lingner in den Säulengang am Detlev Rohwedder-Bau. Heroisch sind hier Handwerker, Bauarbeiter, Pioniere und ganze FDJ-Klassen auf Meißner-Fliesen gemalt. Und ein Jahr später gingen die Menschen auf die Straße, um gegen die frische Republik zu demonstrieren. Und wurden blutig niedergeschlagen.

Im Gebäude des ehemaligen Luftfahrtministeriums, dem damals – mit über 2000 Räumen größten Bürogebäude Berlins, residiert heute der Bundesfinanzminister. Der ursprüngliche Empfangsbereich hinterm Tor ist eine Baustelle. Die Türen sind mit Holzplatten verrammelt. Fehlt hier Geld oder fehlen die Handwerker?

Ich wechsle auf die gegenüberliegende Seite der Wilhelmstraße und schiebe mein Taurine in den illustren Durchgang zur Mauerstraße neben dem Museum für Kommunikation.

Ein echter Backstein-Leckerbissen

Dann quere ich die Mauerstraße, und schon stehe ich auf dem Bethlehem-Kirchplatz mit seiner mächtigen Stahlskulptur. Daneben der sogenannte „Houseball“ von Claes Oldenburg, der an die böhmischen, protestantischen Glaubensflüchtlinge erinnert, für die auch die im zweiten Weltkrieg zerbombte Bethlehemskirche im Jahr 1735 errichtet worden war.

Nur 100 Meter sind es bis zum Checkpoint Charlie, dem ehemaligen Übergang vom Amerikanischen zum Sowjetischen Sektor.

An der Wand des Checkpoint-Museums hängt „die letzte Kreml-Fahne“. Seit Beginn des Ukraine-Krieges haben diese Symbole eine aktuelle, ganz neue Bedeutung bekommen.

Nachdenklich geworden steige ich wieder auf mein Taurine und folge dem Hinweisschild zum Jüdischen Museum.

Am Moses-Mendelssohn-Platz residiert seit neuestem der Radanbieter ROSE-Bikes.

Vor der Michael Blumenthal Akademie patrouilliert ein Polizist, der sich frierend die Hände reibt. Ich komme mit ihm ins Gespräch und erfahre, dass er seinen Job hier seit über zehn Jahren macht. Ende des Jahres geht er in Rente. Das hört sich gleichsam erleichtert und melancholisch an. Wir wünschen uns „Gute Gesundheit in Zukunft“ und verabschieden uns voneinander.

Weiter führt mich mein Weg Richtung Mehring-Platz, wo besonders eindrucksvolle „Mural-Art“ zu sehen ist. Hier habe ich locker und ungeordnet meine Fotos zur Galerie zusammengestellt.

Allen, die sich für diese Art von Kunst interessieren, kann ich nur das Quartier rund um den Mehringplatz wärmstens für eine Besichtigungstour empfehlen.

Schluss für heute!

Oder doch noch nicht: Bei der Heimfahrt mache ich noch einen Bogen durch den Volkspark Rehberge und erde mich mit den zwei nackten Ringern vom Bildhauer Fritz Haverkamp aus dem Jahr 1906.

Berlin – Anblicke und Einblicke

Zu langen Strecken bin ich noch nicht aufgelegt an diesen nasskalten Tagen mit wenig Licht. Aber raus muss ich. Stubenhocken ist nicht mein Ding. Lieber rolle ich ein paar Kilometer am Rand der großen Stadt oder auch hinein in den wuseligen Kern. Es gibt immer etwas Neues zu entdecken oder auch Bekanntes aus neuer Perspektive zu betrachten.

2. Februar

Der Himmel ist grau, zwei Grad plus zeigt das Thermometer, wetteronline verspricht Auflockerungen und etwas Sonne am Nachmittag. Einzelne Schauer sind möglich. So wähle ich meine bewährte Gore-Winterjacke, eine gut wärmende lange Hose und die wasserdichten Mavic-Schuhe. Merino-Unterwäsche sorgt für wohliges Gefühl. Heute ist mein Basso Crosser mit Schutzblechen das Rad der Wahl. Der frische Nordwest schiebt mich sanft über Berlin-Buch in die Barnimer Feldflur. In Berlin-Marzahn, am Rande des Westparks blüht eine mächtige Blume. Sie blüht das ganze Jahr über. Sie ist aus Stein und mit buntem Mosaik bedeckt. Das Künstlerehepaar Christine Gersch und Igor Jerschov haben das 2,50 m hohe, „Echinacea“ genannte Sitzobjekt 2005 hier aufgestellt.

Echinacea von Gersch und Jerschov

Marzahn und die Plattensiedlungen Wartenberg und Lindenberg waren Vorzeigeprojekte des Sozialistischen Wohnungsbaus, ähnlich wie auf der Westseite das Märkische Viertel mit seinen Wohnklötzen. Nach Osten arbeite ich mich Kilometer um Kilometer aus der Stadt heraus. Als ich ein Schild mit dem Hinweis auf Dahlwitz-Hoppegarten lese, bekomme ich Lust, mir die berühmte Pferderennbahn anzusehen. 45 Minuten später erreiche ich den Rand des riesigen Geländes. Zäune, geschlossene Tore, wo ist denn hier ein Eingang? Es fängt an zu regnen als ich ein offen stehendes Türchen entdecke. Ich schlüpfe samt Basso hindurch und staune über leere Pavillons und die riesigen Tribünengebäude. Kein Mensch ist hier zu sehen, geschweige denn ein Pferd. Als der Regen richtig loslegt, kann ich mich unterstellen und das gesamte Ensemble auf mich wirken lassen.

Trostlos, verlassen und angegammelt, so sehen Gelände und Gebäude aus. Ich hatte erwartet, eine gepflegte, eher herrschaftliche Anlage vorzufinden. Weit gefehlt.

Als im Jahre 2008 ein Investor die Liegenschaften vom öffentlichen Träger übernommen hatte, sollte es wieder aufwärts gehen mit den Pferderennen. Es ging – aber eben etwas langsamer als sich Investor und wahrscheinlich auch die Gemeinde Dahlwitz-Hoppegarten gewünscht hatten. In den Zeiten, als die Rennbahn ein VEB-Betrieb war, strömten regelmäßig 40000 Gäste auf Tribünen und Anlage. Heute gilt es als Erfolg, wenn 4000 Gäste gezählt werden.

Ich erlebe an diesem Tag die altehrwürdige Rennbahn im Winterschlaf. An den Tribünengebäuden blättert der Putz ab, Geländer und Fenstergitter rosten vor sich hin, Die Holzbuden brauchen dringend einen neuen Anstrich.

Ostersonntag ist Saisoneröffnung. Dann rennen hier die schnellen Pferde und die Damen mit den großen Hüten zeigen sich auf den Tribünen. In der Holzbude werden dann Polnische Schaschlik angeboten. Bis dahin gibt es noch einen Menge zu tun.

Der Regen ist abgezogen, mein Basso möchte endlich wieder rollen. Nach Berlin zurück. Der Himmel ist tiefblau, die Sonne zeigt ihre wärmende Kraft.

Langsam aber stetig arbeite ich mich von Osten her in die Stadt hinein. Mittlerweile gibt es wesentlich mehr vernünftige Radstreifen auf den breiten Straßen als noch vor fünf Jahren. Es hat sich etwas getan. Auf dem Hackeschen Markt werden die Stühle rausgestellt. Ein Pianoplayer spielt auf der noch regennassen Friedrichsbrücke. Ich genieße die friedliche Stimmung. Dann steige ich ab und schiebe mein Basso kreuz und quer durch die Kolonnaden vor der Nationalgalerie, entdecke eine Gruppe junger Frauen, die offensichtlich – als Engel verkleidet, eine Performance proben. Fotografieren lehnen sie ab. Ich kann es verstehen. Dafür kann ich die Linse meiner Olympus Tough auf die historischen Gebäude richten. Das Licht ist herrlich, die Schattenrisse der Skulpturen wunderbar.

Vor der Humboldt-Uni liegen alte Zeitungen und Bücher aus. „Papierflohmarkt“. Ich staune über die Schlagzeilen der 60er.

Das Brandenburger Tor ist offensichtlich völlig unbeeindruckt von dem heftigen Crash eines rasenden Mercedes-Fahrers, der vor ein paar Tagen seine Fahrt an einer Säule ruckartig und tödlich beendete.

Reichstag und Paul-Löbe-Haus präsentieren sich im Postkartenlicht. Ich fotografiere „Das Auge des Kanzlers“, wie der Berliner die kreisrunden Öffnungen gerne nennt. Zu Zeiten der Kanzlerschaft von Helmut Kohl wurde der riesige Gebäudekomplex entworfen und gebaut. Gerhard Schröder zog dort ein, Angela Merkel regierte sagenhafte 16 Jahre lang von hier aus. Weiter am Seeufer entlang passiere ich das Schloss Bellevue, die Institute der TU Berlin, dann erreiche ich den „Siemenssteg“ , eine Fußgängerbrücke aus dem Jahre 1900, die hinüber führt zum Kraftwerk Charlottenburg. Werner von Siemens soll hier in der Nähe seine Villa bewohnt haben.

Siemens-Steg – wieder einmal in Renovierung

Ab hier wird die Stadt wieder ruhiger, die Spree biegt am Schloss Charlottenburg vorbei nach Norden ab. Ich erreiche den Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal und rolle auf dem Radweg am Ufer bis zur Tegeler Brücke, wo ich über die Bernauer Straße durch den Forst der Jungfernheide kurbele. Ruhig ist es hier, nebendran schläft der ehemalige Flughafen Tegel. Die meistens niedrig über die Straße anfliegenden Jets vermisse ich geradezu. Es ist dämmrig geworden, und so schalte ich meine Festbeleuchtung ein. Zwei Rücklichter und die alte Sigma Sport vorne.

Die Runde hat bei mir die Lust auf weitere Erkundungsfahrten geweckt. Es gibt noch so viel zu entdecken in dieser schönen, vielfältigen, widersprüchlichen, immer im Umbruch befindlichen Stadt. Berlin ist immer Baustelle, wird niemals fertig. Trotzdem oder gerade deswegen bin ich hier so gerne unterwegs.

Bis zur nächsten Runde.

Die Brücke

Schon am 25. Juni 2022 ist sie feierlich eingeweiht worden. Der Ministerpräsident hielt eine Rede.

„Es ist immer eine Freude, gemeinsam mit unseren polnischen Partnern ein gutes Projekt zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Und das ist hier der Fall. Umso mehr, wenn sich dieses Projekt im vorzüglichen Exzellenzlandkreis Märkisch-Oderland befindet.“ 

Diesen Satz der Europaministerin Katrin Lange lese ich auf der Seite der Staatskanzlei des Landes Brandenburg. Und der Marschall der polnischen Partnerwoiwodschaft Zachodniopomorskie (Westpommern), Olgierd Geblewicz, gab schließlich gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Woidke die Brücke für Wanderer, Radfahrer, Spaziergänger und Naturfreunde frei.

Ausgerechnet ich, der ich mich zu den ausgewiesenen Oderbruch-Fans zähle, lasse mir ein halbes Jahr Zeit, das Monument von Freundschaft und Partnerschaft und Zeugnis der Brückenbauerkunst endlich heimzusuchen. Vielleicht lag es daran, dass ich in den vergangenen 15 Jahren gar nicht mehr geglaubt hatte, dass diese Brücke tatsächlich einmal fertiggestellt werden würde.

Die Europaministerin feiert das Projekt als Maßstab europäischer Zusammenarbeit. Geht’s nicht ein bisschen kleiner? So frage ich mich, als ich diese Zeilen lese.

Wie auch immer, das Werk ist vollbracht. Heute werde ich mir anschauen, wie es wirkt, wie es aussieht. Sechs Grad zeigt das Thermometer um 10 Uhr beim Start. Die Sonne hält sich noch versteckt, dafür bläst ein spürbarer Wind aus Südwest. Genau richtig für eine Tour ins Oderbruch. Das erste Foto mache ich erst nach 70 Kilometern Fahrt – in Wriezen, wo mich der markante Marktbrunnen wieder einmal reizt.

Ein Fabelwesen, das Mann und Frau, Tier und Mensch gleichzeitig ist, posiert auf einem riesigen Findling. Primäre und sekundäre Geschlechtsteile werden freizügig hergezeigt. Am Fuß des großen Findlings steht ein Fischer, der sein Netz einholt, daneben sitzt ein Mann mit einem dekorativen Brett vorm Kopf. Text: „Jeder kann es selbst herunter reissen“. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Heute bin ich langsam unterwegs, schon 13 Uhr ist es. Eine Pause beim Bäcker verkneife ich mir, mich zieht es hin zur Oder auf der Trasse der alten Wriezener Bahn, die vor 100 Jahren einmal ein Teil der Verbindung von Berlin nach Königsberg/ Neumark war. Vorbei an den alten Bahnhofsgebäuden Alt-Mädewitz, Alt-Reetz und Neurüdnitz. Schon lange werden die ehemaligen Bahnhöfe als Wohngebäude genutzt. Nur die verwitterten Schriftzüge künden noch von der ursprünglichen Bestimmung. Schnurgerade verläuft der Radweg 13 Kilometer lang hin nach Bienenwerder zur Brücke. Schon bei meinen ersten Touren an die Oder zu Anfang der 20er Jahre habe ich mich über die Hinweisschilder zur „Europabrücke“ gewundert. Das Bauwerk war seinerzeit in einem jämmerlichen Zustand. Die Brücke Deutschland und Polen verbindet, genauer das Bundesland Brandenburg mit der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Einen Hinweis auf das Datum der Namensgebung „Europabrücke“ habe ich nirgendwo finden können. Allerdings hat die Deutsch-Polnische Gesellschaft zu Ehren des großen, versöhnenden Europäers Wladyslaw Bartoszewski eine Bronzestatue und eine Gedenktafel an der Brücke aufgestellt. Bartoszewski hat sich Zeit seines Lebens für den Frieden und die Freundschaft und Versöhnung zwischen Deutschland und Polen eingesetzt. Er hat die Einweihung der Brücke zwar nicht mehr erlebt, aber sicher würde er sich darüber gefreut haben. Er wirkt geradezu wie eine Ermahnung, immer vernünftig miteinander umzugehen, sich zu unterstützen, friedlich und respektvoll.

Die wenig freundschaftliche, wenig vertrauensvolle Zusammenarbeit von polnischen und deutschen Behörden bei der Aufklärung des mysteriösen Fischsterbens im Sommer war jedenfalls wahrlich kein gutes Beispiel, und schon gar nicht „maßstabgebend“ für die europäische Zusammenarbeit. Es gibt noch viel zu tun!

Erinnerung an Wladyslaw Bartoszewski, den Brückenbauer zwischen den Völkern ( Foto Ulf Grieger/MMH)

Als ich gegen 14 Uhr am westlichen Brückenkopf ankomme, bin ich angenehm überrascht. Die Bauzäune sind weg, die Konstruktion in grau wirkt geradezu modern, hat aber auch etwas von einem stählernen Tunnel. Insgesamt ist die Brücke 860 Meter lang, je 330 m auf deutscher und auf polnischer Seite, 200m in der Mitte führen auf einem Damm über die Oderinsel. Ich rolle über die Planken aus Verbundmaterial und wundere mich über die Metallstege, die etwa alle 50 Meter quer darüber liegen. Klapprig und glatt. Und bei näherem Hinschauen nicht besonders gut verarbeitet. Lack bröselt schon von der Oberfläche. Schweißperlen sind nicht sauber entfernt worden. An den Diagonalträgern prangen spitze, scharfe Stahlprofile. Wenn hier jemand nicht aufmerksam fährt, drohen ihm fiese Verletzungen. Wem ist nur solch ein Blödsinn eingefallen?!

Ich erfreue mich am Ausblick über die Weiten der Oder. Aus dieser Perspektive sind Fluss und Uferlandschaft noch eindrucksvoller als vom Deich aus. Nach dem ersten Abschnitt kommt die Oderinsel, und dann der polnische Teil der Brücke mit einer herrlichen Aussichtsplattform. Hier wird die Fahrbahn höchst komfortabel. Ganz fein aufgeraut und ganz ohne Klapperplanken. Holzbänke laden zum Verweilen ein. Tafeln informieren in deutsch und polnisch über die Geschichte der Brücke, Vorbildlich.

Der Radweg führt weiter auf der ehemaligen Bahntrasse nach Osten. Bis zum Bahnhof Sikierki, früher Zäckerig, fahre ich.

Zeit zum Umdrehen, denn 80 Kilometer Rückweg warten auf mich. Den schönen Radweg durch die polnischen Uferauen spare ich mir für das frühe Frühjahr auf. Rund vier Stunden werde ich gegen den Wind brauchen, um über Schiffmühle, am Fontane-Haus vorbei, durch Bad Freienwalde , dann nach Falkenberg und die heftige Steigung die Oderbruchkante hoch. Als ich wieder die Barnim-Wellen erreiche, ist mir wohlig warm geworden. Die innere Heizung funktioniert sehr gut. Es wird dämmrig, Bodennebel bildet sich. Gut, dass ich meine Lupine-Piko vorn und die Lezyne Rückleuchte hinten angebaut habe. So kann mich kaum ein Autofahrer übersehen. Ich komme langsam in meinen Rhythmus. Fast wie bei einem Brevet.

Zwischen Tempelfelde und Albertshof kann ich eine wahre Lichtinszenierung bewundern. Die roten Warnleuchten an den Windrädern wirken wie ein modernes Bühnenbild.

Ich probiere verschiedene Blenden-und Zeiteinstellungen meiner Olympus Tough. Lange Lichtspuren und Farbeffekte ohne jede Nachbearbeitung sind die Ausbeute. Um 19 Uhr, bei km 161, stehe ich wieder vor der Haustür. Zufrieden. Hungrig. Durstig.

Die Dutch-Capitals-Tour, 1000 Kilometer Gegenwind, das Finish

Ich schiebe mein Endurace vor die Tür und gebe den nächsten Trackabschnitt als Ziel ein. 81 Kilometer sind es bis Almere. Ein Blick auf die Wetter-App zeigt noch Niederschlag, der scheinbar nach Osten abzieht. Also los in die Dunkelheit. Ein Kollege aus dem Team ist rausgekommen und zeigt mir den Weg hinaus aus dem Sportplatzgelände. Das ist Service, auch nachts um 0.15 Uhr.

Vereinzelt gischten Autos über die Straße. Große Pfützen stehen auf dem Radweg. Macht nichts. Die Regenüberschuhe halten meine Füße trocken. Mit sanftem Schiebewind nähere ich mich Enkhuizen. Hier fängt es wieder an zu tröpfeln. Weiterfahren! Um halb zwei kurbele ich auf den Houtribdijk hinauf. Über eine hell erleuchtete Schleusenanlage von beeindruckenden 125 m Länge führt der Weg auf den eigentlichen Deich. 25 Kilometer wieder mal: Wasser links, Wasser rechts. Nur ist es jetzt stockdunkel. Meine E3 weist mir den Weg durch die Finsternis. Es regnet wieder stärker, und ich bin froh, dass ich die wasserdichte Schirmkappe unter dem Helm aufgezogen habe. So bleibt die Brille trocken. Der Radweg auf dem Deich hat kaum erkennbare Markierungen, die Oberfläche ist mäßig. Komisches Gefühl: Das Wasser hören und nicht sehen. Kurbeln!

Es fängt an zu schütten. Ich versuche, das zu ignorieren – es ist ja warmer Regen. 17 Grad, mitten in der Nacht, und das am offenen Meer. Nach einer halben Stunde bleibe ich stehen und schaue mich um – keine Lichter von Kollegen zu entdecken. Keiner vor mir, keiner hinter mir. Der Deich gehört den Kaninchen, den Möwen und mir. Auf halber Strecke, irgendwann gegen zwei Uhr wird es im Nordosten heller. Die Sonne kann es noch nicht sein. Die Lichter von Lelystad? Aber der Schein geht so hoch hinauf über den Horizont! Wie eine riesige fliegende Untertasse, die ihr Licht breit, gelb-grünlich mit etwas Violett in den Himmel schickt. Eine halbe Stunde lang werde ich von diesem unglaublichen Spektakel unterhalten. Dann, als ich Lelystad erreiche und in Richtung Almere abbiege, wird es wieder dunkel.

Auf der Suche nach Aufklärung dieses Phänomens, stoße ich auf eine Seite eines niederländischen Fotografen: Er hat das Lichtspektakel dieser Nacht im Bild festgehalten. Es war ein Nordlicht, eine Aurora Borealis. Gar nicht so selten hier am Ijsselmeer.

Nordlicht

Foto: Gijs de Reike

Genau so habe ich den Himmel über dem Meer in Erinnerung, eingebrannt in mein Gedächtnis. Auf den nächsten Kilometern geht mir dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf, selten habe ich so viel Bewunderung und Ehrfurcht vor der Natur empfunden.

Diese Nacht ist lang, der Kurs hat wieder in den Wind eingedreht. Der Tacho pendelt um 16 bis 17 km/h. Irgendwann muss doch diese verdammte Kontrolle kommen. Um fünf stehe ich vor der hell erleuchteten Großtankstelle. Glücklich, dass die Bedienung gerade das Brot zum Aufbacken in die Röhre schiebt. Meine Regensachen hänge ich über einen Stehtisch, die Dame der Tanke lässt es geschehen. Zwei heiße Kaffee, Baguette mit Käse und Schinken, und dann fülle ich noch meine Vorräte auf. Gummibären, Snickers und eine große Tüte mit gesalzenen Cashewnüssen. Luxus pur!

Als ich aufbreche, rollen William und Rob um die Ecke. Rob hat auf dem nassen Deich sogar eine Schlafpause eingelegt. Na, hoffentlich bleibt er gesund!

Meine Kräfte sind zurückgekommen. Es kurbelt sich wieder leichter. 1258 Kilometer sind weggearbeitet. Nacken gut, Füße gut, Hände gut, Beine gut! Das mag der Randonneur.

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Kurz vor Utrecht hat es sich eine Schwanenfamilie auf Straße und Gehsteig gemütlich gemacht. Utrecht, Kilometer 1304, Amsterdam, Kilometer 1348, Harlem, Kilometer 1366, s`Gravenhage, Kilometer 1416.

Keine Lust mehr zum Fotografieren, alle Kraft auf die Pedale, alle Konzentration auf die ungezählten Ortsdurchfahrten, ungezählte Ampelknöpfchen, ungezähltes Ampel-Warten, ungezählte Verbundsteinpflaster-Kilometer in den Orten.

So schön ist Holland, so freundlich sind die Menschen, so vorbildlich die Radweg-Infrastruktur. Aber bei einem Ultra-Brevet über 1400 Kilometer will man irgendwann mal nur fahren, ohne Stopps!

Am letzten Kontrollpunkt, s`Gravenhage, rollt Peter Zinner just vor der Tanke aus, als ich wieder starten will. Wir freuen uns beide, denn die letzten Kilometer ins Ziel werden so kurzweilig, und die Schmerzen reden wir einfach weg! Peter spendiert eine kühle Cola als Anschub für die 11 Finish-Kilometer. Wir lassen es locker angehen. Die Sonne lacht, der Wind zeigt, dass er auch ordentlich schieben kann. Um kurz nach 16 Uhr rollen wir auf das Sportgelände in Zoetermeer. Klatschen, Rufen, Händeschütteln… Es ist vollbracht! Ein letzter Stempel ins Heftchen, dann ein Bier und erstmal einfach hinsetzen und zur Ruhe kommen.P1060423

Zufrieden! Der Peter aus Düsseldorf.

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Zufrieden!  Matthias , 92 h 30 Min.

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Auch Willam Dickey aus Irland ist im Ziel

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Und auch der „Deichschläfer“ ist gesund angekommen

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Mein Endurace hat die Strapaze mit Bravour gemeistert. Zuverlässig, komfortabel, leichtfüßig.

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102h 06 min – und fertig!

Mein feucht gewordenes Brevet-Heftchen hat der Veranstalter einfach zum Trocknen auf die Leine gehängt. Peter, der Dritte neben Matthias und mir in unserem Team, fightet noch auf der Strecke. Er beißt und beißt und beißt sich durch. Um halb zehn ist auch er im Ziel. Chapeau!

Die Bilanz:

45 Anmeldungen – 41 Starter – davon 27 im Ziel

> Der Schnellste: Ymte Sijbrandij 67:50 h mit Velomobil DF

> Matthias: 92:30 h mit Troytec Revolution HR

> Dietmar: 102:06 h mit Canyon Endurace CF Pro

Nicht nur Berge, auch Wind und Wetter können selektieren.

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Freude!

Unspektakulär wie die Dutch-Capitals-Tour begonnen hat, so endet sie auch: Zusammensein vor dem Clubheim, ein Bier trinken, Erlebnisse austauschen. Peter aus Düsseldorf macht sich fertig für die Fahrt zum Bahnhof. Er will noch heute Abend nach Düsseldorf zurück. Harter Junge!

Im Hotel gönnen wir uns noch ein paar Absacker-Biere. Ich schlafe schon an der Theke ein. Die Treppe hochstaksen und in tiefen Schlaf fallen. Morgen lacht wieder die Sonne.

Die Dutch-Capitals-Tour, 1000 Kilometer Gegenwind, Teil 1

Matthias war es: Er hat uns infiziert mit dem Erreger! Er hatte sich ihn schon 2012 eingefangen – bei der ersten Auflage der „Dutch-Capitals-Tour“. Mit Bravour nahm er die 1425 Kilometer unter die Räder, und ich las neidvoll und anerkennend seinen Bericht.

Dieses Jahr haben Matthias, Peter und ich uns angemeldet für die Auflage Nr. 2 vom 13.bis 17. Juli. Ich habe die komplette Brevet-Serie gefahren und noch reichlich mittlere Distanzen dazu. 9000 Kilometer habe ich in diesem Jahr schon in den Beinen und fühle mich gerüstet für mein Saisonziel:

1425 Kilometer am Stück, durch alle Provinz-Hauptstädte Hollands – „Dutch Capitals“ eben. Nicht viele Höhenmeter, kommentieren Kollegen. GPSies weist ca. 5900 Hm aus. Aber bekanntlich ist der Wind des Flachländers Berg! Und pusten kann es an Hollands Küsten mächtig – und regnen auch.

Am 12. Juli bringt uns Matthias in seinem Van komfortabel zum Startort Zoetermeer. Am schwierigsten gestaltet sich das Finden des Starts. Kein Hinweis, nichts! Nur ein großes Sportgelände, ein Hundetrainingsplatz und andere suchende Teilnehmer. Dann winkt uns ein Kundiger auf das Gelände, das mit einer Schranke abgesperrt ist: Jubel – hier steht das moderne Gebäude der „Toervereniging Zoetermeer ´77“ .

Wir werden herzlich empfangen, bekannte Gesichter von anderen Langstrecken-Brevets sitzen vorm “ bakje koffie“. Eine sehr persönliche, geradezu familiäre Veranstaltung ist das hier. 42 Starter sind eingetroffen, die Unterlagen werden ausgegeben, Guus van Charante erklärt die wichtigsten Regeln auf Holländisch und Englisch. „Bleibt auf den Radwegen!“, lautet eine deutliche Botschaft.

Alles wirkt unspektakulär, unaufgeregt – sehr beruhigend und angenehm. So ganz anders als bei „PBP“ mit über 5000 Teilnehmern und einer Riesenorganisation.

Am Mittwochmorgen finden wir uns dann gegen 9 Uhr am Startplatz ein. Sehr deutlich ist die Präsenz der schnellen Velomobile und der Liegeräder.

Auch Ymte Sijbrandij, der absolute Star der Velomobil-Rennszene, Weltrekordhalter, Weltmeister …, gibt sich die Ehre. Alle Räder sind langstreckentauglich, wenn auch die individuellen Lösungen sehr unterschiedlich daherkommen. Das Titanrad von William Dickies aus Irland – klassisch mit Carradice-Tasche am Sattel. Oder Matthias‘ Troytec mit den Taschen von Radical an den Seiten. Leo Försters  (Mr. PBP) Markenzeichen ist seit langem die Querstange mit Lampenkollektion und Garmin-Kamera.

Unter den Beifallsbekundungen von einigen Dutzend Zuschauern geht es pünktlich um 10 Uhr auf die ersten von insgesamt 1425 Kilometern. Ein frischer Westwind weht, das Thermometer zeigt 15 Grad. Sehr angenehm, besonders auf den ersten 50 Kilometern. Der Rückenwind schiebt gut. 27 km/h Schnitt trotz Ortsdurchfahrten und Zickzack-Kurs. Velomobile, Lieger und „Uprights“ sausen einträchtig über zum Teil schmale, aber gute Radwege. Südlich von Rotterdam dreht der Kurs dann in den Wind, und wir bekommen die Naturkräfte zu spüren. Schauerwolken türmen sich auf und lassen einen eiskalt klatschenden Regen auf uns niederprasseln. Einige halten an und ziehen die Regenjacken über. Ich fahre weiter. Kurz bevor Nässe und Kälte den Körper erreichen, lässt der Regen nach. Der Gegenwind trocknet uns wieder ab.

Beeindruckend sind die gewaltigen Hubbrücken, wo die Straße für die Durchfahrt riesiger Frachter mal locker 20 Meter nach oben gekurbelt wird.

Nach gefühlten 20 und realen 10 Minuten Pause stürzen wir uns wieder in den Gegenwind. Die Ortsdurchfahrten liegen hinter uns, das Deichland vor uns. Wir rollen zu dritt durch Dünen, über Brücken, am Deich entlang. Schafe knabbern Gras, Möwen fliegen elegante Schwünge. Schön ist das hier in Holland.

Nach 100 Kilometern hat der Veranstalter mitten auf dem Deich eine „Geheimkontrolle“ eingerichtet. Ein Stempel kommt ins Büchlein, der Name mit Zeit in die Liste. Hier soll keiner ungestraft die Hafenrunde um Rotterdam abkürzen können.

Jetzt beginnt Urlaubsfeeling. Weite Strände, Surfer, Badegäste –  fast vergessen wir den fiesen Gegenwind.P1060341P1060342

Wir haben unseren Rhythmus gefunden, kurbeln gleichmäßig. Vor uns schlenkert ein junger Bursche auf dem Deichweg mir einer Angel herum. Ich rufe: Achtung! Er dreht die Angel rechtzeitig zur Seite. Ein paar Meter weiter trifft mich ein klatschendes Etwas auf der Wade, ich drehe mich um – haben die Jungs eine Wasserbombe losgelassen? Nein, sie schauen nicht nur unschuldig, sie sind es auch. Es ist auch keine Wasserbombe, sondern fette, unfassbar stinkende Möwenkacke. Da hat mich doch wahrhaftig eine dicke Möwe aus vollem Flug heraus beschissen. Auch Matthias kann kaum glauben, wie heftig ich getroffen bin. Die Wade, die Socken, der rechte Schuh, die Ortlieb hat einen Streifschuss, Sogar die schöne DT-Swiss-Nabe ist grün bekleckert.

Erste Hilfe leistet Matthias mit einem Paket Feuchttücher. Wade und Hose sind wieder sauber. Der bestialische Gestank bleibt.

Um 17 Uhr erreichen wir Middelburg, die Hauptstadt der Provinz Zeeland. IMG_0830

Matthias ist bester Laune. Wir tun es ihm gleich – Trinkflaschen auffüllen, Kaffee trinken, süße Stückchen verspeisen. Weiter geht die Reise, ab jetzt mit dem Wind im Rücken. 64 Kilometer bis Ossendrecht. Das reiten wir locker ab. Um 20.30 Uhr rollen wir am Kontrollpunkt aus. Hier soll es eine erste Mahlzeit geben. Erwartungsvoll gehen wir in den Gastraum, bestellen Cola ( 0,2 l -Fläschlein), davon schlürfen wir gleich drei leer. Dann verkündet die Wirtin, sie müsse schauen, ob sie noch eine dritte Suppe hätte … Womit hat die gute Frau gerechnet? Randonneure sind hungrig! Nach 20 Minuten stehen unsere Suppen auf dem Tisch. Etwas dünn, aber dafür heiß.

Die nächste Etappe steht an: nach s`Hertogenbosch, der Hauptstadt von Nordbrabant. 104 Kilometer und immer noch leichter Rückenwind. Das wollen wir so lange wie möglich nutzen. Peter hat beschlossen, eine Hotel-Ruhepause in Breda einzulegen. Matthias und mir ist das zu früh für den ersten Tag, wir wollen die Nacht durchfahren und erst in der Folgenacht ein Hotelbett suchen. So verabschiedet sich Peter nach Breda, Matthias und ich   sind die Nachtfalter. Gleichmäßig und ruhig rollen wir über sattglatte Radwege. In Eindhoven erleben wir, wie Prioritätsschaltungen für Radfahrer funktionieren. Langsam an die Radfahrerampel annähern und Wupp, schaltet die Ampel auf Grün! So durchqueren wir zügig die nachtschlafende Stadt.

Um halb fünf beschert uns die aufgehende Sonne Morgennebel und eine echte Turner-Stimmung. Die Vögel sind schon lange aktiv und halten uns auf die beste Weise mit ihrem Gesang wach. Als nächste Provinz ist Limburg dran mit der Hauptstadt Maastricht. An der „Oude Maas“ entlang arbeiten wir uns nach Süden. Matthias würde gerne einen Tack schneller fahren, merke ich. Es läuft gut auf seinem Troytec-Lieger. In Susteren dann machen wir eine kurze Pause, ich etwas länger, und Matthias fährt jetzt voraus. Ich brauche hier eine kleine Auszeit. 20 Minuten später fühle ich mich schon deutlich erholt und steige wieder auf mein Endurace.IMG_0831

Auf dem Weg nach Maastricht und der Kontrolle in Eijsden wird es malerisch. Schmale Wege, Kopfsteinpflaster. Rauf und runter neben der Maas. Ich entscheide mich für den schmalen Pfad hinauf auf den Deich und kann ein paar Meter abkürzen. Psychologisch von Vorteil! In Eijsden ist die Stempelstelle eine Autobahnraststätte, die wir „durch die Hintertür“ betreten. Ein schmales Törchen ist geöffnet, ein paar Meter Matschweg, und schon stehe ich vor der Raststätte – und vor Matthias, der auch noch nicht lange hier ist. Km 469. Ab hier geht es hinein in die Limburger Hügel. Schließlich ist der nächste Kontrollpunkt auch der höchstmögliche in Holland. Stolze 325 Meter hoch. Das hört sich nicht besonders anspruchsvoll an, allerdings gibt es auf den 38 Kilometern einige fiese Rampen zu erklettern. Nach fast 500 Kilometern wird das zäh und tut richtig weh. William Dickey aus Irland sitzt hinter der Leitplanke und repariert seine gerissene Kette. Mein Mitgefühl hat er, helfen kann ich ihm hier nicht.

Matthias, Ed Dekker, Guus van Charante und ein paar weitere Randonneure kommen mir kurz vor dem „Gipfel“ schon wieder entgegen. Also bin ich nur ein paar Minuten hinten. Nicht so schlecht wie ich befürchtet hatte.

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In Vijlen ist die nächste Kontrolle und gleichzeitig eine Möglichkeit zu schlafen. Am helllichten Tag um vier Uhr nicht die ideale Zeit, aber ich brauche eine Auszeit. Matthias ist auch hier, und wir verspeisen köstliche Spaghetti. Während ich mich eine Treppe nach oben in ein spärliches Schlafgemach verziehe, geht Matthias schon wieder auf Strecke. Recht gemütlich ist es nicht. Der einzige nutzbare Platz ist der quer auf einem Zweiersofa. Knapp zwei Stunden ruhe ich hier und horche dem Schnarchen der Kollegen.

In der Nähe von Roermond, bei ca. km 600, will ich eine Hotelpause einlegen. Im „Asselt“ bekomme ich ein Zimmer – Dusche und Toilette auf dem Gang. Das Duschwasser ist heiß, wunderbar, der Schlaf tief und traumlos. Bis um drei. Dann klingelt der Wecker. Schließlich muss ich spätestens um 8.28 Uhr am nächsten Tag in Arnheim sein. Km 674!

Erfreulich erholt und frisch starte ich in die Morgendämmerung. Es rollt! Arnheim erreiche ich gegen 8.15 Uhr. Provinz Gelderland.

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Endurace an lila Scheibenreiniger – Eine Art Screenwash könnte ich hier auch vertragen

Jetzt bin ich wieder „bei der Musik“. Der nächste Punkt ist Hengelo, km 765. Die psychologisch wichtige Halbzeit der Tour. Mit leichtem Rückenwind kann ich wieder Zeit gutmachen. In Hengelo habe ich wieder ein Polster von drei Stunden, in Zwolle bei km 850 dann wieder fünf Stunden. Das beruhigt ungemein! Am Deich nach Zwolle haben zwei Velomobilfahrer ihr Lager aufgeschlagen:P1060360

Um 19 Uhr rolle ich in Zwolle aus. Hier gibt es auch die Möglichkeit zu schlafen, aber ich will den noch deutlichen Rückenwind nach Emmen hin  nutzen. So lange er noch weht. Also verspeise ich köstliche Pasta, genieße die überaus herzliche Gastfreundschaft des Teams, sitze 20 Minuten auf einer weichen Couch und mache mich dann wieder auf den Weg. Ich fühle mich noch gut: keine Schmerzen, der Nacken macht gut mit, nur die Hände sind etwas taub.

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Mit Sonne und Wind im Rücken ist das Fahren der reine Genuss. In sanften Schwüngen über die Deiche durch ein herrliches Naturschutzgebiet. Reiher, Schafe, Kühe, Ziegen – alle in sanftem Abendlicht.

Vor mir fährt William Dickey, ein Randonneur aus Irland, den ich bis zum Ende der epischen Tour immer wieder treffe.

Am liebsten würde ich bis zur nächsten Kontrolle in Emmen fahren, km 936, aber das wird wohl zu spät für die nächste geplante Hotelübernachtung. Also rufe ich Jutta an und nehme ihre bekannt guten organisatorischen Fähigkeiten in Anspruch. 20 Minuten später hat sie ein ein Hotel in Coevorden gefunden und gebucht. 20 Kilometer vor Emmen. Top!

Um 22.55 Uhr stehe ich vor der Eingangstür des Best Western. Das Endurace darf ich auf mein Zimmer mitnehmen. Der Portier zapft mir noch als Schlummertrunk ein großes Bier. Auf dem Zimmer, raffe ich mich noch auf, Trikot und Unterhemd zu waschen, dann falle ich in Tiefschlaf, bis der Wecker um 4.45 Uhr klingelt. Um Fünf bin ich wieder erholt und ausgeruht auf der Piste. Diese Art von Pausen- und Schlafmanagement scheint sehr gut aufzugehen. Nach fünf Stunden Tiefschlaf gibt es so eine Art Reset für Körper und Geist. Es geht frisch wieder von vorne los. So hatte ich mir das erhofft.

Mehr als die Hälfte der Strecke ist geschafft. Ich fühle mich gut, habe keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, aufzugeben. So kann es weitergehen.

FOLGE ZWEI kommt morgen. Bleibt neugierig!