Zu langen Strecken bin ich noch nicht aufgelegt an diesen nasskalten Tagen mit wenig Licht. Aber raus muss ich. Stubenhocken ist nicht mein Ding. Lieber rolle ich ein paar Kilometer am Rand der großen Stadt oder auch hinein in den wuseligen Kern. Es gibt immer etwas Neues zu entdecken oder auch Bekanntes aus neuer Perspektive zu betrachten.
2. Februar
Der Himmel ist grau, zwei Grad plus zeigt das Thermometer, wetteronline verspricht Auflockerungen und etwas Sonne am Nachmittag. Einzelne Schauer sind möglich. So wähle ich meine bewährte Gore-Winterjacke, eine gut wärmende lange Hose und die wasserdichten Mavic-Schuhe. Merino-Unterwäsche sorgt für wohliges Gefühl. Heute ist mein Basso Crosser mit Schutzblechen das Rad der Wahl. Der frische Nordwest schiebt mich sanft über Berlin-Buch in die Barnimer Feldflur. In Berlin-Marzahn, am Rande des Westparks blüht eine mächtige Blume. Sie blüht das ganze Jahr über. Sie ist aus Stein und mit buntem Mosaik bedeckt. Das Künstlerehepaar Christine Gersch und Igor Jerschov haben das 2,50 m hohe, „Echinacea“ genannte Sitzobjekt 2005 hier aufgestellt.

Marzahn und die Plattensiedlungen Wartenberg und Lindenberg waren Vorzeigeprojekte des Sozialistischen Wohnungsbaus, ähnlich wie auf der Westseite das Märkische Viertel mit seinen Wohnklötzen. Nach Osten arbeite ich mich Kilometer um Kilometer aus der Stadt heraus. Als ich ein Schild mit dem Hinweis auf Dahlwitz-Hoppegarten lese, bekomme ich Lust, mir die berühmte Pferderennbahn anzusehen. 45 Minuten später erreiche ich den Rand des riesigen Geländes. Zäune, geschlossene Tore, wo ist denn hier ein Eingang? Es fängt an zu regnen als ich ein offen stehendes Türchen entdecke. Ich schlüpfe samt Basso hindurch und staune über leere Pavillons und die riesigen Tribünengebäude. Kein Mensch ist hier zu sehen, geschweige denn ein Pferd. Als der Regen richtig loslegt, kann ich mich unterstellen und das gesamte Ensemble auf mich wirken lassen.
Trostlos, verlassen und angegammelt, so sehen Gelände und Gebäude aus. Ich hatte erwartet, eine gepflegte, eher herrschaftliche Anlage vorzufinden. Weit gefehlt.



Als im Jahre 2008 ein Investor die Liegenschaften vom öffentlichen Träger übernommen hatte, sollte es wieder aufwärts gehen mit den Pferderennen. Es ging – aber eben etwas langsamer als sich Investor und wahrscheinlich auch die Gemeinde Dahlwitz-Hoppegarten gewünscht hatten. In den Zeiten, als die Rennbahn ein VEB-Betrieb war, strömten regelmäßig 40000 Gäste auf Tribünen und Anlage. Heute gilt es als Erfolg, wenn 4000 Gäste gezählt werden.
Ich erlebe an diesem Tag die altehrwürdige Rennbahn im Winterschlaf. An den Tribünengebäuden blättert der Putz ab, Geländer und Fenstergitter rosten vor sich hin, Die Holzbuden brauchen dringend einen neuen Anstrich.


Ostersonntag ist Saisoneröffnung. Dann rennen hier die schnellen Pferde und die Damen mit den großen Hüten zeigen sich auf den Tribünen. In der Holzbude werden dann Polnische Schaschlik angeboten. Bis dahin gibt es noch einen Menge zu tun.

Der Regen ist abgezogen, mein Basso möchte endlich wieder rollen. Nach Berlin zurück. Der Himmel ist tiefblau, die Sonne zeigt ihre wärmende Kraft.












Langsam aber stetig arbeite ich mich von Osten her in die Stadt hinein. Mittlerweile gibt es wesentlich mehr vernünftige Radstreifen auf den breiten Straßen als noch vor fünf Jahren. Es hat sich etwas getan. Auf dem Hackeschen Markt werden die Stühle rausgestellt. Ein Pianoplayer spielt auf der noch regennassen Friedrichsbrücke. Ich genieße die friedliche Stimmung. Dann steige ich ab und schiebe mein Basso kreuz und quer durch die Kolonnaden vor der Nationalgalerie, entdecke eine Gruppe junger Frauen, die offensichtlich – als Engel verkleidet, eine Performance proben. Fotografieren lehnen sie ab. Ich kann es verstehen. Dafür kann ich die Linse meiner Olympus Tough auf die historischen Gebäude richten. Das Licht ist herrlich, die Schattenrisse der Skulpturen wunderbar.
Vor der Humboldt-Uni liegen alte Zeitungen und Bücher aus. „Papierflohmarkt“. Ich staune über die Schlagzeilen der 60er.
Das Brandenburger Tor ist offensichtlich völlig unbeeindruckt von dem heftigen Crash eines rasenden Mercedes-Fahrers, der vor ein paar Tagen seine Fahrt an einer Säule ruckartig und tödlich beendete.





Reichstag und Paul-Löbe-Haus präsentieren sich im Postkartenlicht. Ich fotografiere „Das Auge des Kanzlers“, wie der Berliner die kreisrunden Öffnungen gerne nennt. Zu Zeiten der Kanzlerschaft von Helmut Kohl wurde der riesige Gebäudekomplex entworfen und gebaut. Gerhard Schröder zog dort ein, Angela Merkel regierte sagenhafte 16 Jahre lang von hier aus. Weiter am Seeufer entlang passiere ich das Schloss Bellevue, die Institute der TU Berlin, dann erreiche ich den „Siemenssteg“ , eine Fußgängerbrücke aus dem Jahre 1900, die hinüber führt zum Kraftwerk Charlottenburg. Werner von Siemens soll hier in der Nähe seine Villa bewohnt haben.

Ab hier wird die Stadt wieder ruhiger, die Spree biegt am Schloss Charlottenburg vorbei nach Norden ab. Ich erreiche den Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal und rolle auf dem Radweg am Ufer bis zur Tegeler Brücke, wo ich über die Bernauer Straße durch den Forst der Jungfernheide kurbele. Ruhig ist es hier, nebendran schläft der ehemalige Flughafen Tegel. Die meistens niedrig über die Straße anfliegenden Jets vermisse ich geradezu. Es ist dämmrig geworden, und so schalte ich meine Festbeleuchtung ein. Zwei Rücklichter und die alte Sigma Sport vorne.
Die Runde hat bei mir die Lust auf weitere Erkundungsfahrten geweckt. Es gibt noch so viel zu entdecken in dieser schönen, vielfältigen, widersprüchlichen, immer im Umbruch befindlichen Stadt. Berlin ist immer Baustelle, wird niemals fertig. Trotzdem oder gerade deswegen bin ich hier so gerne unterwegs.
Bis zur nächsten Runde.
liebe Eva, als Sitzgelegenheit ist die Mosaikskulptur auch nur mäßig geeignet. Die Künstler – besser eigentlich Kunsthandwerker – wohnen in meinem Heimatort und haben sich schon vor Schulen, vorm Rathaus etc. austoben dürfen. Deshalb kam mir der Stil der Echinacea bekannt vor. >>> beste Grüße und bleib munter.
Wie schön, die Echinacea in deinem Blogpost zu entdecken, lieber Dietmar. Im hiesigen Familienjargon der “traurige Pilz” genannt und gern bei Radtouren als Standortdurchgabe synonym für “bin gleich zuhause” verwendet. Danke für diesen Gruß von unterwegs!