Das Zeitfahren von Hamburg nach Berlin hat sich immer stärker etabliert. Wer nicht zügig die Anmeldung auf den Weg bringt, hat das Nachsehen. So sind auch dieses Mal die begehrten Startplätze nach zwei Tagen ausgebucht. Was ist so reizvoll an „HH-B“? Der Wind, der häufige Regen, die schlammigen Wirtschaftswege der Dannenberger Marsch? Oder doch mehr die Gesellschaft leicht verrückter Radsportler, die sich am Ende der Saison noch einmal so richtig die Kante geben wollen? Oder ist es das gleichsam professionell agierende wie warmherzig-freundliche Veranstalter-Team um Burkhard Sielaff ? Etwas von allem muss es sein, schätze ich.
Samstag, 15.Oktober, 06.59 Uhr. Das ist unsere Startzeit. Peter, Peter und ich wollen das Abenteuer angehen. Wolfgang, der ursprünglich Vierte im Bunde hat sich eine Virusinfektion eingefangen und kann uns deshalb nur mental seine Unterstützung bieten. Am Freitag ist Anreisetag: Vier Stunden im Regionalzug bis nach Hamburg-Bergedorf. Ungefähr dreimal so viel Zeit werden wir in der entgegengesetzten Richtung per Rad benötigen. Wenn es gut läuft.


Im Hotel in Bergedorf beweisen wir dann noch unsere Qualitäten als „Genießer-Randonneure“. Seeteufel, Erdbeeren auf Mascarpone, dazu köstlicher Rotwein. Wenn sich Chris Froome ein solches Mahl am Vorabend eines Zeitfahrens gegönnt hätte – sein Teamchef hätte ihn wohl suspendiert. Wir hingegen frönen sauberen Gewissens nach dem Goethe-Plädoyer „Das Leben ist viel zu kurz, um schlechten Wein zu trinken“, den Gaumenfreuden. Am nächsten Tag haben wir reichlich Gelegenheit, die eingefahrenen Kalorien wieder „wegzutreten“.
Um fünf Uhr in der Frühe ist die Nacht herum. Duschen, rein in die Radklamotten und ab auf die ersten acht Kilometer in den noch finsteren frühen Morgen zum Alten Fährhaus in Altengamme. Hier ist der Start für HH-B. Hier haben Burkhard und sein Team ein ordentliches Frühstück für die 300 Starter vorbereitet.

Dann klettern wir die Stufen zum Alten Fährhaus hinab, gönnen uns Rührei, Schinken, Brot und und … junge wilde Sportler, alte ergraute Recken drängen sich friedlich am Buffet, während die ersten oben auf dem Deich schon über die Startlinie rollen.
Hast du den richtigen Track im Navi aufgerufen, Beleuchtung o.k., Trinkflaschen gefüllt, Snickers in der Trikottasche, Regenjacke dabei … gut. Dann kann es losgehen.
„BB-Randos“ – unser Dreierteam wird aufgerufen, und schon sind wir unterwegs in die feuchte Kälte des Morgens.

Warmfahren! Als wir die Elbbrücke bei Geesthacht überqueren, fängt es an zu tröpfeln. Verdammt, der Wetterfrosch liegt richtig mit der Vorhersage: Ab sieben Uhr leichter Regen, und den bekommen wir schön genau von vorn vom Ostwind ins Gesicht geblasen. Spätestens hier werden die Starter mit Dreiviertel-Hosen und dünnen Windjacken sich fragen, ob das die richtige Ausrüstung für heute ist.
Artlenburg, Hittbergen, Bleckede – es regnet gleichmäßig, der Wind frischt auf. Fünfer-Teams, kleine Gruppen … die ersten Schnellen überholen uns. Peter entscheidet kategorisch, dass wir unser Tempo weiterfahren. Keine Windschattenhatz. Der Tag ist noch lang. Mindestens zweimal sind wir wieder vor den Schnellen, weil wir den kürzeren Track herausgefunden haben. Irgendwelche Vorteile dürfen Alter und Streckenkenntnis schließlich haben, frohlocken wir. Die Wellen hinüber nach Hitzacker beißen ordentlich in die Waden, der Ostwind bremst. So sind wir froh, nach regenfeuchten, lehmbelegten Wirtschaftswegen endlich die Elbbrücke bei Dömitz zu erreichen.
Schön nass, schön windig! Aber, wie lautet die alte Erkenntnis: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur ungeeignete Kleidung.
Als wir in der Kontrolle in Dömitz einlaufen, habe ich beide Trinkflaschen geleert. Zwei Snickers sind auch schon im Magen gelandet. Meine Gore-Jacke ist vorne feucht vom Regen und hinten vom abdampfenden Schweiß. Ein klares Zeichen dafür, dass die ersten knapp 100 Kilometer eine kraftraubende Angelegenheit waren. 3 h 50 Min. – meinen 27er- Schnitt vom Vorjahr erreichen wir nicht annähernd. Trotzdem mussten wir dafür mehr arbeiten.









Nach genau 15 Minuten Pause, Rosinenbrot, Vollkornstulle und Kuchen, gehen wir mit frisch gefüllten Trinkflaschen auf den zweiten Teil der Strecke. Es tröpfelt nur noch leicht, dafür wird der Gegenwind fieser. Wir fahren den Mini-Dreierkreisel. Jeder so lange vorn, wie er Luft hat. Lenzen, Lanz, Cumlosen und auf der anderen Elbseite Gorleben.

Über uns Schwärme von schnatternden Wildgänsen auf dem Weg in den sonnigen Süden. Schnurgerade Wege, Buschreihen, Deiche, riesige Weiden, Kühe und Reiher, Schafe und Rehe. Wo sind die Menschen geblieben? Doch, doch, es gibt sie noch hier in den Elbauen. Die riesigen Traktoren mit breiten, wummernden Reifen werden von Menschen gelenkt. Und sie machen uns Radlern freundlich Platz. Moin, Moin, mit der Hand an der Schiffermütze.

Wie schön hätten diese Blumen bei Sonne geleuchtet! Heute liegt der graue Himmel wie ein Filter über den Feldern.
Peter hat Hunger, wir haben Hunger, Peter hat schon vorbereitend den McDonald’s am Westrand von Wittenberge in die Karte eingetragen. Den McD schon in Sicht, hupt uns ein mattgrüner, alter VW-Bulli aggressiv an. An der Ampel erkennen wir rechts und links aufgeklebte rotschwarze, eiserne Kreuze. Solche Autos beanspruchen offensichtlich gerne mal die ganze Straßenbreite. Peter W. lässt sich nur widerwillig in den McD locken. Wobei wir doch gelernt haben: Hier wirst du schnell satt, bekommst reichlich Kalorien in den Körper, und die Toiletten sind sauber. Was will der hungrige Zeitfahrer mehr?! Peter bestellt Pommes, der zweite Peter und ich lassen Steakhouse-Beef-Classic-Menues auffahren. Satt verlassen wir nach 15 Minuten den Fastfood-Tempel.
On the road again. Gefühlt verlaufen hier alle Wege geradeaus bis zum Horizont. Mal eine Allee, mal ein Teich, ein Kirchturm, eine Dorfstraße ohne Menschen, dafür aber gepflastert. Wir leiden. Die Trikots sind feucht von Regen und Schweiß, wir frösteln und schwitzen gleichzeitig. Zu lindern ist dieser Zustand erfreulicherweise durch beherztes Treten in die Kurbeln. Dann überwiegt die körpereigene Wärmeentwicklung die von draußen anrennende Kälte. „Berlin ist regenfrei“, tröstet uns der erkältungsverhinderte Wolfgang und schickt uns ein aufmunterndes „Ich leide mit euch“.
Wir rollen durch Havelberg, bestaunen den massigen, riesigen Dom. Und wieder weiter, immer geradeaus. Bei Gegenwind fühlt sich das doppelt lang an. Wo wir sonst locker mit 28-30 km/h unterwegs wären, zeigt der Sigma heute nur ab und an die 25. Von Ferne schon sehen wir den Fernmeldeturm von Rhinow, 101 Meter hoch und zu DDR-Zeiten als Abhörstation für Fernmeldegespräche gebaut. Einen heißen Kaffee könnten wir hier gut vertragen, doch wo bekommen? Kein Restaurant, keine Imbissbude lacht uns an. Kurz vor der Depression erinnere ich mich an eine kleine Tankstelle am Ortsausgang, an der ich schon vor vier Jahren mal einen Liter Apfelschorle getankt hatte. Gibt es die noch? Es gibt sie noch!

Dann spendiert uns Peter W. großzügig ein Veltins, das wir gierig aus Kaffeebechern schlürfen. Solchermaßen physisch und psychisch gestärkt, verlassen wir diese Stätte gen Westen. Und nicht vergessen, Lilienthal hat hier seine ersten Flugversuche gemacht, es gibt ein interessantes Museum und nebendran den ältesten Flugplatz weltweit zu besichtigen.

Der Wind lässt nach, die Sonne ist über dem Grau schemenhaft zu erkennen. Angenehm für Körper und Seele. Unser Tritt ist zäh geworden, nicht mehr locker und leicht. Für die letzten 80 Kilometer werden wir unseren Durchhaltewillen aktivieren müssen. An einem leichten Anstieg, kurz nach Passieren des Lilienthal-Denkmals, erkennen wir vor uns einen Liegeradfahrer, der bedenklich nahe an der Fahrbahnmitte unterwegs ist . Dann wird er langsamer, wir kommen näher, er schwankt und fährt in Schlangenlinien. Kurz bevor wir ihn erreichen, rollt er an den Straßenrand und nimmt die Füße aus den Pedalen. Das war knapp! „Ich habe wohl einen Hungerast und fühle mich nicht gut“, antwortet er auf unser besorgtes Fragen. Wir schauen uns ihn genau an, der Kreislauf scheint o.k. zu sein. Unser Snickers-Hilfeangebot schlägt er aus – er habe selber Schokolade und Süßes dabei und bedeutet uns, wir sollten ruhig weiterfahren. Mit gemischten Gefühlen lassen wir ihn zurück.
Friesack, Paulinenaue, Bienenfarm, wir sind im heimischen Trainingsterrain angekommen. Das Oregon hat seine Schuldigkeit getan, wir kennen uns aus auf den nächsten Kilometern. Peter hat noch eine schöne Umfahrung des Outletcenters in Wustermark erkundet – die ist sehr entspannend im Vergleich zur B5-Parallele. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Die LED-Fluter erhellen die Fahrbahn. Und treffen am Stadtrand auf den Berliner Bären.

Die Berliner Radwege sind nicht vom Feinsten, aber das kennen wir ja. Ein paar Minuten noch, dann sind wir im Ziel. Bratwurst, heiße Suppe, Bier, geheizte Räume … das Paradies für Randonneure wartet.


Nicht schnell, aber geschafft ohne geschafft zu sein. Start 06.59 , Ziel 20.31 Uhr. Heute haben wir den Altersbonus in Anspruch genommen.
Eine klasse Veranstaltung haben Burkhard und das Team vom Audax Club Schleswig-Holstein auf die Beine gestellt. Chapeau! Danke sagen die BB-Randos.
Und ich bedanke mich bei meinem treuen Endurace und der wasserdichten Ortlieb, die wunderbar als Schutzblech taugt.
Nachtrag: 334 Fahrer gemeldet, 270 Starter, 236 Finisher
Hallo Joas, über Dein Missgeschick mit dem Garagentor hatte ich seinerzeit schon gelesen. In 2017 wird es dann was. Auf viele schöne Radkilometer im nächsten Jahr. Genieße es!
all the best
Dietmar
Wunderbar zu lesen! Wie alle Deine Beiträge hier. Ich hatte mich dieses Jahr auch erstmals für HHB gemeldet, leider kam wir etwas dazwischen. Vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr und man sieht sich mal. Freue mich auf viele weitere Artikel hier und alles Gute für 2017, Dietmar!
Ein wenig Neid auf diese Erlebnisse kommt da bei mir immer noch durch 😉
Schöne Tour, so etwas macht einfach Spaß – bei jedem Wetter – Glückwunsch