Paris–Brest–Paris, Prolog

Willst du das unbedingt noch einmal machen? Fahren durch die Nächte, schwitzen, frieren, bis zur Erschöpfung und dann wieder von vorn … Das werde ich gefragt, das frage ich mich selbst zu Beginn dieses Jahres. Dann kommen die Quali-Brevets: 200, 300, 400, 600 km. Läuft! Schöne Kilometer mit viel Brandenburg, Meck-Pomm und Ostseestrand. Mit Freunden, netten Menschen in herrlicher Natur. Warum also nicht auch noch das Sahnehäubchen obendrauf: Paris–Brest–Paris! Ja, ich will es noch einmal, als Oldie, im 70sten Lebensjahr. Noch einmal die ganz besondere Atmosphäre dieser grandiosen Veranstaltung erleben. Dabei sein!

Immer, wenn ich mit meinem Alter kokettiere, weiß der Leser, dass es dann wohl doch nicht ganz so locker laufen sollte wie erhofft. Und so kommt es dann auch.

Aber von vorn: Welches Rad nehme ich dieses Mal? Das Titan-Granfondo oder doch das Canyon Endurace, das mich schon so zuverlässig und leichtfüßig bei der Dutch–Capitals–Tour über 1425 Kilometer getragen hat. Als ich auch nach Einziehen eines neuen Schaltzuges beim Granfondo die Ultegra nicht richtig exakt eingestellt bekomme – manchmal muss ich leicht nachjustieren beim Schaltvorgang, egal wie ich auch die Zugspannung einstelle – , fällt die Entscheidung zugunsten des Endurace mit seiner feinen Chorus-11-fach, die seit Jahren überaus zuverlässig und exakt schaltet. Die Campa-Bremsen greifen auch härter zu als die Cane-Creek beim Granfondo. Und gut 1 kg leichter ist das Endurace auch. Also baue ich meine Elektronik samt Nabendynamo und E3 Pro und Rücklicht wieder ans Canyon. Übung macht den Meister. fullsizeoutput_50dd

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Never change a winning configuration …

Am 16. August sitze ich samt Radkoffer im ICE von Berlin über Stuttgart nach Paris. Das 1. Klasse-Sparticket für 69 € sorgt für einen bequemen Sitzplatz. Der Bike-Bag lehnt sicher an der Waggonwand, und ich habe ihn sogar im Blick. Entspannung macht sich breit. „Et rollt“. Um 5 Uhr in der Frühe steige ich in Stuttgart aus – zwei Stunden Umsteigezeit sind totzuschlagen. Erst um 7 Uhr startet der TGV nach Paris. Und das Warten im „Umbaubahnhof“ Stuttgart erlebe ich als absolute Zumutung für Fahrgäste. Das ursprüngliche Angebot an Gastlichkeit im alten Bahnhofsgebäude existiert nur noch als leere Hülle, die neuen Läden sind noch nicht in Betrieb. Der Fahrgast steht einfach nur staunend in diesem Katastrophenbahnhof. Und das im „Ländle“ der so perfekten Schwaben. IMG_0842

Stuttgart – Bahnhofshülle ohne Inhalt

Nach langen zwei Stunden hin- und herlaufen, sitzen und staunen, kann ich endlich meinen gemütlichen Platz im TGV genießen. Und Kaffee gibt es auch einen Waggon weiter. Um 10 Uhr rollt der Zug pünktlich im Gare de l’Est ein. Ich laufe 150 Meter bis zu meinem vorgebuchten „Bagdrop“, einem Fotoladen, der sich ein paar Euro mit dem Aufbewahren von Touristengepäck verdient. Nach einer Viertelstunde habe ich mein Rad zusammengebaut und fahre 8 Kilometer durch Paris zum Gare Montparnasse, in dem die Vorstadtzüge starten. Schon eine Stunde später checke ich im Billig-Hotel IBIS-Budget in Coignières ein. Alles automatisch, per Code – Wegfall Personal! Das Zimmer ist winzig, aber das Rad passt noch vor das Bett. Bis 18 Uhr habe ich Zeit, zur Radkontrolle und zum Abholen der Startunterlagen in der Bergerie von Rambouillet zu fahren, dem diesjährigen Startort der letzten Etappe der Tour de France. Welche Ehre. Aber schließlich ist PBP älter als die Tour und deren legitimierter Vorgänger.

Der Himmel ist grau, es regnet leicht, der Wind bläst fies aus westlicher Richtung. Ich warte bis 14 Uhr und fahre los nach Rambouillet. 17 Kilometer, teilweise an der N 10 entlang, auf  einem Radweg, der einigen Unrat und auch Scherben zu bieten hat. Pünktlich zum Einrollen in den Park hört es auf zu regnen. Dafür sind die Parkwege vermatscht und fordern die Fahrtechnik. IMG_0899

 

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Radkontrolle und Übernahme der Startunterlagen sind perfekt organisiert, und so tun  die eingesauten Räder der guten Stimmung keinen Abbruch.IMG_0893 IMG_0874

Um 17 Uhr wollen sich die deutschen Randonneure an der anderen Ecke des Parks treffen zum Fototermin. Als ich mit meinen Unterlagen aus der Bergerie komme, ist es schon fast halb sechs. Die Reden sind gehalten, die offiziellen Bilder gemacht, Randonneure und Räder liegen und stehen noch auf der regenfeuchten Wiese. Alte Bekannte, viele neue Gesichter – das tut gut und beruhigt.

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Claus nimmt einen Novizen unter seine Fittiche

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Reden über vergangene Abenteuer, über Material, über die Stimmung hier, über Freunde, die nicht mehr dabei sein können … Und dann mache ich mich wieder auf den Weg nach Coignières. Mit Papiertüchern mache ich das Endurace zimmerfertig, checke wieder ein und suche mit mäßigem Erfolg in der Nähe eine gastliche Stätte, wo ich mich für den nächsten Tag stärken kann. Mein Aktionsradius ist durch den wieder einsetzenden Regen eingeschränkt. In einem McDonald’s-ähnlichen Schnellfress-Lokal werde ich dann zumindest satt. Um 22 Uhr liege ich im Bett und lasse meine Gedanken zu Strategie und Taktik und Zeitplan und und … kreisen. Irgendwann schlummere ich ein.

Beim Petit déjeuner, das wirklich „petit“ ist, lerne ich Michael und seine Frau kennen, die so freundlich sind, meinen Gepäck-Rucksack über die Tage bis zur Rückkehr aufzubewahren. Das wunderbare Hotel sieht sich nicht in der Lage, dies zu tun. Als die Regenfront gegen 13 Uhr endlich durchgezogen ist, rolle ich los gen Rambouillet. Die ersten Sonnenstrahlen brechen sich Bahn, und bei der Einfahrt in den Park blicke ich in jede Menge gut gelaunt dreinschauende Gesichter. P8184483-1.jpg

Sina, die zu den ganz schnellen deutschen Frauen zählt, unterhält sich bestens mit einem der Veranstalter.

Die meisten Starter haben sich schon um die Mittagszeit eingefunden. Etwas ruhen, etwas essen, rumschauen, Bekannte wiedersehen. Das ist das Vorbereitungsprogramm für den Start.

 

Alex Singer weiß, wie man treffliche Randonneur-Maschinen klassischer Art baut.

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Diese beiden begeisterten jungen Männer stehen beispielhaft für mehr als 2500 Volunteers, die dafür sorgen, dass PBP reibungslos verläuft. Beim Hineingehen in den Innenhof kommt mir  Gerhard entgegen, der sich gerade ein riesiges Bratwurst-Sandwich einverleibt. Draußen am See nehmen die Schweizer Randonneure Aufstellung zum Gruppenfoto:IMG_0950

Ein Kollege aus Japan meditiert mit Blick auf die herrlichen Schwäne.IMG_0945

Und am Eingang zur Bergerie treffe ich William aus Irland, mit dem ich 200 Kilometer der Dutch Capitals Tour Seite an Seite gefahren bin. Die Welt ist klein! OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Auffallend ist, dass Inder, Chinesen und auch Japaner wesentlich stärker vertreten sind als bisher. Die Langstrecken-Begeisterung verbreitet sich offensichtlich zunehmend in den asiatischen Raum. Besonders die Chinesen scheinen allerdings den Begriff „unsupported“ nicht so ganz ernst zu nehmen. Die Kollegen gehen mit Rädern in reiner Race-Konfiguration ohne jedes „überflüssige“ Gepäck an den Start.P8184502.jpg

Die chinesische Art: Trinkflasche, Werkzeug  und sonst gar nichts! Wo ist die Beleuchtung, die bei der Radabnahme kontrolliert wurde??? Jedem das Seine.

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Hier der historische Gegenentwurf aus Frankreich mit Hemd und Fliege und Eiffelturm am Lenker.

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Aus Malaysia geht ein Randonneur mit diesem Fatbike an den Start. Um es vorab aufzulösen: Mr. Cinchotikorn kam noch nicht einmal bis zum ersten Kontrollpunkt.

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Die Fahrer der Begleitmotorräder machen sich schon bereit, bald geht es los mit PBP 2019. Es fängt an zu kribbeln im Bauch. Ich gehe wieder an mein Endurace und schaue nach, ob auch wirklich alles korrekt montiert ist und fest am Rad sitzt. Die Riegel in der Tasche, die Datteln, die Powerbar-Tabletten, Langfinger-Handschuhe für die Nacht, alles ist da, es kann losgehen. Gegen 17 Uhr rolle ich in Richtung Startaufstellung. Mein Start wird um 18.15 Uhr sein.

 

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Der Startbogen rückt näher, die Uhr tickt herunter, Matthias und Stefanie sind zum Start gekommen und wünschen mir „bonne route“. Matthias startet erst am nächsten Morgen in der 84-Std.-Gruppe. P8184548.jpg

Soon Giap aus Thailand hat sich einen Propeller auf den Helm geschnallt und wünscht „happy new year“. Schräger geht es nicht.

Exakt um 18.15 Uhr kurbele ich über die Startlinie. Es geht los. Das Abenteuer hat begonnen.

9 Gedanken zu “Paris–Brest–Paris, Prolog

  1. Peter Pirk 5. September 2019 / 13:47

    Ich schliesse mich den Worten von Gerofalkenstein an.
    Wunderbar geschrieben.
    Ich bin richtig gespannt wie es weiter geht.
    MfG
    Peter Pirk

  2. randonneurdidier 5. September 2019 / 09:31

    Ja, viele Menschen schon, aber die ungeheure Vielfalt von Herkunft und Kulturen, bunt und ein Beweis dafür, dass ein friedliches, freudvolles Miteinander über alle Grenzen möglich ist. Und die Begeisterung und Gastfreundschaft der Franzosen allein lohnt die Teilnahme👍👍👍

  3. gerofalkenstein 5. September 2019 / 09:06

    „Und wäre nicht die Glut in unseren Herzen, so hätten wir die Kälte nicht ertragen“.
    Das Zitat stammt aus Ernst Buschs Lied über die Internationalen Brigaden in Spanien.
    Diese Zitat kommt mir wiederholt in den Sinn beim Lesen Deiner Berichte, den schön (selbst-)ironischen, kulturellen, über den Tag hinausgehenden.
    „Glut im Herzen“, die auch bei Dir für das Radfahren zu finden. Und dann kommt, so will es mir erscheinen, regelmäßig ein Windstoß und der bläst die Glut wieder zum lodernden, flammenden Feuer an, ein Feuer, das mich und meine Welt erhellt und wärmt. Nochmals herzlichen Dank.
    Allerdings: „In der Beschränkung erst zeigt sich der Meister“.
    Eine der vielen Beschränkungen des Lebens wird durch das Lebensalter vorgegeben. Da Du zu Beginn Deines Berichtes eine Andeutung gemacht hast, bin ich besonders gespannt, wie Deine diesjähriges Abendteuer ausgegangen ist.
    Herzlichst: Dein dankbarer gf

  4. tinotoni67 5. September 2019 / 09:02

    Danke schon mal für die Impressionen, macht auf alle Fälle Lust es auch mal anzugehen, obwohl angesichts der Massen an Menschen ein „Mal sehen“ bleibt.

  5. randonneurdidier 5. September 2019 / 08:38

    Schreiben macht wieder Freude – und danke für das differenzierte Lob

  6. randonneurdidier 5. September 2019 / 08:37

    Hab Dank, Christoph – jetzt habe ich endlich wieder Lust, zu schreiben…

  7. Stefan Hackenthal 5. September 2019 / 08:33

    Hallo randonneurdidier,

    das macht Lust auf mehr. Und: nächstes Mal bin ich auch dabei!

    Herzliche Grüsse aus Hannover
    Stefan

  8. crispsanders 5. September 2019 / 07:42

    ich hänge an Deinen Lippen, Dietmar . .

  9. gerofalkenstein 5. September 2019 / 07:42

    Spannend wie ein Kriminalroman. Weit gefächert, und doch auf das Wesentliche fokussiert, wie Fontanes „Wanderung durch die Mark Brandenburg“. Stilsicher wie Heine und Goethe Melodisch-ironisch wie der Sing-Sang aus Figaros Hochzeit. Informativ wie der beste Rad-Reiseführer. Welche Genuss, sagt ein dankbarer gt.

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