Der Brieselang und eine Eiche, die es nicht mehr gibt
Nach Westen führt mein üblicher Weg über Hennigsdorf hin nach Wansdorf. Die ersten 20 Kilometer fühlen sich gegen den frischen Südwest wie Arbeit an. Aus dem grauen Himmel fallen ein paar kalte Tropfen. Aber nur ein paar. Nicht genug zum richtigen Nasswerden. Außerdem schlummert in meiner Rahmentasche meine Shakedry-Regenjacke. Ungemein beruhigend. Beim Imbiss „Auszeit“ habe ich leider noch keinen Hunger, obwohl es hier gut schmeckende Pommes gibt. Ich bin einfach zu früh hier. Also lasse ich meine Blicke schweifen, rechts an der Durchgangsstraße in Pausin der leicht verranzte Lebensmittelladen „Ihre Kette“. Meine Kette würde das sicher nicht sein, wenn ich hier wohnen würde. Wie in so vielen Brandenburger Dörfern ist es auch hier: Ein Imbiss, eine Kneipe, ein Lebensmittelladen. Kein Metzger, kein Bäcker mehr. Letztere gehören offensichtlich einer aussterbenden Spezies an, die in unserer Konsumgesellschaft mit Massenartikeln keine Überlebensfähigkeit besitzen. Parallel zur Durchgangsstraße liegt der gepflegte Pausiner Dorfanger mit der schlicht-schönen Kirche.

In Wansdorf gibt es einen kleinen Rastplatz unter alten Eichen. Hier war jahrelang Startplatz für Radtouren mit Freunden. Genau 20 Kilometer sind es von Zuhause bis hierher. Eine knappe Stunde Fahrzeit. Und immer wieder, seit über zehn Jahren, schaue ich in den Innenhof des ehemaligen Gutshauses, auch Wansdorfer Schloss genannt. Der heutige Besitzer kaufte die Liegenschaft im Jahre 2009 der Stadt Berlin ab, die die Bausubstanz über viele Jahre einfach vor sich hin gammeln ließ. Jetzt geht es langsam, aber stetig voran mit den Schritten der Restauration. Ursprünglich hatte sich ein wohlhabender Industrieller aus dem Spreewald die Villa 1906 errichten lassen, um hier einmal mit seiner Familie zu wohnen. Vor dem Umzug starb er. dann wurde an die Stadt Spandau verkauft, und eine wechselvolle Geschichte begann: Lungenheilstätte für Kinder, Genesungsheim, Melkerschule, Lehrerbildungsinstitut, und nach der Wende kam der Verfall. Heute wirkt das Ensemble wieder ansehnlich.

Durch den Wald führt der Radweg vorbei am Fernsehturm von Perwenitz, dem mit 135 Metern höchsten Gebäude im Ländchen Glien. Als Relaisstation für Mobilfunk hat der im Jahr 1956 errichtete Betonriese nach der Zeit für Fernsehübertragungen eine zeitgemäße Bestimmung gefunden. Perwenitz profitiert von der vorbeiführenden A10. Seit 2019 hat sich der Bahnbauer Stadler mit einem neuen Werk niedergelassen. Perwenitz hat mehr Arbeitsplätze als Einwohner.
Am Industriegelände vorbei führt die alte Nauener Chaussee, die zwar nicht als Radweg ausgezeichnet ist und zudem als Sackgasse gekennzeichnet ist. Das hält mich nicht davon ab, diesen Weg nach Süden, hinein in „den Brieselang“, zu fahren. Ich will einen zweiten Anlauf unternehmen, die von Fontane in seinen „Wanderungen“ erwähnte Königseiche endlich zu finden. In diesem Wald, auf der Grenze von Bütenheide und Brieselanger Forst, soll sie gestanden haben. Als Fontane sie besuchte, war sie schon abgestorben, aber eben noch sehr stattlich in der 40 Meter hohen Erscheinung. „Es gibt Holunderbäume in Pfarrgärten, die in fünfzig Jahren mehr gesehen haben als die große Eiche in fünfhundert. Nur die letzten Jahrzehnte schufen einen Wandel: Landpartien und Berliner kamen.“ So schreibt Fontane über die Eiche, die er im Mai 1870 besuchte und den Brieselang. Ich bleibe mit meinem Granfondo auf der Alten Nauener Chaussee, die bald zu einem vermatschten Waldweg wird. Nach zwei Kilometern entdecke ich an einer Weggabelung eine in die Jahre gekommene Infotafel.




… Schon wieder stehe ich nicht am richtigen Ort: Der zerbrochene, verrottende riesige Eichenstamm soll von der „Alten Eiche“, nicht aber von der Königseiche stammen. Diese soll ein paar hundert Meter weiter östlich gestanden haben. Also mache ich ein paar Fotos und rolle suchend weiter. Ohne Ergebnis. „Wer den Brieselang kennenlernen will, der muss auch, rüstigen Fußes, die beiden andern Staffeln zu erreichen wissen: die Försterei und die Eiche. Nur erst wer bei der „Königseiche“ steht, der hat den Brieselang hinter sich und kann mitsprechen“, schreibt Fontane. Teilziel erreicht, konstatiere ich.
Dörfer, Denkmale, Besonderheiten und Wunderliches
In Alt Brieslang, wo die Försterei gestanden hat, führt eine Brücke über den Havelkanal. Hier sollen sich also „in sommerlicher Lust“ hunderte von Ausflüglern aus Berlin verlustiert haben in alter Zeit. Die Zeit ist vorbei. Der Brieselang hat schon lange wieder seine Ruhe. Nach Westen hin unterquere ich die A10 und setze wieder Kurs nach Norden. Ein riesiger Schriftzug „Amazon“ prangt an einer genauso riesigen Lagerhalle. Das sind die neuen Wahrzeichen der Region. Bei Paaren passiere ich das MAFZ-Freizeitzentrum ( Märkisches Ausflugs- und Freizeitzentrum) Erlebnispark, Mini-Zoo, Braumanufaktur, Kinder- und Erwachsenenbelustigung. Durch den Krämer Forst rolle ich weiter nach Nordwesten. Der nächste Ort heißt Grünefeld.

Direkt an der Straße steht ein Wohnhaus aus dem Jahr 1909, eine Art von nachempfundenem Vorlaubenhaus. Seltsam unpassend hier. Der 400-Seelen-Ort wirkt wie im Winterschlaf. Im Sommer trafen sich am Waldsee über 8000 Menschen zum „Nation of Gondwana-Festival“ Alternatives Musikfestival. Und im Juli soll es wieder soweit sein. Tausende werden ins Havelland pilgern, um in Grünefeld zu lachen, zu trinken, zu tanzen.
Nach Grünefeld kommt Börnicke. Das neue Wahrzeichen des Ortes heißt nicht Amazon, sondern DHL. In einer riesigen Halle werden täglich über 500.000 Pakete sortiert und versendet. Bald soll eine neue 220 Meter lange Halle entstehen. Noch mehr Pakete, noch mehr LKW, noch mehr Arbeitsplätze. Mehr als Bürger in Börnicke. Nicht alle sind begeistert. In Börnicke fahre ich einen Bogen über den Dorfanger und an der Kirche vorbei. Dann entdecke ich eine alte Bahntrasse, die nach Norden führt. Parallel verläuft ein Fahrweg, hin zum ehemaligen Bahnhof Börnicke.

Hierher verlief von 1914 bis 1967 ein Teil der Nebenbahn Oranienburg-Nauen-Jüterbog. Eine Bahnlinie mit nur kurzer Lebenszeit, nur kurzer Zeit mit Betrieb und Bedeutung. Den Bahnhof hat, wie ich nachgelesen habe, ein junges Paar gekauft, renoviert und zum kleinen Zentrum für Veranstaltungen, Retreats, Coachings, gemacht. Sehr beachtenswert und mutig. Heute muss ich mich an einer Schranke vorbeizwängen, um mit leicht schlechtem Gewissen das „verbotene Privatgelände“ zu queren. Vorbei an einer alten Lok, die an alte Zeiten erinnert. Der bahndammbegleitende Pflasterweg mündet beim Denkmal für die Opfer des KZ Börnicke in die Tietzower Straße.

Eines der ersten „wilden KZ“ wurde hier schon 1933, kurz nach der Machtergreifung Hitlers auf dem Gelände einer Zementfabrik betrieben und war bis zum Ende des Krieges Außenstelle des KZ Sachsenhausen. Das in die Jahre gekommene Denkmal erinnert an die Gräuel vergangener Zeit. Irgendwie trist und traurig und verloren wirkt der Ort auf mich heute. In Tietzow erreiche ich kurz danach wieder ein etwas freundlicher wirkendes Umfeld. Ich gönne mir eine ausgiebige Runde über und um den Dorfanger herum.







Einen großen Dorfanger mit alten Bäumen hat hier jedes Dorf. Mittendrin die Kirche und der Friedhof und die Feuerwehr. Sorgfältig mit Ziegeln gepflasterte Gehsteige kontrastieren mit Rumpelpflaster auf dem Fahrweg und den Häusern in sehr unterschiedlichem Erhaltungszustand. Schönes und Verfallenes und neu entstehendes in direkter Nachbarschaft. Mit einem großen Kinderspielplatz in der Mitte, direkt daneben eine Denkmalsäule für Karl Liebknecht. Grau, der Schriftzug verrostet. Die Sitzbank daneben neu. Kontraste!
Flatow, Staffelde, ORION, Kremmen, das sind die nächsten Stationen meiner Tour. Wobei Orion eine besondere Geschichte hat: Der Ortsteil von Kremmen trägt diese Bezeichnung erst seit dem Beginn des 2. Weltkriegs, nach der gleichnamigen Fabrik, in der Leuchtspur- und Signalmunition in großem Stil produziert und getestet wurden. Mit zwangsweiser Unterstützung von aus den Ostgebieten und der Ukraine herangeschafften Arbeitskräften, die unter grausamen Bedingungen hier geschuftet haben. Erstaunlicherweise finden sich in der Stadthistorie nur nach mühsamem Nachsuchen Informationen zur unrühmlichen Historie der Siedlung. Und auch in Orion selbst entdecke ich keinerlei Hinweis auf die Vergangenheit. Die Vertriebszentren von LIDL, GEL und Fiege dominieren die Flächen.

Mit den unbeantworteten Fragen zu Orion im Kopf erreiche ich das Kremmener Scheunenviertel, das sich auch an diesem grauen Februartag erstaunlich belebt zeigt. Hier residieren das Theater „Tiefste Provinz“, ein Café, ein Museum, kleine Läden, ein Restaurant, ein Friseur gar. Erstaunlich! Kremmen at its best.




Das Städtchen verlasse ich auf dem gekennzeichneten Radweg, der erst kein Radweg, sondern ein Wiesenweg ist, dann aber zum gut befahrbaren Waldweg durch den Kremmener Forst wird. Vor dem Waldgebiet wartet der mit weißen Folien bedeckte Spargel auf Sonne und steigende Temperaturen. Der Kremmener Spargel hat Tradition, und die Anbaufläche wird mächtig erweitert. Wer soll den ganzen Spargel noch vertilgen. Am Ende der Plastikfelder ragt eine mächtige Eiche am Waldrand auf. Eine beeindruckende Baumskulptur. Sie zieht mich förmlich in ihren Bann. Das Granfondo lehnt sich behaglich an die krakenarm ähnlichen Wurzeln. Ich nehme einige Schlucke aus meiner Trinkflasche und lasse die Eindrücke wirken.






Der Baum trägt den Namen „Träneneiche“, kann ich bei Google nachlesen. Für mich erzeugt er Wohlbefinden und Frische, also eher Freudentränen. Zehn Minuten später tauche ich ein in den Kremmener Forst, in dem der Sturm der letzten Tage sichtbare Spuren hinterlassen hat. Einige ziemlich wild aussehende Rinder rupfen Gras zwischen umgestürzten Bäumen. Ein paar Meter weiter bremst mich eine Baum-Stiefel-Schuhskulptur. Auf eine solche Idee muss man ersteinmal kommen. Kunst im Forst! Nächster Halt: Verlorenort. Ja, die Ansiedlung heißt tatsächlich so. Keiner weiß genau, woher der Name herrührt. Angeblich hat der Alte Fritz bei einer Kutschfahrt nach einem Achsbruch ausgerufen: „Hier sind wir an einem verloren Ort“.


Eine andere Geschichte berichtet über Holländer, die hier im 18. Jhd. verloren gegangen sein sollen… 10 bunte Häuser, sechs Familien. Wer Ruhe sucht, hier ist sie zu finden.


Immer geradeaus, auf mittlerweile glatt geteertem Weg, rolle ich gen Sommerfeld, dann hinüber nach Germendorf mit seinem illustren Tierpark. Der große Dinosaurier und der gewaltige Elch am Eingang geben ein prächtiges Fotomotiv ab.


Das Granfondo mit Gran Dino. In Hohen-Neuendorf bremse ich noch einmal am Skulpturen-Boulevard für das frisch entstandene „Poetische Weltbild“ der Künstlerin Zaine Brockmeyer-Barbosa . Das bringt Farbe in den grauen Tag und ist ein perfekter Abschluss der heutigen Tour.

Und als Epilog Fontanes Aufzählung der lachenden Dörfer im Havelland :
Und an dieses Teppichs blühendem Saum
All die lachenden Dörfer, ich zähle sie kaum:
Linow, Lindow,
Rhinow, Glindow,
Beetz und Gatow,
Dreetz und Flatow,
Bamme, Damme, Kriele, Krielow,
Petzow, Retzow, Ferch am Schwielow,
Zachow, Wachow und Groß-Behnitz,
Marquardt-Ütz an Wublitz-Schlänitz,
Senzke, Lenzke und Marzahne,
Lietzow, Tietzow und Rekahne,
Und zum Schluß in dem leuchtenden Kranz:
Ketzin, Ketzür und Vehlefanz.
Hallo Michael, Staffelde kenne ich recht genau – zig Male bin ich dort hingefahren vor über 10 Jahren, als meine Tochter dort im Gut Reitunterricht hatte. Und hier ein Beitrag, in dem auch Staffelde vorkommt. https://randonneurdidier.com/2021/12/22/die-alte-hamburger-poststrasse-sie-laesst-mich-nicht-los/ für den Hinweis zur Landfleischerei, denn obwohl ich fast Vegetarier bin, esse ich doch ab und an eine Bockwurst. Genieße Dein Rentnerdasein und schreib mal wieder was. Beste Grüße Dietmar
Hallo Dietmar,
Ich bin’s noch mal. Leider bist Du durch Staffelde durchgerast. Hier befindet sich ein ehemalige Rittergut mit geschichtlicher Bedeutung. Straßenseitig befindet sich eine Gedenktafel zum Chirurgen Theodor Billroth https://de.m.wikipedia.org/wiki/Theodor_Billroth
Nebenan, darauf muss ich auch hinweisen, weil aus mir mittlerweile immer mehr ein Kaffeefahrer wird, gibt es eine Landfleischerei, die von außen auch ziemlich erbärmlich aussieht, jedoch innere Werte besitzt, spätestens, wenn man Hunger hat. Fleisch und Wurst sind perfekt, alles sehr sauber, Gerichte werden zubereitet auf Wunsch, schnell und unkompliziert.
Früher habe ich diese Fleischerei nicht beachtet, weil es ziemlich gegenüber einen Dorfladen wie in Pausin gab. Die familiären Mitarbeiter haben gekämpft bis zum bitteren Ende.
LG Michael
hallo Michael, so ist das manchmal: außen nicht so toll, aber nette Menschen und vernünftiges Angebot. Und sicher werden die Menschen froh sein, überhaupt ein solches Angebot zu haben. Hoffentlich hält sich der Laden und endet nicht so, wie der am Rande von Wansdorf, der schließen musste. Bleib munter, beste Grüße Dietmar
Hallo Dietmar, kleiner Hinweis, weil es „meine“ Spielwiese ist: Die Streckenführung geht über Bötzow, Wansdorf, Pausin, Perwenitz. Der Konsum in Anführungsstrichen wird von Dir mit verranzt unter Wert verkauft. Ich denke, dass die einheimische Bevölkerung heilfroh darüber ist, diese Einkaufsmöglichkeit zu haben, die Mitarbeiter sind sehr nett, die Bockwurst dort ist sehr wohlschmeckend.Allerdings muss ich sagen, dass ich in letzter Zeit eher selten dort vorbeikomme, weil ich überwiegend durch den Oberkrämer dorthin (oder auch vorbei) fahre. Der Wald hat leider durch die Forstwirtschaft in den letzten Jahren gelitten, wie auch der Recycling Hauptweg, der Bestandteil der Alten Hamburger Poststraße war. Ich verweise auf meine Website in aller Bescheidenheit.
LG Michael
hallo Christian, genau das macht es aus: erst Fahren, erleben, fotografieren. Dann nacharbeiten, danach weiß ich viel mehr – und dann drüber schreiben. Das Erlebnis vervielfacht sich dadurch für mich. Und wenn dann noch solche Menschen wie Du Freude daran haben. Doppelt gut .
Lieber Dietmar, Deine Tourenerzählungen mit Historischem und Anekdoten zu lesen, ist immer wieder ein Vergnügen. Vielen Dank, dass Du uns mitnimmest und teilhaben haben lässt. Und für die Mühe der hervorragenden Aufbereitung.
Weiter gute Fahrt, Christian
Liebe Grüße zurück. Bleibt munter und gesund
Lieber Dietmar,
wie schön, dass ich durch dich auch in der nächsten Umgebung noch Unbekanntes entdecken kann.
Deine gut recherchierten Berichte machen immer große Freude.
Beste Grüße,
Dirk