So titelt die Beilage zur ZEIT im Juli 2022. „Vieles so nah“ , mit diesem Beitrag lockt mich Thomas Machoczek auf eine Reise durch die Metropole Ruhr. Als ich den Artikel lese, bekomme ich spontan Lust, sofort loszufahren in die Region, in der ich gelebt habe, studiert habe, eine wesentlichen Teil meines Lebens verbracht habe. Vor über 50 Jahren habe ich an der RUB – Ruhruni – Bochum studiert. Und seit 40 Jahren bin ich nicht mehr intensiv in dieser Region gewesen. Ein guter Grund, endlich nachzusehen, nachzuforschen, wie es dort heute aussieht, was sich getan hat, wie es dort aussieht jetzt.
Drei bis vier Tage lang will ich die alte Heimat erkunden. Altes und Neues sehen . Nach den ersten positiven Erfahrungen mit dem 9-Euro-Ticket bei einer Oder-Neiße-Elbe-Tour will ich testen, ob ich so günstig und gut auch gen Westen starten kann. Bis nach Hamm will ich per Bahn rollen und dann im ZickZack durch den Pott kurven. Berlin – Stendal – Wolfsburg – Hannover – Minden -Hamm. Bei meinem Start in Spandau am Dienstag ist der Regio nur mäßig besetzt. Es geht entspannt los. Drei junge Männer mit Rädern und Reisegepäck verkürzen mir mit intensiven Gesprächen über Ausrüstung und Material die Fahrt. Nach Amsterdam wollen die drei. Und gute Laune haben sie, gepaart mit Wissensdurst zum Langstreckenfahren. Als ich kund tue, welche Touren ich schon per Rad gemacht habe, löchern sie mich mit Fragen zu Ausrüstung und Knowhow. Wie schön für mich. Wie entspannend und kurzweilig. Die Zeit vergeht wie „im Zuge“. Allerdings verpasse ich in Minden den Anschlusszug . Also radle ich ein paar Kilometer bis Porta Westfalica und steige dort entspannt in den nächsten Regio ein. Der bringt mich dann zuverlässig bis Hamm. Nach über sieben Stunden netto auf der Schiene bin ich froh, endlich wieder frische Luft zu atmen.
Kurz vor Erreichen von Werne baut sich vor mir die erste „Kathedrale“ des Potts auf. Das RWE-Gersteinwerk, ein Kraftwerk, das für die Energiegewinnung aus Gas und Kohle konzipiert wurde. Heute sind nur noch zwei Gasblöcke von ursprünglich vier Einheiten mit über 750 MW Leistung als sogenannte Energiereserve bis 2024 am Netz. Als die Energiegewinnung aus Erdgas 1971 begonnen wurde, hatte ich mich gerade in der neuen Ruhruni eingeschrieben. „Long time ago“. Der Abgaskamin hat mit 282 Metern Höhe nahezu Eiffelturm-Maße und bläst Wärme und Schadstoffe über eine typische Bodeninversion, die wie eine Sperrschicht für aufsteigende Luft wirkt, hinaus.

In Werne habe ich ein Zimmer im Hotel Kolpinghaus gebucht. Nur der Hintereingang ist geöffnet – und der macht nicht gerade eben einen schönen Eindruck. Allerdings werde ich freundlich von einer jungen Dame begrüßt, und mein Granfondo darf sicher im Raum der Kegelbahn übernachten. ich bekomme ein schlichtes, aber sehr sauberes Einzelzimmer. Die Dusche funktioniert, und eine halbe Stunde später lustwandele ich schon durch den „historischen Kern“ von Werne. Matjes mit Bratkartoffeln, dazu ein Bier aus dem Münsterland – ein Platz mit Blick auf den Markt und das Rathaus.




Herrlich. Milde Luft, gute Laune. Gegenüber werden die Stühle der Eisdiele gestapelt für die Nacht. Als der Besitzer den Laden abschließt, bin ich satt und zufrieden.
Der erste Kontakt mit dem Pott ist positiv. So kann es weitergehen. Am nächsten Morgen sitze ich um 7.30 Uhr im Frühstücksraum und labe mich am Filterkaffee, weichen Brötchen, Marmelade aus der Folienverpackung und Butterkäse. Genuss wäre der falsche Begriff für das Mahl. Aber die Freundlichkeit der jungen Dame, die sowohl am späten Abend wie auch in der Frühe den Laden am Laufen hält, gleicht die Defizite locker aus.
Das Städtchen Werne, nahe bei Hamm, liegt an der östlichen Grenze des Ballungsraumes Ruhrgebiet. Moers und Duisburg markieren die Westgrenze der Region. Dazwischen leben ca. 5 Mio Menschen. Die zentrale West-Ost-Achse wird durch die Großstädte Essen, Bochum und Dortmund gebildet. Hier wird Industriegeschichte auf vielfältige Weise sichtbar und erlebbar. Kohle und Stahl – 150 Jahre lang wurde das Ruhrgebiet vom Bergbau und Hüttenwesen geprägt.

Aufgrund des Kohlevorkommens entwickelte sich das Ruhrgebiet Anfang des 19. Jahrhunderts zum größten Ballungsgebiet Europas. Im Zuge der Industrialisierung erfuhren die damals noch kleinen Dörfer im Ruhrgebiet ein explosionsartiges Bevölkerungswachstum. Grund hierfür war das natürliche Steinkohlevorkommen in der Region, das für die Herstellung von Eisen, Stahl, Dampfmaschinen und Eisenbahnen verwendet wurde. In der Folge entwickelte sich eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Monostruktur, die ganz auf die Bedürfnisse der Montanindustrie abgestimmt war. Man beschränkte sich vollkommen auf die Kohleförderung und vor- und nachgelagerte Wirtschaftszweige. Die Namen Krupp, Thyssen, Haniel, Hoesch stehen für die bedeutendsten Unternehmen.
Aber halt, ich will mich nicht in geschichtlichen Betrachtungen verlieren. Ich will die Augen und die Sinne öffnen für den Ruhrpott von heute. Durch die Lippeauen führt der Radweg beschaulich durch Felder und Wiesen, vorbei an Reiterhöfen und Gemüsebauern. Wo ist denn die Industrie? Sie lässt nicht lange auf sich warten. Der alte Gasthof „Zum Lüner Brunnen“ und das Trianel Kohle- und Klärschlammkraftwerk stehen in einem interessanten Kontrast.


An der Südseite des Emscherverlaufs ragen die ersten Halden auf. Begrünt sind sie und nicht mehr schwarzgrau wie zu Bergbauzeiten.
Daneben landwirtschaftliche Idylle.


In Lünen staune ich über eine lange Allee mit alten Platanen aus den 30er Jahren. Platanen sind schnellwüchsig und im Alter von fast 100 Jahren voll ausgewachsen.
Die Natur hat sich hier wieder erholt und ist ergrünt. Die Lippe biegt nach Norden ab. Am Rande von Waltrop lockt mich ein schmaler Schotterweg hinauf auf die Halde Brockenscheidt. Oben steht eine Pyramide, der Spurwerkturm, den der Castrop-Rauxler Künstler Jan Bormann im Jahr 2000 hier aus 1000 Metern alter Spurlatten der ehemaligen Bergwerksbahn der Zeche Waltrop errichten ließ. Von hier oben reicht der Blick weit ins Land und nach Norden auf die restaurierten Gebäude der ehemaligen Zeche.


Als ich hinunterrolle, entdecke ich auf einem kubusförmigen Gebäude den Schriftzug „Hase-Bikes“. Das sagt mir was. Hase ist seit vielen Jahren innovativer Entwickler und Produzent von besonderen Fahrrädern. Ich kenne die Dreiräder und auch das Pino-Tandem. Vor der Fertigungshalle komme ich mit einem Mitarbeiter ins Gespräch, der gerade eine Pause macht. Der Laden läuft, die Auftragsbücher sind voll, und ein noch ordentlich gefülltes Lager mit Bauteilen sorgt dafür, dass auch in diesen Zeiten viele feine Räder gebaut werden können.




Als ich hinübergehe zur alten Schaltwerkshalle, staune ich über die riesige, hochinteressante Ausstellung des zukünftigen Flagshipstores. Nach fachmännischer Begutachtung meines Titan-Granfondo bekomme ich sofort eine Einladung zur Eröffnungsfeier in die Hand gedrückt.

Chapeau! Marec Hase steht für Innovation, für Mut und Tatkraft. 1989 gewann er mit einem Tandem Dreirad den Wettbewerb „Jugend forscht“ 1994 begann er in einer Bochumer Garage, Spezialbikes zu bauen. 2001 zog er um in die ehemalige Zeche Waltrop. Heute arbeiten engagiert 100 Menschen für Hase. Eine echte Erfolgsgeschichte.
Wenige Kilometer weiter erreiche ich das Schiffshebewerk Henrichenburg. Hier sind im Umkreis von 100 Metern das Historische Hebewerk von 1899, der neue , 1962 erbaute Nachfolger und die aktuelle Schleusenanlage für die heutigen Tanker und Schubverbände zu besichtigen. Das Durchkurven der Bauten und Becken ist recht verwirrend. Zumal vom vielfach gerühmten Hebewerk aus Kaiser Wilhelms Zeiten vom Radweg aus gar nicht viel zu sehen ist.





Erst will ich mir das Industriemuseum anschauen, ich habe aber Bedenken, mein Rad samt Gepäck unbewacht draußen stehen zu lassen. So bin ich hier Kulturbanause und fahre einfach weiter. Über dem kleinen Schild „Kulturkanal“ prangt weiß auf rot „Demut“ – ich übe mich darin.
Dann tauche ich ein in die feuchten Wälder des Castroper Holzes und stehe unvermittelt vor dem Torhaus vom Wasserschloss Bladenhorst. Seit dem 14. Jahrhundert wohnten hier Ritter, Freiherren und Grafen. Heute können Wohlhabende Eigentumswohnungen erwerben. Als ich auf die Rückseite der Anlage rolle, sehe ich eine Frau mit einem Sammelkorb an einer mächtigen Brombeerhecke, die am Schlossgraben wächst. Die reifen Beeren schmecken wunderbar feinsäuerlich. Ich muss mich bremsen, dass ich nicht zu viel von den herrlichen Früchten esse.


Nächster Halt: Herne – Siedlung Teutoburgia. Über diese Arbeitersiedlung hatte ich schon bei der Vorbereitung meiner Tour nachgelesen. In den Jahren 1909 bis 1923 entstand die größte Arbeitersiedlung des Ruhrgebietes für 1400 Arbeiter der Zeche Teutoburgia. !36 Häuser, 20 verschiedene Hausformen. Nach dem Vorbild einer englischen Gartenstadt. Für damalige Zeiten Luxus. Auch heute noch interessant, durch schmale Wege und kleine Plätze zu kurven.

Und hier sichte ich auch eine der so typischen „Trinkhallen“ des Potts.

Diese komfortable Location ist sogar mit einer Dachterrasse ausgestattet. Erinnerungen an meine Zeit hier vor fast 50 Jahren kommen wieder hoch. Die Luft ist sauberer, kein Kohlenstaub liegt mehr auf den Fensterbrettern. Und es gibt glatt asphaltierte Radwege. Radfahren war damals etwas für Proleten und Minderbemittelte, die sich weder Auto noch Moped leisten konnten. Die Radwegweiser führen mich auf die Nordseite des Rhein-Herne-Kanals ( merke: Kulturkanal). Feiner Split löst Glattasphalt ab, ist aber gut befahrbar.

Wanne-Eickel – ZWODREI NAZIFREI – Gut so! Ein paar Meter weiter kurve ich auf den riesigen Platz, wo der Aufbau der Cranger Kirmes voll im Gange ist.


50 Fahrgeschäfte, vier Millionen Besucher in 10 Tagen! Vielleicht die größte Kirmes weltweit! Ein gigantisches Corona-Spreading-Event. Schaun mer mal. Noch ein paar Kilometer am Kanal entlang rollen, dann heißt es, abbiegen zur Veltins-Arena, der Spielstätte von Schalke 04. Das ist schließlich mein Kernziel für den heutigen Tag. Die beste aller Ehefrauen ist seit 50 Jahren unverbrüchlicher Schalke-Fan und war lange Clubmitglied. Aus ihrer ersten Wohnung konnten wir ins alte Parkstadion hinüber blicken. Logisch, dass ich nachschauen muss, wie das Ganze heute aussieht.

Erst noch über eine schwungvoll geführte Radwegbrücke, dann kommt das markante Dach der Veltins-Arena ins Blickfeld. Leicht überrascht erblicke ich viele Menschen, die so gar nicht wie Fußballfans aussehen. Sie strömen heran, sie warten, sie kaufen Fan-Artikel. Was ich nicht wusste: am Abend spielen die Stones in der Arena. Ausnahmezustand!






Lange kurve ich kreuz und quer über das riesige Gelände. Im Bereich des alten Parkstadions befinden sich die Trainingsplätze. Ein Tribüne ist noch erhalten. Nostalgie!



Im Schalke-Fanshop erstehe ich noch zwei Trikots für die Enkel. danach rolle ich die Schalke-Meile entlang. Das Vereinslokal steht genau am Eingang der Glückauf-Kampfbahn. Spätestens hier habe ich genügend Schalke-Luft aufgesogen, habe gesehen, welchen Stellenwert dieser Verein im Pott hat.
Nächstes Ziel: Holgers Erzbahnbude. der bekannteste Radler-Futter-Trink-Treff im Revier.






Beim Versuch, die Erzbahntrasse auf dem direkten Weg zu erreichen, strande ich erst einmal in einem Halden-Wildwuchsgebiet ohne Ausgang. Nach einem großen Südbogen entere ich schließlich den ehemaligen Erzbahnweg, und kurz darauf stehe ich vor einem Zweimannbunker aus der Weltkriegszeit, bemalt mit dem Schriftzug „Erzbahnbude“. Hier trifft man sich, hier ist eine lockere Stimmung. Reiseradler, Rennradler, Ausflügler. Alle sind gut versorgt und haben gute Laune. Ich komme mit einer Dreiergruppe von älteren Herren meines Alters ins muntere Gespräch. Kurz darauf kommt Holger aus seiner Bude und begutachtet mein Titan-Granfondo. Wir fachsimpeln, ich genieße ein Fiege-Pils, gönne mir eine Bockwurst und werde schlussendlich von Holger und seinem Kompagnon gebeten, doch einmal hinter der Theke zu posieren. Das tue ich sehr gern.
Die Erzbahnbude: Bester Imbiß- und Kommunikationspunkt für alle Radverrückten. TOP!
Nächstes Ziel des Tages: Die Zeche Zollverein. Es wäre unverzeihlich, dieses Monument nicht zu besuchen. Einige Radwegkurven sind noch zu kurven, aber dann stehe ich auf dem Gelände der Zeche. Riesig, geradezu erhaben, beeindruckend. Allein, es ist spät geworden heute. 17.30 Uhr. Lange kann ich mich nicht mehr vergnügen hier.






Um diese Zeit habe ich das gesamte Gelände für mich allein. Auch ein besonderer Reiz. Gegen 18 Uhr schaue ich mal auf Booking.com, wo ich am schönsten nächtigen kann in der Nähe. Eine Fehlanzeige reiht sich an die nächste. Warum gibt es hier denn keine Zimmer mehr? Dann geht mir ein Licht auf: das Rolling Stones Konzert! Uff. Selbst die mäßigen Herbergen haben die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und die Preise saftig erhöht. Erst in Bochum-Wattenscheid, 15 Kilometer in Bögen weit entfernt, finde ich das mäßig bewertete City-Max-Hotel. Ich schlage für 103 € für die Übernachtung zu. Wucher. Normalerweise kostet das hier die Hälfte. Was soll’s, ich habe ein Bett für die Nacht. Der junge Mann an der Rezeption ist nett, mein Granfondo darf im Durchgang zur Küche parken. Dafür darf ich mit Gepäck in den dritten Stock steigen. Der Aufzug ist defekt. Auch im Zimmer ist so Einiges renovierungsbedürftig. Das Duschwasser strömt warm, in den dunklen Gassen finde ich noch eine Dönerbude, wofür mich der letzte Fetzen Rindfleisch vom Spieß geschnitten wird. Dann der krönende und unverhoffte Abschluss des Tages: In der kleinen Zunftstube neben dem Hotel tummeln sich Skat-, Trink- und Fußballfans. Und ich bekomme noch ein kühles Bier und erlebe unter dem Jubel der angesäuselten Altherrengruppe den Einzug der deutschen Frauen ins Finale. Wenn das kein versöhnlicher Ausklang ist. Ruhrpott eben!
Ende Teil 1, bald geht es weiter mit der nächsten Etappe.
Tolle Bilder, Du hast den Blick für Spezielles. Komm noch gut nach Hause.
Hallo Dietmar,
sehr schön. Ein Reisebericht aus „meinem“ Revier. Viele der beschriebenen Stellen kenn ich gut. Interessant, diese mal aus anderer Perspektive vorgestellt zu bekommen. Im alten Parkstadion von Schalke 04 habe ich seinerzeit ein Konzert von David Bowie auf seiner Let’s Dance Tour erlebt. Das müsste etwa Mitte der 80er gewesen sein.
Und natürlich kenne ich auch die Erzbahnbude!
Meine leider nicht-radfahrende Frau versuche ich schon eine ganze Weile zur nicht geringen Investition in ein Hase-Pino zu überreden, damit wir auch mal gemeinsam etwas Strecke unter die Räder nehmen können.
Ich bin schon gespannt auf den nächsten Teil. Du kommst ja immer näher…
Viele Grüße aus Duisburg,
Markus
Wie immer faszinierend zu lesen.
Tolle Beschreibungen, super Bilder.